ZWEITES KAPITEL
Die
Schreckenssteppe
In Tanner war Corder unsere Augen und
unsere Ohren. Er hatte überall Verbindungen. Seit Jahrzehnten
arbeitet er schon gegen die Lady. Er gehört zu den wenigen, die bei
Charm ihrem Zorn entkommen sind, als sie die alten Rebellen
auslöschte. Zu einem großen Teil war die Schar dafür
verantwortlich. Damals waren wir ihr starker rechter Arm. Wir
führten ihre Feinde in die Falle.
Bei Charm starben eine Viertelmillion Menschen. Noch nie hatte es
eine Schlacht gegeben, die so gewaltig, so erbittert oder im
Ausgang so feststehend gewesen war. Selbst die blutige Niederlage
des Dominators im Alten Wald hatte nur halb so viele Leben
verschlungen. Das Schicksal zwang uns, die Seiten zu wechseln, als
es niemanden mehr gab, der uns in unserem Kampf beistand.
Einauges Verletzung war tatsächlich so sauber, wie er es behauptet
hatte. Ich schickte ihn fort und trollte mich in meine Unterkunft.
Angeblich wollte Darling die Streife ausruhen lassen, bevor sie
ihren Bericht entgegennahm. Ich erschauerte unter einer Vorahnung
und fürchtete mich vor den Neuigkeiten.
Ein alter, müder Mann. Nichts anderes bin ich. Was war aus dem
alten Feuer, dem Antrieb, dem Ehrgeiz geworden? Früher einmal gab
es Träume, Träume, die nunmehr fast vergessen waren. An düsteren
Tagen staube ich sie ab, tätschele sie, denke an bessere Zeiten und
wundere mich mit einem Gefühl der Herablassung über die Naivität
des Jünglings, der sie einst träumte.
Das Alter hat sich in meinem Quartier festgesetzt. Mein großes
Projekt. Achtzig Pfund alter Dokumente, die wir der Feldherrin
Wisper abgenommen haben, als wir noch der Lady dienten und sie auf
der Seite der Rebellen stand. Angeblich enthalten sie den Schlüssel
zum Sieg über die Lady und die Unterworfenen. Seit sechs Jahren
sind sie nun schon in meinem Besitz. Und in diesen sechs Jahren
habe ich nichts gefunden. So viele Fehlschläge sind deprimierend.
In letzter Zeit stochere ich nur noch lustlos darin herum und wende
mich dann den Annalen zu, die Ihr gerade in Händen haltet.
Seit unserer Flucht aus Juniper sind sie kaum mehr als ein
persönliches Tagebuch gewesen. Was von der Schar noch übrig ist,
erregt nur noch wenig Aufsehen. Die Nachrichten von der Außenwelt,
die zu uns durchdringen, sind so dürftig und unzuverlässig, daß ich
mir nur selten die Mühe mache, sie aufzuzeichnen. Außerdem scheint
die Lady seit dem Sieg über ihren Gatten in Juniper noch mehr
erstarrt zu sein als wir und läßt sich nur noch von ihrem Schwung
vorantreiben.
Natürlich mag der Schein trügen. Und Illusion ist das, was das
innerste Wesen der Lady ausmacht.
»Croaker.«
Ich blickte von einer Seite mit alter TelleKurre-Schrift auf, die
ich schon hundertmal zuvor betrachtet hatte. Goblin stand im
Eingang. Er sah aus wie eine vergreiste Kröte. »Ja?«
»Oben tut sich was. Nimm dein Schwert
mit.«
Ich schnappte mir meinen Bogen und einen Lederharnisch. Für den
Kampf Mann gegen Mann bin ich zu alt. Ich stehe lieber abseits und
pflücke sie mir mit ein paar Pfeilen, wenn ich denn unbedingt
kämpfen muß. Als ich Goblin folgte, fiel mein Blick auf den Bogen.
Die Lady persönlich hatte ihn mir bei der Schlacht um Charm
gegeben. Damit hatte ich geholfen, Seelenfänger zu töten, jenen
Unterworfenen, der die Schar in den Dienst der Lady gebracht hatte.
Diese Tage erschienen mir jetzt beinahe wie altertümliche
Geschichte. Im Galopp stürmten wir ins Sonnenlicht hinaus. Andere
begleiteten uns und verteilten sich zwischen den Kakteen und den
Korallen. Der Reiter, der über den einzigen Pfad herankam, würde
uns nicht sehen.
Er ritt allein auf einem mottenzerfressenen Maulesel. Er war
unbewaffnet. »Der ganze Terz nur wegen eines alten Mannes auf einem
Maulesel?« fragte ich. Durch die Korallen und zwischen den Kakteen
wuselten Männer herum und machten einen Höllenkrach. Der Alte mußte
doch wissen, daß wir hier waren. »Wir sollten uns mal etwas
ausdenken, wie wir mit weniger Lärm hier herauskommen.«
»Ja.«
Erschrocken fuhr ich herum. Hinter mir hob Elmo eine Hand schützend
über die Augen und spähte hinunter. Er sah ebenso alt und müde aus,
wie ich mich fühlte. Jeder Tag erinnert mich aufs Neue daran, daß
keiner von uns mehr der Jüngste ist. Verdammt, keiner von uns war
mehr jung, als wir über das Meer der Qualen nach Norden kamen. »Wir
brauchen frisches Blut, Elmo.«
Er feixte höhnisch.
