ZWEIUNDFÜNFZIGSTES KAPITEL
Nichts kann mich überraschen

Etwas unterhalb meines Verstandes ließ mich nicht schlafen. Ich wälzte mich hin und her, schreckte auf, erwachte, schlief wieder ein, und schließlich kam es während der grauen Stunden vor Tagesanbruch an die Oberfläche. Ich stand auf und durchwühlte die Papiere. Ich fand das Blatt, das die Lady einst den Atem hatte anhalten lassen, ging die unendliche Gästeliste durch bis ich auf einen Lord Senjak und seine Töchter Ardath, Credence und Sylith stieß. Der Verfasser merkte an, daß die jüngste Tochter, eine gewisse Dorotea, nicht an der Festlichkeit teilnehmen konnte.
»Ha!« krähte ich. »Das Feld wird kleiner.« Weitere Informationen gab es nicht, aber die hier war schon ein Triumph. Wenn man davon ausging, daß die Lady tatsächlich ein Zwilling und daß Dorotea die jüngste war und Ardath tot, standen die Chancen nun fünfzig zu fünfzig. Eine Frau namens Sylith oder eine Frau namens Credence. Credence, wie Glaubwürdigkeit? So las es sich jedenfalls. Ich war so aufgeregt, daß ich nicht mehr schlafen konnte. Ich dachte nicht einmal mehr an den verdammten Kometen und seinen verpatzten Fahrplan. Aber zwischen den Mühlsteinen der Zeit wurde die Aufregung zunichte. Von den Unterworfenen, die Bomanz’ Frau und seinen Papieren nachspürten, kam weiter nichts. Ich machte den Vorschlag, daß die Lady sich direkt zur Quelle begeben sollte. Zu diesem Risiko war sie nicht bereit. Noch nicht. Vier Tage nachdem ich Schwester Dorotea abgehakt hatte, fand unser alter dämlicher Freund Tracker ein weiteres Juwel. Der lange Lulatsch hatte Tag und Nacht Genealogien durchgelesen.
Schweiger kam mit einer Miene aus dem Blauen Schniedel zurück, aus der ich ersehen konnte, daß sich etwas Gutes ergeben hatte. Er zerrte mich hinaus zur Stadt und in das Nullfeld. Dort reichte er mir einen feuchten Zettel. In Trackers simplem Stil war darauf zu lesen:
Drei der Schwestern waren verheitratet. Ardath heiratete zweimal; ihr erster Mann war ein
Baron Kaden von Pfeilstein, der im Kampf fiel. Sechs Jahre danach ehelichte sie Erin
VaterLos, einen landlosen Priester des Gottes Vancer aus einer Stadt namens Schleudern im
Königreich Vye. Credence heiratete Barthelme von Springen, einen bekannten Zauberer.
Mein Gedächtnis sagt mir, daß Barthelme von Springen zu einem Unterworfenen gemacht
wurde, aber mein Gedächtnis ist nicht zuverlässig.
Damit hatte er allerdings recht.
Dorotea heiratete Raft, den Kronprinzen von Start. Sylith war nie verheiratet.
Dann bewies Tracker, daß er trotz seiner Langsamkeit gelegentlich doch noch einen Einfall

aus seinem Matschhirn zu Tage fördern konnte.
Aus den Totenrollen wird offenbar, daß Ardath und ihr Gatte Erin VaterLos, ein landloser
Priester des Gottes Vancer aus einer Stadt namens Schleudern im Königreich Vye, auf der
Reise von Lathe nach Ova von Banditen erschlagen wurden. Mein unzuverlässiges
Gedächtnis sagt mir, daß dies nur wenige Monate geschah, bevor der Dominator sich zum
Herrscher ausrief.
Sylith starb einige Jahre zuvor im Hochwasser des Traumflusses; zahlreiche Zeugen sahen,
wie sie von den Fluten fortgerissen wurde. Ihre Leiche wurde nie gefunden.
Wir hatten einen Augenzeugen. Irgendwie hatte ich Tracker nie als möglichen Zeugen gesehen, obgleich ich das eigentlich hätte schlußfolgern können. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, uns seine Erinnerungen zugänglich zu machen. Credence starb während der Gefechte, als der Dominator und die Lady Springen während
ihrer frühen Eroberungen einnahmen. Über Doroteas Tod gibt es keine Aufzeichnungen.
»Verdammt«, sagte ich. »Der alte Tracker ist also doch noch zu etwas nutze.« Schweiger signalisierte: »Es klingt durcheinander, aber man sollte etwas herausholen können, wenn man logisch vorgeht.«
Mehr als nur etwas.
Ohne daß ich die Tabellen gezeichnet hätte, in denen all diese Frauen verbunden wurden, fühlte ich mich dennoch zuversichtlich genug, um zu verkünden: »Wir haben Dorotea als Seelenfänger gekannt. Wir wissen, daß Ardath nicht die Lady war. Wahrscheinlich ist die Schwester, die den tödlichen Hinterhalt inszenierte, bei dem sie getötet wurde…« Etwas fehlte noch. Wenn ich nur wüßte, welche nun die Zwillinge waren… Als Antwort auf meine Frage signalisierte Schweiger: »Tracker sucht nach Geburtsverzeichnissen.« Aber da würde er wohl nichts finden. Lord Senjak war kein TelleKurre.
»Von den für tot erklärten Schwestern ist eine nicht gestorben. Ich würde auf Sylith wetten. Wenn man davon ausgeht, daß Credence getötet wurde, weil sie eine Schwester wiedererkannt hat, die eigentlich tot sein sollte, als der Dominator und die Lady Springen einnahmen.«
»Bomanz erwähnt eine Legende, nach der die Lady ihre Zwillingsschwester getötet hat. Ist das dieser Hinterhalt? Oder etwas, das sich öffentlich zugetragen hat?« »Wer weiß?« sagte ich. Mittlerweile wurde es richtig verwirrend. Einen Moment lang fragte ich mich, ob es überhaupt noch wichtig war. Die Lady berief eine Versammlung ein. Unsere ursprüngliche Schätzung der noch zur Verfügung stehenden Zeit erschien nunmehr übermäßig optimistisch. Sie sagte zu uns: »Offenbar sind wir in die Irre geführt worden. In Fängers Dokumenten gibt es nichts, was uns den Namen meines Gatten verraten würde. Wie sie zu dieser Annahme kam, können wir nicht mehr ergründen. Falls Dokumente fehlen, können wir uns nicht sicher sein. Wenn nicht bald neue Informationen aus Lords oder Oar eintreffen, können wir diesen Ermittlungsweg vergessen. Es ist an der Zeit, über Alternativen nachzudenken.«

