VIERTES KAPITEL
Vor nicht allzu langer
Zeit: Corbie
Das Gräberland liegt weit nördlich von
Charm in jenem Alten Wald, den die Legenden um die Weiße Rose so
ausführlich beschreiben. Im Sommer, nachdem der Dominator
vergeblich versucht hatte, über Juniper seinem Grab zu entfliehen,
traf Corbie in der Stadt ein. Er fand die Untergebenen der Lady in
ausnehmend guter Stimmung vor. Das uralte Böse im großen Grab hatte
seinen Schrecken verloren. Die letzten Rebellen waren ausgerottet
worden. Das Reich hatte keine Feinde mehr, die von Bedeutung
gewesen wären. Der Große Komet, Unheilsbote aller Katastrophen,
würde erst in Jahrzehnten wiederkehren. Ein einziger Brennpunkt des
Widerstandes war noch übrig, ein Kind, das die Wiedergeburt der
Weißen Rose sein sollte. Aber sie befand sich gemeinsam mit den
Überresten der verräterischen Schwarzen Schar auf der Flucht. Aus
jener Ecke war nichts zu befürchten. Die überwältigende
Überlegenheit der Lady würde sie ersticken. Allein mit einem
Rucksack auf dem Rücken und einen Stab fest mit der Hand
umklammert, kam Corbie die Straße von Oar herauf gehinkt. Er
behauptete, daß er ein ausgemusterter Veteran sei, der bei den
Feldzügen des Hinkers in Forsberg dabeigewesen war. Er suchte
Arbeit. Für einen Mann, dessen Stolz nicht allzu groß war, gab es
reichlich Arbeit. Die Ewige Garde wurde gut bezahlt. Viele
Gardisten heuerten Leute für ihre Schmutzarbeit an. Zu jener Zeit
war ein Regiment im Gräberland stationiert. Zahllose Zivilisten
umkreisten das Quartier der Soldaten. Corbie verlor sich unter
ihnen. Als die Kompanien und die Bataillone abrückten, war er
bereits ein fester Bestandteil der Landschaft geworden. Er spülte
Geschirr, striegelte Pferde, säuberte Ställe, verrichtete
Botengänge, wischte Fußböden, schälte Gemüse, nahm jede Arbeit an,
für die er ein paar Kupferstücke bekommen konnte. Er war ein
stiller, hochgewachsener, dunkelhäutiger, düsterer Geselle, der
sich keine besonderen Freunde, aber auch keine Feinde machte. Er
mischte sich nur selten unter das Volk.
Nach ein paar Monaten erhielt er auf sein Bitten hin Erlaubnis,
sich in einem heruntergekommenen Haus niederzulassen, das schon
seit langem gemieden wurde, weil es einst einem Zauberer aus Oar
gehört hatte. Wenn die Zeit und seine Mittel es ihm gestatteten,
beschäftigte er sich damit, das Haus wieder auf Vordermann zu
bringen. Und wie es der Zauberer vor ihm getan hatte, folgte auch
er der Mission, die ihn in den Norden geführt hatte. Zehn, zwölf,
vierzehn Stunden am Tag arbeitete Corbie in der Stadt, dann ging er
nach Hause und arbeitete noch ein wenig weiter. Die Leute fragten
sich, wann er sich eigentlich ausruhte.
Falls es etwas Auffälliges an Corbie gab, so war es der Umstand,
daß er sich weigerte, seine Rolle bis zur letzten Konsequenz
auszuleben. Die meisten Hilfsarbeiter hatten einiges an Schikanen
auszustehen. Corbie nahm so etwas nicht hin. Wenn man ihm zu nahe
rückte, wurde sein Blick so kalt wie Stahl im Winter. Nur ein
einziger Mann bedrängte Corbie noch weiter, nachdem er diesen Blick
erhalten hatte. Corbie schlug ihn mit gnadenloser, rücksichtsloser
Gründlichkeit zusammen.
Niemand argwöhnte, daß er ein
Doppelleben führte. Außerhalb seines Heimes war er
Corbie, der Ausputzer, nichts weiter. Diese Rolle lebte er von
Herzen. Wenn er sich in den geschäftigeren Tagesstunden zu Hause
aufhielt, war er Corbie, der Renovierer. Nur in den finstersten
Nachtstunden, wenn außer der Nachtstreife alles schlief, wurde er
zu Corbie, dem Mann mit einer Mission.
Corbie, der Renovierer, entdeckte in einer Wand der Küche des
Zauberers einen Schatz. Er nahm ihn mit nach oben, und Corbie, der
Getriebene, tauchte aus den Tiefen empor. Auf dem Papierfetzen
waren in zitteriger Schrift ein Dutzend Worte aufgeschrieben. Ein
Kodierungsschlüssel.
Das hagere, dunkelhäutige Gesicht, das schon lange nicht mehr
gelächelt hatte, verlor seine eisige Kälte. Dunkle Augen funkelten.
Finger drehten einen Lampendocht höher. Corbie setzte sich hin und
starrte eine Stunde lang ins Nichts. Dann ging er immer noch
lächelnd nach unten und in die Nacht hinaus. Wenn er der
Nachtstreife begegnete, hob er lässig die Hand zum Gruß.
Mittlerweile kannte man ihn. Niemand stellte sein Recht in Frage,
umherzuhinken und dem Zug der Sternbilder zuzusehen.
Als seine Nerven sich wieder beruhigt hatten, ging er wieder heim.
In dieser Nacht würde es keinen Schlaf für ihn geben. Er breitete
Papiere aus, begann sich darin zu vertiefen, sie zu entziffern, zu
übersetzen und dann einen Brief zu schreiben, der seinen Empfänger
erst Jahre später erreichen sollte.