ZWANZIGSTES KAPITEL
Das Gräberland

Der Regen hörte nie auf. Meistens war er kaum mehr als ein Nieseln. An besonders guten Tagen ließ er zu einem herabfallenden Nebel nach. Aber Niederschlag war immer da. Corbie ging trotzdem hinaus, auch wenn er über Schmerzen in seinem Bein klagte. »Wenn dir das Wetter solche Schwierigkeiten macht, warum bleibst du dann noch hier?« fragte Case. »Du hast doch gesagt, du glaubst, daß deine Kinder wahrscheinlich in Opal leben. Warum gehst du nicht selbst dorthin und suchst nach ihnen?« Das war eine schwierige Frage. Corbie mußte sich darauf noch eine überzeugende Antwort ausdenken. In einem anderen Leben, als ein anderer Mann, hatte er furchtlos die Höllenfürsten selbst herausgefordert. Schwerter und Zauberei und Tod konnten ihn nicht schrecken. Nur Menschen und Liebe machten ihm Angst. »Wahrscheinlich Gewohnheit«, sagte er. Leise. »Vielleicht könnte ich in Oar leben. Vielleicht. Ich komme mit Menschen nicht besonders gut aus, Case. Ich mag sie nicht sonderlich. Die Juwelenstädte konnte ich nicht ertragen. Habe ich dir schon erzählt, daß ich schon einmal dort war?«
Case hatte die Geschichte schon mehrere Male gehört. Er vermutete, daß Corbie mehr als nur einmal dort gewesen war. Er glaubte, daß Corbie aus einer der Juwelenstädte stammte. »Ja. Als die Rebellen ihren Vorstoß durch Forsberg begannen. Du hast mir erzählt, daß du auf dem Weg dahinauf den Turm gesehen hast.« »Das stimmt. Das habe ich tatsächlich. Mein Gedächtnis läßt nach. Städte. Ich mag sie nicht. Junge. Kann sie nicht leiden. Zu viele Menschen. Manchmal sind sogar hier zu viele davon. So war es, als ich zum ersten Mal hierherkam. Jetzt ist es in etwa erträglich. In etwa. Vielleicht etwas zuviel Gejammer und Gezeter wegen der Untoten da drüben.« Er reckte das Kinn zum Großen Hügelgrab. »Aber ansonsten erträglich. Ein oder zwei von euch Jungens, mit denen ich reden kann. Und niemand, der mir sonst auf die Nerven fällt.« Case nickte. Er dachte, daß er verstand. Er hatte schon andere alte Kämpfer gekannt. Die meisten hatten ihre Eigenarten gehabt. »He! Corbie. Hast du eigentlich jemals mit der Schwarzen Schar zu tun gehabt, als du da oben warst?« Corbie erstarrte und sah ihn mit einem so durchdringenden Blick an, daß der junge Soldat errötete. »Äh! Stimmt was nicht, Corbie? Habe ich etwas Falsches gesagt?« Corbie nahm seinen Weg wieder auf, und sein wütend beschleunigter Schritt wurde von seinem Hinken nicht verlangsamt. »Das war eigenartig. Als ob du meine Gedanken gelesen hättest. Ja. Ich bin mit den Burschen zusammengetroffen. Schlimme Kerle. Ganz schlimme Kerle.«
»Mein Vater hat uns Geschichten über sie erzählt. Er war während des langen Rückzugs nach Charm bei ihnen. Bei Lords, im Windland, auf der Zährenstiege, bei allen Kämpfen. Als er nach der Schlacht von Charm Urlaub bekam, ist er nach Hause gekommen. Hat furchtbare Geschichten von diesen Leuten erzählt.«

»Den Teil habe ich verpaßt. Ich wurde bei Rosen zurückgelassen, als Wandler und der
Hinker die Schlacht verloren haben. Bei wem war dein Vater? Du hast nie viel von ihm gesprochen.«
»Bei Nachtkriecher. Ich rede nicht von ihm, weil wir nie miteinander ausgekommen sind.« Corbie lächelte. »Söhne kommen nur selten mit ihren Vätern aus. Und hier spricht die Stimme der Erfahrung.«
»Was hat dein Vater gemacht?«
Corbie lachte. »Er hatte einen Bauernhof. In gewisser Hinsicht. Aber ich will lieber nicht über ihn reden.«
»Was machen wir hier eigentlich, Corbie?« Bomanz’ Vermessungen überprüfen. Aber das konnte Corbie dem Jungen nicht sagen. Eine angemessene Lüge fiel ihm auch nicht ein. »Wir gehen im Regen spazieren.« »Corbie…«
»Können wir mal eine Zeitlang die Ruhe genießen, Case? Bitte.« »Klar.«
Corbie hinkte einmal um das gesamte Gräberland herum, hielt stets respektvollen Abstand und benahm sich angemessen unauffällig. Er verwendete keine Hilfsmittel. Das hätte Oberst Sweet Hals über Kopf über ihn gebracht. Statt dessen zog er die Karte des Zauberers aus dem Gedächtnis zu Rate. Das Ding hatte dort ein eigenes glühendes Leben angenommen, und die alten TelleKurre-Symbole leuchteten mit einer wilden und gefährlichen Lebendigkeit. Als er die Überreste des Gräberlandes betrachtete, konnte er von den Bezugspunkten auf der Karte nur noch ein Drittel erkennen. Der Rest war von der Zeit und der Witterung ausgelöscht worden.
Corbie war kein Mann, dem die Nerven durchgingen. Doch jetzt hatte er Angst. Kurz vor dem Ende ihres Spazierganges sagte er: »Case, ich möchte, daß du mir einen Gefallen tust. Vielleicht einen zweifachen Gefallen.«
»Sir?«
»Sir? Nenn mich ruhig Corbie.«
»Du hast dich so ernst angehört.«
»Es ist auch eine ernste Angelegenheit.« »Dann sag schon.«
»Kann man sich darauf verlassen, daß du deinen Mund hältst?« »Wenn es nötig ist.«
»Ich will dir ein bedingtes Schweigegelübde auferlegen.«

