VIERUNDVIERZIGSTES KAPITEL
Die Belebung

Träume. Endlose schreckliche Träume. Wenn ich überhaupt so lange lebe, wenn ich das überlebe, was mir noch bevorsteht, werde ich sie irgendwann aufzeichnen, denn sie waren die Geschichte eines Gottes, der ein Baum war, und jenes Wesens, das seine Wurzeln fesseln… Nein. Wohl doch nicht. Ein Leben voller Schrecken und Mühen ist genug, um davon zu berichten. Und dieses eine geht noch weiter. Die Lady regte sich zuerst. Sie griff nach mir und zwickte mich. Der Schmerz machte meine Nerven wieder munter. Sie japste mit so leiser Stimme, daß ich sie kaum hören konnte: »Auf. Hilf mir. Wir müssen die Weiße Rose von hier fortbringen.« Das ergab keinen Sinn.
»Das Nullfeld.«
Ich bebte. Ich hielt es für die Reaktion auf die unbekannte Macht, die mich zu Boden gestreckt hatte.
»Das Wesen unter uns ist von dieser Welt. Der Baum nicht.« Ich bebte gar nicht. Es war der Boden. Leise und rasch. Und jetzt bemerkte ich ein Geräusch. Etwas weit Entferntes, tief in der Erde. Allmählich begriff ich.
Angst kann einen ganz schön antreiben. Ich kam torkelnd auf die Beine. Über uns trieb das Klimpern von Altvater
Baum mich zum Wahnsinn. In seinem Windspielgeläut lag Panik. Auch die Lady erhob sich. Wir taumelten zu Darling hinüber, wobei wir uns gegenseitig stützten. Jeder schlurfende Schritt verlieh meinem zäh dahinfließenden Blut weiteres Leben. Ich sah in Darlings Augen. Sie war bei Bewußtsein, aber noch gelähmt. Ihr Gesicht war eine starre Maske zwischen Angst und Unglauben. Wir zogen sie in die Höhe und legten je einen Arm um sie. Die Lady begann unsere Schritte zu zählen. Ich kann mich an keine Anstrengung erinnern, die so gewaltig gewesen wäre. Mir fällt keine Gelegenheit ein, bei der ich mich sosehr nur durch reine Willenskraft am Laufen hielt. Das Zittern des Bodens wuchs rasch zum Beben vorbeigaloppierender Reiter an, dann zum Brüllen eines Erdrutsches und dann zu einem ausgewachsenen Erdbeben. Um Vater Baum herum begann der Boden sich zu bewegen und aufzubäumen. Ein Strahl aus Feuer und Staub schoß in die Höhe. Der Baum kreischte klimpernd. Blaue Blitze spielten in seinem Laubhaar. Wir verdoppelten unsere Anstrengungen, über den Bach und weiter und daran entlang zu fliehen.
Hinter uns begann etwas zu schreien.

Bilder in meinem Verstand. Das, was sich dort erhob, erlitt Qualen. Vater Baum unterwarf
es sämtlichen Höllenfoltern. Aber es kam wild entschlossen immer höher herauf, um endlich freizukommen.
Ich sah nicht mehr zurück. Das Grauen, das ich fühlte, war zu stark. Ich wollte nicht wissen, wie ein Dominator der Vorzeit aussah.
Wir schafften es. Ihr Götter. Irgendwie brachten die Lady und ich Darling weit genug fort, damit Vater Baum wieder seine ganze außerweltliche Macht ausüben konnte. Das Kreischen wurde rasch lauter und wütender; ich fiel zu Boden und hielt mir die Ohren zu. Und dann hörte es auf.
Schließlich sagte die Lady: »Croaker, sieh nach, ob du den anderen helfen kannst. Es ist ungefährlich. Der Baum hat gewonnen.«
So schnell? Nach all diesen Gewalten?
Wieder auf die Beine zu kommen, es schien mir wie Schwerstarbeit. In Vater Baums Zweigen spielte immer noch ein blauer Schimmer. Man konnte seinen Zorn über zweihundert Meter spüren. Sein Gewicht nahm zu, als ich näher kam. In Anbetracht des Aufruhrs, der noch Augenblicke zuvor geherrscht hatte, schien der Boden am Fuße des Baumes kaum aufgewühlt zu sein. Irgendwie sah er nur wie frisch gepflügt und geeggt aus. Einige meiner Freunde waren halb begraben, aber keiner schien verletzt zu sein. Jeder rührte sich zumindest ansatzweise. Alle sahen aus wie vom Donner gerührt. Mit Ausnahme von Tracker. Der häßliche Kerl hatte seine falsche menschliche Gestalt nicht wieder zurückerlangt.
Er war rasch wieder auf den Beinen, half friedlich den anderen, klopfte ihnen freundlich und hilfreich den Staub von den Kleidern. Man wäre nicht auf die Idee gekommen, daß er noch vor kurzem unser Todfeind gewesen war. Unheimlich. Niemand brauchte meine Hilfe. Bis auf die Wanderbäume und die Menhire. Die Bäume waren umgefallen. Die Menhire… Viele davon lagen ebenfalls am Boden. Und konnten sich nicht wieder aufrichten.
Das ließ mich erschauern.
Ein weiterer Schauer durchzog mich, als ich zum Alten Baum kam. Etwas ragte aus dem Boden und tastete an der Rinde einer Wurzel. Es war eine menschliche Hand an einem langen, ledrigen, grünlichen Unterarm, deren Nägel zu Klauen gewachsen; jetzt waren sie gesplittert und hatten sich an Vater Baum blutig gerissen. Sie gehörte nicht zu einem aus dem Loch.
Jetzt zuckte sie schwach.
Über mir knisterten blaue Funken.
Etwas an dieser Hand ließ die alte Bestie in mir sich regen. Ich wollte kreischend davonlaufen. Oder nach einer Axt greifen und sie in Stücke hauen. Ich tat weder das eine

