FÜNFUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Das Gräberland

Corbie hatte sich verrechnet. Er hatte vergessen, daß außer Case auch noch andere an seinem Schicksal interessiert waren.
Als er zu einigen Arbeiten nicht erschien, begann man nach ihm zu suchen. Man klopfte an die Türen, pochte an die Fenster und erhielt keine Antwort. Jemand versuchte die Vordertür zu öffnen. Sie war verschlossen.
Einige meinten, daß man die Möglichkeit eines Einbruchs eher die Kommandokette hinaufreichen sollte, andere plädierten für sofortige Maßnahmen. Die zweite Meinung setzte sich durch. Das Schloß wurde aufgebrochen, und Männer schwärmten im Hausinneren aus. Sie fanden ein fast zwanghaft ordentliches und spärlich möbliertes Haus vor. Der erste Mann, der nach oben ging, rief: »Hier ist er. Vom Schlag getroffen oder so.« Die Meute drängte sich in dem kleinen Zimmer im Obergeschoß zusammen. Corbie saß an einem Tisch, auf dem ein in Wachstuch gewickeltes Paket und ein Buch lagen. »Ein Buch!« sagte einer. »Er war ja noch seltsamer, als wir gedacht haben.« Jemand berührte Corbies Hals, spürte einen schwachen Puls und bemerkte, daß Corbies flach atmete, in Abständen, die noch größer waren als bei einem Schlafenden. »Er hat wohl tatsächlich einen Schlaganfall gehabt. Als ob er hier gelesen hat und dabei erwischt worden ist.«
»Ein Onkel von mir ist so abgetreten«, sagte ein anderer. »Als ich noch klein war. Eben noch hat er uns eine Geschichte erzählt, im nächsten Augenblick wird er weiß im Gesicht und kippt um.«
»Noch lebt er. Wir sollten besser etwas tun. Vielleicht erholt er sich wieder.« Hals über Kopf stürzten die Männer die Treppe hinunter. Als die Gruppe ins Hauptquartier stürmte, erfuhr Case von der Sache. Er hatte gerade Dienst. Die Neuigkeit brachte ihn in eine Zwickmühle. Er hatte Corbie ein Versprechen gegeben… Aber er konnte sich nicht so einfach absetzen. Sweets persönliches Interesse an Corbie sorgte dafür, daß sich die Neuigkeit rasch bis in die höheren Ränge verbreitete. Der Oberst trat aus seinem Büro. Er bemerkte Cases erschütterte Miene. »Du weißt es also schon. Komm mit. Wir sehen uns das mal an. Ihr da. Holt den Barbier. Und den Tierarzt.«
Es ließ einen über den Wert der Menschen nachdenken, wenn die Armee einen Tierarzt stellte, aber keinen Feldscher.
Der Tag hatte mit verheißungsvoll klarem Himmel begonnen. Was selten vorkam. Inzwischen war er bedeckt. Vereinzelte Regentropfen sprenkelten die Holzplanken. Während Case Sweet folgte und ein Dutzend Männer ihnen hinterhertrabten, nahm er die Bemerkungen

des Obersts über notwendige Verbesserungen kaum zur Kenntnis.
Corbies Haus war von einer Menschenmenge umstellt. »Schlechte Nachrichten verbreiten sich rasch«, sagte Case. »Sir.«
»Nicht wahr? Macht mal Platz da, Leute. Den Weg frei.« Drinnen blieb er stehen. »War er immer so ordentlich?«
»Ja, Sir. Von Ordnung und davon, alle Dinge in der richtigen Reihenfolge zu erledigen, war er regelrecht besessen.«
»Da war ich mir nicht ganz sicher. Mit seinen nächtlichen Spaziergängen bewegte er sich etwas am Rande der Vorschriften.«
Case benagte seine Unterlippe und fragte sich, ob er dem Oberst Corbies Nachricht übermitteln sollte. Er kam zu dem Schluß, daß es noch nicht soweit war. »Oben?« fragte der Oberst einen der Männer, die Corbie gefunden hatten. »Jawohl, Sir.«
Case lief schon die Treppe hinauf. Er entdeckte Corbies Wachstuchpaket und wollte es sich, ohne nachzudenken, in seine Jacke schieben. »Junge.«
Case drehte sich um. Sweet stand in der Tür und runzelte die Stirn. »Was machst du da?«
Der Oberst war der einschüchterndste Mensch, den Case sich vorstellen konnte. Mehr noch als sein Vater, der ein strenger und fordernder Mann gewesen war. Er wußte nicht, was er sagen sollte. Zitternd stand er da.
Der Oberst streckte eine Hand aus. Case übergab das Paket. »Was soll das, Junge?« »Äh… Sir… Eines Tages…«
»Nun?« Sweet musterte Case, ohne ihn anzurühren. »Also. Heraus damit.« »Er hat mich gebeten, einen Brief für ihn abzugeben, falls ihm etwas zustoßen sollte. Als ob er gedacht hätte, daß seine Zeit abläuft. Er sagte, daß der Brief in einem Wachstuchpaket sein würde. Wegen des Regens und so. Sir.«
»Ich verstehe.« Der Oberst legte die Finger unter Corbies Kinn und hob es an. Er legte das Päckchen wieder auf den Tisch und hob eines von Corbies Augenlidern. Die Pupille war nur nadelstichgroß. »Hmmm.« Er bearbeitete einige Reflexstellen mit dem Finger oder mit der Faust. Corbie rührte sich nicht. »Komisch. Das sieht nicht wie ein Schlaganfall aus.« »Was könnte es denn sonst sein, Sir?«
Oberst Sweet richtete sich wieder auf. »Vielleicht weißt du das besser als ich.« »Sir?«

»Du sagst, daß Corbie mit etwas gerechnet hat?«
»Nicht ganz. Er hat befürchtet, daß etwas geschehen würde. Er klang so, als ob er alt würde und seine Zeit abliefe. Vielleicht gab es etwas Schlimmes in seiner Vergangenheit, über das er mit niemandem redete.«
»Vielleicht. Ah ja. Holts.« Der Pferdedoktor war eingetroffen. Er nahm die gleichen Untersuchungen vor wie der Oberst, richtete sich auf und zuckte die Achseln. »Da weiß ich auch nicht weiter, Oberst.« »Wir sollten ihn besser irgendwohin verlegen, wo wir ihn im Auge behalten können. Deine Aufgabe, Junge«, sagte er zu Case. »Wenn er nicht bald wieder klar wird, werden wir ihn zwangsernähren müssen.« Er stöberte im Zimmer herum und überflog die Titel des annähernden Dutzend Bücher. »Ein gelehrter Mann, dieser Corbie. Das dachte ich mir. Ein Paradebeispiel für Widersprüchlichkeiten. Ich habe mich oft gefragt, was er wirklich war.« Case begann sich jetzt Sorgen um Corbie zu machen. »Sir, ich glaube, daß er früher einen hohen Rang in den Juwelenstädten hatte, aber daß er Pech hatte und zur Armee gegangen ist.« »Darüber reden wir noch, wenn wir ihn verlegt haben. Komm mit.« Case folgte ihm. Der Oberst machte einen sehr nachdenklichen Eindruck. Vielleicht sollte er ihm doch Corbies Nachricht geben.