EINUNDDREISSIGSTES KAPITEL
Nacht im
Gräberland
Blitze und Donner wechselten sich auch
weiterhin treu und brav ab. Das Licht und der Krach durchdrangen
die Wände, als wären sie aus Papier. Ich schlief unruhig, und meine
Nerven waren zerfranster, als sie es hätten sein sollen. Die
anderen lagen im Tiefschlaf. Warum konnte ich das nicht?
Es begann als nadelgroßes Licht in einer Ecke, als goldener
Lichtfunke. Der Funke vervielfältigte sich. Ich wollte mich schon
mit geballten Fäusten auf Goblin und Einauge stürzen und ihnen das
Wort Lügner einbleuen. Das Amulett sollte mich doch unsichtbar
machen…
Ein ganz leises, geisterhaftes Flüstern wie das Klagen eines
Gespenstes in einer tiefen kalten Höhle. »Leibarzt. Wo bist
du?«
Ich antwortete nicht. Ich wollte mir die Decke über den Kopf
ziehen, aber ich konnte mich nicht rühren.
Sie blieb schemenhaft, flackernd, unbestimmt. Vielleicht hatte sie
tatsächlich Schwierigkeiten, mich aufzuspüren. Als ihr Antlitz sich
für einen Augenblick verfestigte, blickte sie nicht in meine
Richtung. Ihre Augen schienen nichts zu sehen. »Du hast dich von
der Schreckenssteppe entfernt«, rief sie mit jener wie aus weiter
Entfernung klingenden Stimme. »Du bist irgendwo im Norden. Du hast
eine breite Spur hinterlassen. Du bist ein Narr, mein Freund. Ich
werde dich finden. Weißt du das nicht? Du kannst dich nicht
verbergen. Man kann auch eine Leere sehen.« Sie hatte keine Ahnung,
wo ich war. Indem ich nicht antwortete, tat ich genau das Richtige.
Sie wollte, daß ich mich selbst verriet. »Meine Geduld ist nicht
grenzenlos, Croaker. Aber du darfst immer noch zum Turm kommen.
Aber tue es bald. Deine Weiße Rose hat nicht mehr viel Zeit.« Ich
schaffte es endlich, mir die Decke bis ans Kinn zu ziehen. Ich muß
einen netten Anblick geboten haben. Im Nachhinein sicherlich
erheiternd. Wie ein kleiner Junge, der Angst vor Gespenstern
hat.
Langsam erstarb das Leuchten. Die Nervosität, die mich seit unserer
Rückkehr von Bomanz’ Haus gepeinigt hatte, verschwand mit ihm. Als
ich mich wieder zurechtlegte, sah ich kurz zu Köter Krötenkiller
hinüber. Licht wurde von einem offenstehenden Auge reflektiert. Zum
ersten Mal hatte ich also einen Zeugen für meine Heimsuchungen.
Aber nur einen Hund.
Ich denke nicht, daß mir jemals jemand meine Erzählungen glaubte,
obwohl das, was ich berichtete, sich später immer als wahr
herausstellte.
Ich schlief.
Goblin weckte mich. »Frühstück.«
Wir aßen. Dann machten wir ein großes Trara um unsere Suche nach
Märkten für unsere Waren, um langfristige Verbindungen für unsere
Anfahrten zu etablieren. Das Geschäft lief schlecht, aber unser
Wirt bot uns an, regelmäßig Spirituosen abzunehmen. Innerhalb der
Ewigen Garde bestand dafür Bedarf. Die Soldaten hatten wenig zu
tun, also tranken sie. Mittagessen. Und während wir noch dasaßen
und unsere Gedanken für die anschließende Planungssitzung
sammelten, betraten Soldaten den Gasthof. Sie fragten den Wirt, ob
in der letzten Nacht irgendwelche Gäste unterwegs gewesen seien.
Der gute alte Wirt stritt allein schon die Möglichkeit rundheraus
ab. Er bezeichnete sich selbst als Mann mit dem allerleichtesten
Schlaf der Welt. Er wußte immer, ob jemand kam oder ging. Für die
Soldaten war das gut genug. Sie zogen wieder ab. »Worum ging es
denn?« fragte ich den Wirt, als er wieder in unsere Richtung kam.
»Jemand ist letzte Nacht in Corbies Haus eingebrochen«, sagte er.
Dann wurden seine Augen kleiner. Andere Fragen fielen ihm ein.
