DRITTES KAPITEL
Eine Mär aus alter Zeit

Croaker:
Die Frau war wieder am Zetern. Bomanz massierte sich die Schläfen. Das Pochen wurde dadurch nicht besser. Er hielt sich die Augen zu. »Saita, sayta, suta«, brummte er. Die Silben klangen zornig und unheilverkündend.
Er biß sich auf die Zunge. Man belegte die eigene Gattin nicht mit einem Zauberbann. Man erduldete stattdessen in stiller Würde die Konsequenzen jugendlichen Leichtsinns. Doch ach, welche Versuchung! Und welche Provokation! Genug, Narr! Studiere die verdammte Tabelle. Weder Jasmine noch die Kopfschmerzen gewährten ihm Ruhe. »Verdammt noch mal!« Er fegte die Gewichte von den Rändern der Tabelle, rollte die dünne Seide um einen gläsernen Stab, schob den Stab in den falschen Schaft eines antiken Speers. Der Schaft glänzte vor Abnutzung. »Besand hätte das innerhalb einer Minute entdeckt«, murrte er.
Er biß die Zähne zusammen, als sein Magengeschwür einen weiteren Bissen aus seinen Eingeweiden nahm. Je näher das Ende rückte, desto größer wurde die Gefahr. Er war mit den Nerven fertig. Er hatte Angst, daß er an der letzten Barriere den Mut verlieren, daß die Feigheit ihn verschlingen und er vergebens gelebt haben würde. Siebenunddreißig Jahre waren eine lange Zeit, um sie im Schatten der Henkersaxt zu verbringen.
»Jasmine«, brummte er. »Und nenn ein Schwein Schätzchen.« Er riß den Türvorhang beiseite und brüllte nach unten: »Was ist denn nun schon wieder?« Es war dasselbe wie immer. Gezeter, das mit der Ursache ihrer Unzufriedenheit nichts zu tun hatte. Eine Unterbrechung seiner Studien als Vergeltung dafür, daß er ihrer Meinung nach ihrer beider Leben verschwendet hatte.
Er hätte in Oar ein bedeutender Mann werden können. Er hätte ihr ein großes Haus geben können, das zum Platzen mit buckelnden Bediensteten angefüllt gewesen wäre. Er hätte sie in goldene Kleider hüllen können. Er hätte ihr zu jeder Mahlzeit reichhaltiges Fleisch auftischen können. Stattdessen hatte er sich für das Leben eines Gelehrten entschieden, seinen Namen und seine Berufung verschwiegen und sie in diese elende unheimliche Lichtung im Alten Wald geschleppt. Er hatte ihr nichts gegeben außer Armut, eisigen Wintern und den Erniedrigungen, die die Ewige Garde ihnen zuteil werden ließ. Bomanz stampfte die schmale, knarrende und nicht ganz stabile Treppe hinab. Er verfluchte die Frau, spuckte auf den Fußboden, drückte ihr Silberstücke in die verrunzelte Hand und jagte sie mit der flehentlichen Bitte aus dem Haus, daß es dieses eine Mal etwas Anständiges zum Abendbrot geben würde. Erniedrigung? dachte er bei sich. Ich werde dir schon was

erzählen von wegen Erniedrigung. Ich werde dir schon sagen, wie es ist, mit einem alten
Meckerweib zu leben, einer häßlichen alten Schachtel, die nichts hat als leere Träume aus ihrer Jugend…
»Laß es gut sein, Bomanz«, brummte er. »Sie ist die Mutter deines Sohnes. Alles, was recht ist. Sie hat dich nie betrogen.« Zumindest teilten sie die Hoffnung miteinander, die in der Seidenkarte lag. Für sie war es schwer, nur zu warten und nichts von seinen Fortschritten zu erfahren, und nur zu wissen, daß vier Jahrzehnte keinerlei greifbare Ergebnisse gezeitigt hatten.