»Das verstehe ich nicht.«
»Case, ich will dir etwas sagen. Für den Fall, daß mir etwas zustößt.« »Corbie!«
»Ich bin nicht mehr jung, Case. Und meine Gesundheit ist mächtig angeschlagen. Ich habe eine Menge durchgemacht. Und ich spüre, daß mich das langsam einholt. Ich erwarte nicht, daß ich bald abtrete. Aber man kann nie wissen. Falls etwas passiert, gibt es etwas, das nicht mit mir sterben soll.«
»In Ordnung, Corbie.«
»Wenn ich etwas vorschlage, kannst du es dann für dich behalten? Selbst wenn du glaubst, daß du das vielleicht nicht tun solltest? Kannst du etwas für mich tun?« »Daß du es mir nicht sagst, macht die Sache ziemlich schwierig.« »Ich weiß. Es ist nicht fair. Der einzige, dem ich sonst noch vertraue, ist Oberst Sweet. Und seine Stellung läßt es nicht zu, daß er ein solches Versprechen abgibt.« »Es ist nichts Verbotenes?«
»Strenggenommen nicht.«
»Ich glaube schon.«
»Nicht glauben, Case.«
»In Ordnung. Du hast mein Wort.«
»Gut. Danke. Ich weiß das wirklich zu schätzen, das darfst du nicht bezweifeln. Zwei Dinge. Erstens. Falls mir etwas zustößt, geh in das Obergeschoß meines Hauses. Wenn ich dort auf dem Tisch ein in Wachstuch gewickeltes Päckchen hinterlassen habe, sorge dafür, daß es zu einem Schmied namens Sand in Oar gelangt.« Case machte ein entsprechend zweifelndes und verdutztes Gesicht. »Zweitens, nachdem du das getan hast - und nur dann -, sage dem Oberst, daß die Untoten sich regen.«
Case blieb stehen.
»Case.« In Corbies Stimme lag ein Befehlston, den der junge Mann noch nicht gehört hatte. »Ja. In Ordnung.«
»Das wäre alles.«
»Corbie…«
»Keine Fragen jetzt. In ein paar Wochen kann ich vielleicht alles erklären. In Ordnung?« »Ja, gut.«

»Jetzt noch zu niemandem ein Wort. Und denk daran. Das Päckchen an Sand, den Schmied.
Und dann sag dem Oberst Bescheid. Ich sag dir was. Wenn ich kann, hinterlasse ich dem Oberst auch einen Brief.«
Case nickte bloß.