Meine Fragen. »Seltsam«, sagte ich. »Warum sollte jemand das wohl
tun?« »Ja. Warum?« Er machte sich wieder an seine Arbeit, blieb
aber nachdenklich. Ich blieb ebenfalls nachdenklich. Wie hatte man
unseren Besuch bemerkt? Wir hatten darauf geachtet, keine Spuren zu
hinterlassen. Auch Goblin und Einauge waren verstört. Nur Tracker
schien es nicht zu kümmern. Ihm paßte es bloß nicht, daß wir uns in
der Nähe des Gräberlandes aufhielten. »Was können wir machen?«
fragte ich. »Wir sind umzingelt, wir sind in der Minderzahl, und
vielleicht stehen wir auch unter Verdacht. Wie bekommen wir diesen
Corbie in die Finger?«
»Das ist eigentlich kein Problem«, sagte Einauge. »Die wirkliche
Schwierigkeit liegt darin, wie wir hier wieder wegkommen können,
nachdem wir ihn einkassiert haben. Wenn wir zur rechten Zeit einen
Windwal heranrufen könnten…« »Jetzt sag mir doch mal, warum das
eigentlich kein Problem ist.« »Wir gehen mitten in der Nacht in die
Kaserne der Garde, wenden den Schlafzauber an, holen unseren Mann
und seine Papiere raus, rufen seine Seele wieder zurück und
schaffen ihn raus. Aber was dann? Na, Croaker? Was dann?« »Wohin
können wir fliehen?« sinnierte ich. »Und wie kommen wir dorthin?«
»Es gibt eine Möglichkeit«, sagte Tracker. »Der Wald. Im Wald
könnte die Garde uns nicht finden. Wenn wir den Großen Tragic
überqueren könnten, wären wir in Sicherheit. Für eine Jagd haben
sie nicht genug Leute.«
Ich kaute an einem Fingernagel. An Trackers Worten war etwas dran.
Ich wußte, daß er die
Wälder und die Stämme gut genug kannte,
daß wir auch mit der Last eines kranken Mannes
durchkommen konnten. Aber das führte nur zu weiteren Problemen. Um
die Schreckenssteppe zu erreichen, mußten noch eintausend Meilen
überwunden werden. Und das Reich würde wachsam sein. »Wartet hier«,
befahl ich und verließ das Zimmer. Ich hastete zur Reichskaserne,
betrat das Büro, wo ich schon zuvor gewesen war, schüttelte mich
trocken und musterte eine Landkarte an der Wand. Der Junge, der uns
auf Schmuggelware überprüft hatte, kam herüber »Kann ich Euch
irgendwie helfen?« »Ich glaube nicht. Wollte mir nur mal die
Landkarte ansehen. Ist sie einigermaßen genau?« »Nicht mehr. Der
Fluß hat sich mehr als eine Meile in diese Richtung verlagert. Und
der größte Teil der Schwemmebene hat keinen Waldbestand mehr. Alles
weggespült.« »Hmmm.« Ich legte Fingerspannen an und nahm einige
Schätzungen vor. »Wieso wollt Ihr das wissen?«
»Geschäftliche Gründe«, log ich. »Ich hatte gehört, daß wir
vielleicht mit einem der größeren Stämme an einem Ort namens
Adlerfelsen Verbindung aufnehmen können.« »Das liegt fünfundvierzig
Meilen entfernt. Das würdet Ihr nicht schaffen. Sie würden euch
umbringen und euch alles abnehmen. Der einzige Grund, warum sie die
Garde und die Straße in Ruhe lassen, ist der, daß die unter dem
Schutz der Lady stehen. Falls der nächste Winter aber so schlimm
wird wie die letzten, dann wird sie das auch nicht aufhalten.« »Hm.
Nun ja, war nur ein Gedanke. Bist du Case?« »Ja.« Seine Augen
verengten sich argwöhnisch. »Ich hab gehört, daß du dich um einen
Burschen kümmerst…« Ich ließ es dabei bewenden. Seine Reaktion war
nicht das, was ich erwartet hatte. »Na ja, das erzählt man sich
jedenfalls in der Stadt. Danke für den Ratschlag.« Ich trat den
Rückzug an. Aber ich befürchtete, daß ich es verpatzt hatte.
Schon bald wußte ich, daß ich es verpatzt hatte. Nur wenige Minuten
nach meiner Rückkehr tauchte ein Trupp unter Führung eines Majors
im Gasthof auf. Sie hatten uns unter Arrest, noch bevor wir
überhaupt begriffen, was los war. Goblin und Einauge hatten gerade
noch Zeit, ihre Geräte mit einem Tarnzauber zu belegen. Wir
stellten uns dumm. Wir schimpften und murrten und winselten. Es
nützte nichts. Unsere Häscher wußten noch weniger als wir, warum
wir einkassiert worden waren. Sie folgten bloß ihren Befehlen.
Das Gesicht des Gastwirtes verriet mir deutlich, daß er uns als
verdächtig gemeldet hatte. Ich nehme an, daß Case etwas über meinen
Besuch erwähnt hatte, das irgendwo eine Waage ausschlagen ließ.