Die Türglocke läutete. Bomanz schlüpfte in seine Krämerrolle. Er schlurfte als fetter kahlköpfiger kleiner Mann nach vorne, die blaugeäderten Hände vor der Brust gefaltet. »Tokar.« Er verneigte sich. »Ich hatte dich nicht so früh erwartet.« Tokar war ein Händler aus Oar, der mit Bomanz’ Sohn befreundet war. Er legte eine grobschlächtige, ehrliche, sorglose Art an den Tag, die Bomanz, wie er sich einredete, als die seinige aus früheren Tagen wiedererkannte. »Ich hatte auch gar nicht vorgehabt, so rasch wieder zurück zu sein, Bo. Aber Antiquitäten sind im Moment der Renner. Absolut unbegreiflich.« »Du möchtest eine weitere Lieferung? Jetzt schon? Du räumst mir noch das ganze Geschäft aus.« Ungesagt blieb die stumme Klage: Bomanz, das bedeutet, daß du aufstocken mußt. Zeit, die deiner Forschungsarbeit verloren geht. »Dieses Jahr ist die Unterdrückung der letzte Schrei. Nun vergiß mal den Kleinkram, Bo. Geh doch mal richtig in die Vollen, wie man so sagt. Nächstes Jahr ist der Markt vielleicht so tot wie die Unterworfenen.«
»Sie sind nicht… Vielleicht werde ich zu alt dafür, Tokar. An dem Gekabbel mit Besand habe ich keinen Spaß mehr. Verflucht. Vor zehn Jahren habe ich es noch darauf angelegt. Ein anständiger Streit war gut gegen die Langeweile. Mich macht auch die Buddelei fertig. Ich bin ausgebrannt. Ich will nur noch auf der Türschwelle sitzen und zusehen, wie das Leben an mir vorbeizieht.« Während er so dahinplapperte, holte Bomanz seine besten antiken Schwerter hervor, Rüstungsteile, Soldatenamulette und einen fast vollständig erhaltenen Schild. Einen Kasten mit Pfeilspitzen, der mit Rosen verziert war. Zwei breitklingige Wurfspieße, deren alte Spitzen an imitierten Schäften befestigt worden waren. »Ich kann dir ein paar Leute vorbeischicken. Zeig ihnen, wo sie graben sollen. Ich würde dir dafür eine Kommissionsgebühr zahlen. Du müßtest überhaupt nichts tun. Das ist eine wirklich feine Axt, Bo. Aus der TelleKurre-Zeit? Ich könnte ganze Wagenladungen von TelleKurre- Waffen loswerden.«
»Eigentlich UchiTelle.« Sein Magengeschwür begann ihn zu zwicken. »Nein. Ich brauche keine Hilfskräfte.« Das fehlte gerade noch. Eine Bande junger Hüpf er, die ihm auf der Pelle hockte, während er seine Geländeberechnungen anstellte. »War nur ein Vorschlag.«
»Schon recht. Nimm’s nicht persönlich. Jasmine hat mir heute im Nacken gesessen.« Leise fragte Tokar: »Hast du irgendwas gefunden, das mit den Unterworfenen zusammenhängt?«

Mit gespieltem Schrecken und jahrzehntelanger Übung wehrte Bomanz den Vorstoß ab.