Ich kritzelte eine Notiz und bat Wisper, sie an die Lady weiterzureichen.
Die Lady las sie aufmerksam und sah mich dann aus schmalen, nachdenklichen Augen an. »Erin VaterLos«, las sie laut. »Ein landloser Priester des Gottes Vancer aus einer Stadt namens Schleudern im Königreich Vye. Das kommt von unserem Amateurhistoriker. Was du gefunden hast, ist weniger interessant als die Tatsache, daß du es gefunden hast, Croaker. Diese Neuigkeit ist fünfhundert Jahre alt. Und war schon damals wertlos. Wer auch immer Erin VaterLos gewesen war, bevor er Vye verließ, er hat jedenfalls sämtliche Spuren gründlich ausgelöscht. Als er schließlich interessant genug wurde, daß man sich für seine Vorgeschichte interessierte, hatte er nicht nur Schleudern vernichtet, sondern auch sämtliche Personen, die zu seinen Lebzeiten dort gewohnt hatten. In den Jahren danach ging er sogar noch weiter und verwüstete ganz Vye. Deshalb war die Vorstellung, daß diese Papiere seinen wahren Namen enthalten sollten, auch so überraschend.«
Ich fühlte mich etwa halb so groß wie vorher und kam mir ziemlich dämlich vor. Ich hätte wissen müssen, daß sie schon zuvor versucht hatten, dem Dominator die Maske abzureißen. Ich hatte einen kleinen Vorteil für nichts und wieder nichts aufgegeben. Soviel zum Thema Zusammenarbeit.
Einer der neuen Unterworfenen - ich kann sie nicht auseinanderhalten, denn sie kleiden sich alle gleich - traf kurz darauf ein. Er oder sie überreichte der Lady eine kleine Kiste. Als sie sie öffnete, lächelte die Lady. »Es gibt keine Dokumente, die die Zeit überdauert hätten. Aber es gab das hier.« Sie schüttete ein paar sonderbare Armbänder auf den Tisch. »Morgen holen wir uns Bomanz.«
Alle anderen wußten Bescheid. Also mußte ich fragen. »Was ist das?«
»Die Amulette, die zur Zeit der Weißen Rose für die Ewige Garde angefertigt wurden. Damit sie ungefährdet das Gräberland betreten konnten.« Der folgende Aufruhr ging über mein Verständnis. »Seine Frau muß sie mitgenommen haben. Wie sie sie allerdings in die Finger bekommen hat, bleibt ein Rätsel. Schluß jetzt. Ich brauche Zeit zum Nachdenken.« Sie scheuchte uns hinaus wie eine Bäuerin ihre Hühnerschar. Ich ging wieder in mein Zimmer. Hinter mir schwebte der Hinker herein. Er sagte kaum ein Wort, sondern vergrub sich wieder in den Dokumenten. Verdutzt spähte ich ihm über die Schulter. Er hatte Listen aller von uns ausgegrabenen Namen vor sich, die in ihren ursprünglichen Alphabeten aufgelistet waren. Er schien sowohl mit Ersatzchiffrierungen als auch mit
numerologischen Deutungen herumzubasteln. Einigermaßen verwirrt, zog ich mich in mein Bett zurück, drehte ihm den Rücken zu und tat, als schliefe ich. Ich wußte, solange er hier war, würde
ich keinen Schlaf finden.