Jedenfalls wurden wir in die Gefängniszellen verfrachtet. Zehn
Minuten nachdem sich die Türen dröhnend geschlossen hatten,
erschien der Befehlshaber der Ewigen Garde höchstpersönlich auf der
Bildfläche. Ich seufzte erleichtert. Er war damals noch nicht hier
gewesen. Zumindest war es niemand, den wir kannten. Also sollte er
uns auch nicht kennen.
Mittels der Taubstummensprache hatten
wir Zeit gehabt, unsere Geschichte abzusprechen.
Wir alle bis auf Tracker. Aber Tracker hatte sich offenbar in sich
selbst zurückgezogen. Man hatte ihm nicht erlaubt, seinen Köter bei
sich zu behalten. Deswegen war er zornig geworden. Und hatte den
Leuten, die uns verhaftet hatten, eine Heidenangst eingejagt. Einen
Moment lang hatten sie geglaubt, daß sie ihn überwältigen müßten.
Der Kommandant musterte uns, dann stellte er sich vor. »Ich bin
Oberst Sweet. Ich habe den Befehl über die Ewige Garde.« Case trat
neben ihm von einem Fuß auf den anderen. »Ich habe euch Männer
hierhergebeten, weil einiges an eurem Verhalten ungewöhnlich
gewesen ist.«
»Haben wir unwissentlich eine Vorschrift verletzt, die nicht
öffentlich ausgehängt ist?« fragte ich.
»Keineswegs. Keineswegs. Es geht einzig und allein um die Umstände.
Man könnte es eine Frage der unerklärten Absicht nennen.«
»Jetzt komme ich nicht mehr mit, Sir.«
Er begann auf dem Gang vor unserer Zelle auf und ab zu schreiten.
Auf und ab. »Ein altes Sprichwort besagt, daß Taten lauter sprechen
als Worte. Aus mehreren Quellen sind mir Berichte über euch
zugegangen. Über eure übermäßige Neugier Dinge betreffend, die mit
euren Geschäften nichts zu tun haben.«
Ich versuchte mein bestes verdattertes Gesicht aufzusetzen. »Was
ist so ungewöhnlich daran, wenn man auf neuem Territorium Fragen
stellt? Meine Partner sind noch nie hier gewesen. Es ist Jahre her,
seit ich das letzte Mal hier war. Es hat sich einiges geändert.
Jedenfalls ist das auch einer der interessantesten Orte im gesamten
Reich.« »Auch einer der gefährlichsten, Händler. Kerzner, nicht
wahr? Meister Kerzner, Ihr wart während Eurer Dienstzeit hier
stationiert. Bei welcher Einheit?« Darauf konnte ich ohne zu zögern
antworten. »Erpelkamm. Oberst Lot. Zweites Bataillon.« Schließlich
war ich tatsächlich hier gewesen. »Ja.
Die Söldnerbrigade aus Rosen. Was war das Lieblingsgetränk des
Oberst?« O Mann. »Ich war ein Piqueur, Sir. Ich habe nicht mit dem
Brigadier getrunken.« »Ach ja.« Er lief weiter auf und ab. Ich
konnte nicht sagen, ob die Antwort anschlug oder nicht. Erpelkamm
war keine auffällige Einheit wie die Schwarze Schar gewesen, um die
sich Geschichten gerankt hätten. Wer sollte sich denn noch an sie
erinnern, verdammt noch mal? Nach einer Weile sagte er: »Ihr müßt
meine Position verstehen. Bei dem Wesen, das dort begraben liegt,
wird Paranoia zur Berufskrankheit.« Er zeigte in die Richtung des
Großen Hügelgrabes. Dann stapfte er von dannen. »Was sollte das
denn, verdammt?« fragte Goblin. »Ich weiß es nicht. Und ich bin mir
nicht sicher, daß ich es herausfinden will. Irgendwie haben wir uns
heftig in die Nesseln gesetzt.« Die Worte waren für eventuelle
Lauscher bestimmt.
Goblin nahm den Ball auf. »Verflixt noch mal, Kerzner, ich hab dir
doch gesagt, daß wir
nicht hier rauffahren sollten. Ich habe
dir doch gesagt, daß die Leute aus Oar ein Abkommen
mit der Garde haben.«
Dann fing auch Einauge an. Sie zerrissen mich förmlich in der Luft.
Währenddessen besprachen wir die Sache mit den Fingerzeichen und
kamen zu dem Schluß, auf den nächsten Zug des Obersten zu
warten.
Uns blieb auch kaum eine andere Wahl, wenn wir uns nicht
vollständig verraten wollten.