»Den Unterworfenen? Sehe ich aus wie ein Narr? Selbst wenn ich es am Wachwart vorbeischaffen könnte, würde ich es nicht anrühren.« Tokar setzte ein verschwörerisches Lächeln auf.»Sicher. Wir wollen doch die Ewige Garde nicht verärgern. Trotzdem… gibt es einen Mann in Oar, der für alles, was einem der Unterworfenen zugeordnet werden könnte, sehr gut bezahlen würde. Er würde seine Seele für etwas verkaufen, das der Lady gehört hat. Er ist in sie verliebt.« »Dafür war sie wohlbekannt.« Bomanz wich dem Blick des jüngeren Mannes aus. Wieviel hatte Stance verraten? War dies hier eines von Besands Vorstößen? Je älter Bomanz wurde, desto weniger Spaß hatte er an diesem Spiel. Seine Nerven hielten dieses Doppelleben nicht mehr lange aus. Fast wollte er schon gestehen, nur um alles loszuwerden. Verdammt noch mal, nein! Er hatte viel zu viel investiert. Siebenunddreißig Jahre. In jeder freien Minute gegraben und gewühlt. Geschlichen und betrogen. In der elendesten Armut verbracht. Nein. Er würde nicht aufgeben. Nicht jetzt. Nicht, wenn er so nahe dran war. »Auf meine Art liebe ich sie auch«, räumte er ein. »Aber deshalb habe ich meinen Verstand nicht weggeworfen. Wenn ich etwas fände, würde ich nach Besand brüllen. Und zwar so laut, daß du es in Oar hören würdest.«
»Schon recht. Ganz wie du meinst.« Tokar grinste. »Genug der Spannung.« Er holte eine Ledertasche hervor. »Briefe von Stancil.« Bomanz riß die Tasche an sich. »Seit du das letzte Mal hier warst, habe ich nichts mehr von ihm gehört.«
»Kann ich die Sachen aufladen, Bo?«
»Sicher. Mach nur.« Ohne genau hinzusehen holte Bomanz seine aktuelle Bestandsliste aus einem Fach. »Streich ab, was du mitnimmst.« Tokar lachte gutmütig. »Diesmal alles, Bo. Nenn, mir einen Preis.« »Alles? Die Hälfte davon ist Müll.«
»Ich sagte dir doch, daß die Unterdrückung im Moment ein heißes Thema ist.« »Du hast Stance gesehen? Wie geht es ihm?« Den ersten Brief hatte er schon zur Hälfte durchgelesen. Sein Sohn hatte nichts Wesentliches zu berichten. Seine Briefe waren mit tagtäglichem Allerlei gefüllt. Pflichtbriefe. Briefe von einem Sohn an seine Eltern, die den zeitlosen Abgrund nicht zu überspannen vermochten. »Er ist bei abscheulich guter Gesundheit. Die Universität langweilt ihn. Lies nur weiter. Da kommt noch eine Überraschung auf dich zu.«

»Tokar war hier«, sagte Bomanz. Er grinste und hüpfte von einem Fuß auf den anderen. »Dieser Dieb?« Jasmine verzog das Gesicht. »Hast du daran gedacht, dich bezahlen zu

lassen?« Ihre fetten, erschlafften Züge waren zu einer Miene dauerhafter Mißbilligung
verzogen. Ihr Mund öffnete sich für gewöhnlich lediglich, um Worte von sich zu geben, die dieser Miene entsprachen.
»Er hat Briefe von Stance gebracht. Hier.« Er überreichte ihr das Paket. Er konnte sich nicht mehr zurückhalten. »Stance kommt nach Hause.« »Nach Hause? Das geht doch nicht. Er hat doch seinen Posten an der Universität.« »Er nimmt sich ein Urlaubssemester. Für den Sommer kommt er hierher.« »Warum?«
»Um uns zu sehen. Um im Laden auszuhelfen. Um sich freizumachen, damit er eine Dissertation zu Ende schreiben kann.«
Jasmine schnaufte verächtlich. Die Briefe las sie nicht. Sie hatte es ihrem Sohn nicht verziehen, daß er das Interesse seines Vaters an der Unterdrückung teilte. »In Wirklichkeit kommt er doch hierher, um dir beim Herumstochern an Orten zu helfen, an denen du nichts zu suchen hast, oder?«
Bomanz warf einen verstohlenen Blick zu den Ladenfenstern. Sein Dasein wurde von berechtigter Paranoia bestimmt. »Wir haben das Jahr des Kometen. Die Geister der Unterworfenen werden sich erheben, um das Dahingehen der Unterdrückung zu beklagen.« In diesem Sommer würde sich die zehnte Wiederkehr des Kometen ereignen, der sich in jener Stunde gezeigt hatte, als der Dominator fiel. Die Manifestationen der Zehn Unterworfenen würden diesmal stark sein. In dem Sommer, als Bomanz zum Alten Wald gekommen war, lange vor Stances Geburt, hatte er eine Wiederkehr des Kometen gesehen. Das Gräberland hatte von Geistern nur so gewimmelt.