noch das andere, denn ich hatte das Gefühl, daß Vater Baum mich beobachtete und
einigermaßen sauer war. Vielleicht machte er mich persönlich für das Erwachen des Wesens verantwortlich, zu dem die Hand gehörte. »Ich gehe ja schon«, sagte ich. »Ich weiß, wie du dich fühlst. Ich habe mein eigenes Vorzeitungeheuer, das ich in Schach halten muß.« Ich zog mich zurück, wobei ich mich alle drei oder vier Schritte verbeugte.
»Was zur Hölle war das?«
Ich fuhr herum. Einauge starrte mich an. Er hatte diesen Croaker-hat-wieder-einen-seiner- Anfälle-Blick.
»Hab mich bloß mit dem Baum unterhalten.« Ich schaute mich um. Allmählich fanden alle ihr Gleichgewicht wieder. Einige der weniger mitgenommenen Männer begannen die umgestürzten Bäume wieder aufzurichten. Für die gefallenen, Menhire schien es allerdings keine Hoffnung zu geben. Sie waren in jenes Paradies eingegangen, das denkenden Steinen vorbehalten ist.
Später würden wir sie wieder aufgerichtet zwischen den anderen toten Menhiren in der Nähe des Bachüberganges wiederfinden.
Ich ging zu Darling und der Lady hinüber. Darling brauchte lange, um sich zu berappeln und war noch zu angeschlagen, um zu kommunizieren. Die Lady fragte: »Sind alle gesund?« »Bis auf den Burschen im Boden. Und der hätte es beinahe fertiggebracht, wieder gesund zu werden.« Ich beschrieb ihr die Hand.
Sie nickte. »Dieser Fehler wird wahrscheinlich so bald nicht wieder gemacht werden.« Schweiger und einige andere hatten sich um uns versammelt, also konnten wir nur wenig sagen, das nicht verdächtig geklungen hätte. Allerdings murmelte ich: »Und was jetzt?« Im Hintergrund hörte ich den Leutnant und Elmo nach Fackeln brüllen, damit wir etwas Licht hätten.
Sie zuckte die Achseln.
»Was ist mit den Unterworfenen?«
»Willst du sie verfolgen?«
»Nein, verdammt! Aber wir können sie auch nicht in unserem Revier frei herumlaufen lassen. Wer weiß, was…«
»Die Menhire werden sie überwachen. Nicht wahr?« »Das hängt davon ab, wie sauer der alte Baum auf uns ist. Vielleicht will er uns alle zur Hölle fahren lassen.«
»Vielleicht findet ihr das heraus.«
»Ich geh schon«, quiekte Goblin. Er brauchte einen Vorwand, um möglichst viel Abstand zwischen sich und den Baum zu legen.

»Bleib nicht die ganze Nacht weg«, sagte ich. »Warum helft ihr anderen nicht Elmo und
dem Leutnant?«
Das schaffte uns ein paar andere vom Hals, jedoch nicht Schweiger. Es gab keine Möglichkeit, Schweiger aus Darlings Nähe zu schaffen. Er hatte immer noch ein paar Vorbehalte.
Ich rieb Darling die Handgelenke und tat noch einige andere überflüssige Dinge. Eigentlich brauchte sie nur etwas Zeit, um sich zu erholen. Einige Minuten später murmelte ich: »Achtundsiebzig Tage.«
Darauf sagte die Lady: »Nicht mehr lange, dann ist es zu spät.« Ich hob eine Augenbraue.
»Ohne sie kann er nicht besiegt werden. Wir haben nicht mehr viel Zeit, bis selbst der schnellste Ritt sie nicht mehr rechtzeitig dorthin bringt.« Ich weiß nicht, was Schweiger diesem Wortwechsel entnehmen konnte. Allerdings weiß ich, daß die Lady den Kopf hob und ihm jenes schwache Lächeln widmete, das sie immer dann zeigt, wenn sie deine Gedanken kennt. »Wir brauchen den Baum.« Dann: »Wir haben unser Picknick noch nicht beendet.«
»Ha?«
Sie verschwand einige Minuten lang. Als sie zurückkam, hatte sie die Decke, die jetzt noch schmutziger war als vorher, und den Eimer bei sich. Sie ergriff meine Hand und zerrte mich ins Dunkel. »Paß du auf die Fallen auf«, sagte sie zu mir. Was zum Teufel wird hier eigentlich
gespielt?