Er hat ja recht. Bis das hier vorbei ist, werden wir alle sehr viel
älter sein. Wenn wir durchhalten. Denn wir erkaufen Zeit.
Jahrzehnte, wenn wir Glück haben. Der Reiter durchquerte den Bach
und hielt an. Er hob die Hände. Männer tauchten auf, hielten ihre
Waffen eher lässig. Ein alter Mann, hier im Herzen von Darlings
Nullfeld, stellte keine Gefahr dar.
Elmo, Goblin und ich schlenderten hinab. Unterwegs fragte ich
Goblin: »Haben du und Einauge euch unterwegs gut amüsiert?« Sie
liegen sich schon seit Urzeiten in den Haaren. Aber hier, wo
Darlings Anwesenheit es unmöglich macht, können sie keine
Zaubertricks anwenden.
Goblin grinste. Wenn er grinst, erstreckt sich sein Mund von einem
Ohr zum anderen. »Ich habe ihn kalt erwischt.«
Wir erreichten den Reiter. »Erzähl mir später davon.« Goblin
kicherte quieksend. Es klang wie Wasser, das in einem Teekessel
brodelt. »Klar.« »Wer bist du?« fragte Elmo den Eselsreiter.
»Pfänder.«
Das war kein Name. Es war das Kennwort für einen Kurier aus dem
fernen Westen. Wir
hatten es schon lange nicht mehr gehört.
Boten aus dem Westen mußten auf dem Weg zur
Steppe die Provinzen durchqueren, die von der Lady am gründlichsten
gezähmt worden waren.
»Ach ja?« sagte Elmo. »Was mag das denn sein? Wie wäre es, wenn du
absteigst?« Der Alte rutschte von seinem Reittier und zeigte seine
Beglaubigungen vor. Elmo fand sie zufriedenstellend. Dann
verkündete er: »Ich habe hier zwanzig Pfund Zeugs.« Er klopfte auf
eine Tasche, die hinter dem Sattel aufgeschnallt war. »Jeder
verdammte Weiler hat was dazugetan.«
»Du hast die ganze Reise selbst gemacht?« fragte ich. »Jeden
einzelnen verdammten Fuß von Oar bis hierher.« »Oar? Aber das ist…«
Mehr als eintausend Meilen von hier entfernt. Ich hatte nicht
gewußt, daß wir dort jemanden hatten. Aber es gibt vieles, was ich
über die Organisation nicht weiß, die Darling aufgebaut hat. Ich
verbringe meine Zeit hauptsächlich damit, diese verdammten Papiere
dazu zu bringen, mir etwas zu verraten, das vielleicht gar nicht
drinsteht. Der alte Mann musterte mich, als ob er meine Seele auf
die Waagschale le’gen wollte. »Bist du der Wundarzt? Croaker?«
»Ja. Wieso?«
»Hab was für dich. Für dich persönlich.« Er öffnete seine
Kuriertasche. Einen Augenblick lang spannten sich alle an. Man kann
nie wissen. Aber er zog nur ein in Wachstuch gewickeltes Paket
hervor, das so aussah, als ob es das Ende der Welt überstehen
sollte. »Da oben regnet es dauernd«, meinte er, als er mir das
Paket übergab. Ich wog es in der Hand. Wenn man die Ölhaut nicht
mitrechnete, war es gar nicht so schwer. »Von wem ist das?«
Der alte Mann zuckte mit den Achseln.
»Woher hast du es?«
»Vom Leiter meiner Zelle.«
Natürlich. Darling hat ihre Organisation mit Sorgfalt so aufgebaut,
daß es für die Lady nahezu unmöglich ist, mehr als nur einen
Bruchteil davon zu knacken. Das Kind ist das reinste Genie.
Elmo nahm den Rest entgegen und sagte zu Otto: »Bring ihn nach
unten und mach ihm eine Koje zurecht. Ruh dich etwas aus, Alter.
Die Weiße Rose wird dich später noch befragen.« Da stand uns
vielleicht ein interessanter Nachmittag bevor, wenn dieser Mann und
Corder ihre Berichte abgaben. Ich klemmte mir das geheimnisvolle
Paket unter den Arm und sagte zu Elmo. »Ich sehe mir das hier mal
an.« Wer konnte es mir geschickt haben? Außerhalb der Steppe kannte
ich niemanden. Abgesehen von… Aber die Lady würde doch keinen Brief
in den Untergrund einschleusen. Oder doch? Leise Furcht durchzuckte
mich. Es war schon einige Zeit her, aber sie hatte mir
versprochen,
daß sie in Verbindung bleiben würde.
Der sprechende Menhir, der uns den Boten angekündigt hatte, stand
immer noch neben dem Pfad. Als ich vorbeiging, sagte er: »Es sind
Fremde auf der Steppe, Croaker.« Ich blieb stehen. »Was denn? Noch
mehr?« Seinem Charakter entsprechend verharrte er in bockigem
Schweigen. Diese alten Steine werde ich niemals begreifen.
Verdammt, ich verstehe immer noch nicht, warum sie auf unserer
Seite stehen. Sie lassen allen Außenseitern samt und sonders nur
Haß zukommen. Was sie nicht von allen anderen unheimlichen Wesen
hier draußen unterscheidet. Ich zog mich in mein Quartier zurück,
löste die Sehne meines Bogens und lehnte ihn an die Erdwand. Dann
setzte ich mich an meinen Arbeitstisch und öffnete das Paket. Die
Schrift erkannte ich nicht. Am Ende fand ich kein Namenszeichen.
Ich begann zu lesen.