Die Aufregung zog ihm die Bauchdecke zusammen. Jasmine würde das nicht verstehen können, aber dies war der Sommer. Das Ende der langen Suche. Ihm fehlte nur noch ein einziger Schlüssel. Wenn er ihn fand, konnte er die Verbindung herstellen, konnte anfangen, den Gewinn einzustreichen anstatt immer nur einzuzahlen. Jasmine grinste verbittert. »Wie bin ich bloß in diese Lage gekommen? Meine Mutter hat mich noch gewarnt.«
»Wir reden hier von Stancil, Weib. Unserem einzigen Kind.« »Ach, Bo, als ob ich so grausam wäre. Natürlich werde ich ihn willkommen heißen. Habe ich ihn nicht auch lieb?«
»Es würde nicht schaden, wenn du das auch einmal zeigst.« Bomanz musterte die Überreste seines Warenbestandes. »Nichts mehr übrig, nur noch der letzte Müll. Wenn ich an die Buddelei denke, die mir bevorsteht, tun mir die Knochen jetzt schon weh.« Seine Knochen schmerzten ihm vielleicht, aber sein Geist war rege. Die Aufstockung seiner Vorräte gab eine gute Entschuldigung ab, die Ränder des Gräberlandes zu durchstreifen.

»Na, dann fang doch gleich an.«
»Versuchst mich wohl aus dem Haus zu treiben?« »Würde mich jedenfalls nicht unglücklich machen.« Seufzend überflog Bomanz seinen Laden. Einige halbvermoderte Ausrüstungsgegenstände, zerbrochene Waffen, ein Schädel, den er nicht zuordnen konnte, weil ihm der dreieckige Einsatz fehlte, der die Offiziere der Unterdrückung gekennzeichnet hatte. Die Sammler waren nicht an den Knochen des Fußvolks oder an denen der Gefolgsleute der Weißen Rose interessiert.
Sonderbar, sinnierte er. Warum fasziniert uns das Böse nur so sehr? Die Weiße Rose war heldenhafter als der Dominator oder die Unterworfenen. Bis auf die Männer des Wachwarts haben alle sie vergessen. Aber jeder Bauer kann mindestens die Hälfte der Unterworfenen mit Namen nennen. Das Gräberland, wo das Böse unruhig harrt, wird bewacht, und das Grab der Weißen Rose ist verschollen.
»Das führt zu nichts«, brummte Bomanz. »Dann wollen wir mal. Hier. Hier. Spaten. Wünschelrute. Beutel. Vielleicht hatte Tokar recht. Vielleicht sollte ich mir einen Helfer zulegen. Bürsten. Der mir beim Tragen von dem Zeugs hilft. Peilgerät. Landkarten. Die darf ich nicht vergessen. Was noch? Belegbänder. Natürlich. Dieser elende Men fu.« Er stopfte Sachen in einen Sack und behängte sich mit seiner Ausrüstung. Er nahm den Spaten, die Harke und das Peilgerät auf. »Jasmine. Jasmine! Mach die verdammte Tür auf.« Sie spähte durch die Vorhänge vor ihrem Wohnbereich. »Hättest sie zuerst aufmachen sollen, Schwachkopf.« Sie stapfte durch den Laden. »Eines Tages, Bo, wirst du dich organisieren müssen. Wahrscheinlich am Tag nach meiner Beerdigung.« Er stolperte auf die Straße und nuschelte: »Ich werde mich am Tag deines Todes organisieren. Worauf du dich verdammt noch mal verlassen kannst. Ich will dich in der Erde sehen, bevor du es dir anders überlegst.«