Corbie holte tief Luft. Es war zwanzig Jahre her, daß er auch nur den simpelsten Aufspürzauber versucht hatte. Noch nie hatte er etwas in der Größenordnung dessen unternommen, was ihm jetzt bevorstand. In jenen längst vergangenen Zeiten, als er ein anderer Mann oder Junge gewesen war, war Zauberei ein Zeitvertreib für reiche Söhne aus gutem Hause gewesen, die lieber Hexer spielten, als ihre Zeit anständigen Studien zu widmen. Alles lag bereit. Die magischen Gerätschaften, die für dieses Unterfangen nötig waren, lagen auf dem Tisch im Obergeschoß des Hauses, das Bomanz erbaut hatte. Es war nur angemessen, daß er dem Alten folgte.
Er berührte das Wachstuchpäckchen für Case, den zusammengerollten Brief für Sweet und betete, daß keiner der beiden in die Hände des jungen Mannes geraten würde. Doch wenn sich sein Verdacht bestätigte, war es besser, daß der Feind Bescheid wußte, als daß die Welt überrascht wurde.
Außer der Tat selbst blieb nichts mehr zu tun. Er stürzte einen halben Becher kalten Tees herunter und setzte sich. Er schloß die Augen und begann einen Zaubersang, den er gelernt hatte, als er noch jünger als Case gewesen war. Seine Methode war nicht die gleiche, die Bomanz verwendet hatte, aber sie war ebenso wirksam. Sein Körper wollte sich nicht entspannen, lenkte ihn immer wieder ab. Doch schließlich setzte die Lethargie ein. Sein Ka löste die zehntausend Verankerungen zu seinem Fleisch. Ein Teil von ihm beharrte darauf, daß er ein Narr war, diesen Versuch zu unternehmen, ohne über die Fähigkeiten eines Meisters zu verfügen. Aber er hatte nicht die Zeit für die Ausbildung gehabt, die nötig gewesen wäre, um wie Bomanz zu werden. Das, was er bewirken konnte, hatte er während seiner Abwesenheit vom Alten Wald gelernt. Frei von seinem Körper und dennoch mit unsichtbaren Banden damit verbunden, die ihn zurückführen würden. Wenn sein Glück anhielt. Vorsichtig entfernte er sich. Er benutzte die Treppe, die Tür und die Laufstege, die die Wache errichtet hatte. Wenn man immer noch so tat, als ob man sich leibhaftig bewegte, würde man den Körper nicht so rasch vergessen. Die Welt sah anders aus. Jeder Gegenstand hatte seine eigene Aura. Es fiel ihm schwer, sich auf die große Aufgabe zu konzentrieren. Er begab sich zur Grenze des Gräberlandes. Unter der Gewalt der dröhnenden alten Zauberbanne, die den Dominator und etliche seiner Untertanen geringeren Ranges fesselten, erschauerte er. Was für eine Kraft! Vorsichtig folgte er der Grenze, bis er den immer noch nicht zur Gänze verheilten Pfad gefunden hatte, den Bomanz einst geöffnet hatte. Er trat über die Grenzlinie.
Sofort richtete sich die Aufmerksamkeit eines jeden im Gräberland gefangenen Geistes auf

ihn, mochten sie nun guter oder böser Natur sein. Es waren viel mehr, als er erwartet hatte.
Viel mehr, als die Karte des Zauberers angezeigt hatte. Jene Soldatensymbole, die das Große Hügelgrab umgaben… Das waren keine Statuen. Es waren Menschen, Soldaten der Weißen Rose, die als Geisterwachen aufgestellt worden waren, um auf ewig zwischen der Welt und dem Ungeheuer, das sie verschlingen wollte, auszuharren. Wie getrieben mußten sie gewesen sein. Welche Hingabe hatten sie ihrer Sache entgegengebracht. Der Pfad wand sich um die früheren Ruheplätze von alten Unterworfenen, schlängelte sich durch den äußeren Kreis, dann durch den inneren. Im inneren Kreis sah er die wahren Gestalten von einigen Ungeheuern geringeren Ranges, die in den Diensten der Unterdrückung gestanden hatten. Der Pfad erstreckte sich wie eine Spur aus silbrigem Nebel. Hinter ihm wurde dieser Nebel dichter, weil sein Durchgang dem Weg neue Kraft gab. Vor ihm lagen stärkere Zauberkräfte. Und all jene Männer, die unter die Erde gegangen waren, um den Dominator zu umringen. Und dahinter die größere Furcht. Das Drachenwesen, das sich auf Bomanz’ Karte um die Gruft mitten im Großen Hügelgrab geringelt hatte. Geister kreischten ihm Worte in TelleKurre entgegen, in UchiTelle, in Sprachen, die er nicht kannte, und anderen Zungen, die ihn undeutlich an Dialekte erinnerten, die noch in Gebrauch waren.
Der Drache. Oh, bei allen Göttern, die es nie gegeben hatte, der Drache war Wirklichkeit. Wirklich, lebendig, leibhaftig, dennoch spürte und sah er ihn. Die Silberspur führte an seinen Kiefern vorüber, durch die Lücke zwischen Zähnen und Schwanz. Mit körperlich spürbarer Willenskraft schlug er auf ihn ein. Aber er ließ sich nicht aufhalten. Keine weiteren Wächter mehr. Nur noch die Gruft. Und das menschliche Ungeheuer darin lag in Fesseln. Das Schlimmste hatte er überstanden… Der alte Teufel sollte eigentlich schlafen. Hatte die Lady nicht seinen Versuch zunichte gemacht, über Juniper zu entkommen? Hatte sie ihn nicht wieder zur Ruhe gelegt? Es war eine Gruft, wie es sie vielfach in der Welt gab. Vielleicht etwas prachtvoller ausgestattet. Die Weiße Rose hatte ihre Gegner stilvoll bestattet. Allerdings nicht in Sarkophagen. Dort. Auf jener leeren Steinplatte hatte die Lady einst gelegen. Auf der anderen lag ein schlafender Mann. Ein hochgewachsener Mann, stattlich anzusehen, aber selbst im Schlaf mit dem Zeichen der Bestie auf ihm. Mit einem Gesicht, das von glühendem Haß erfüllt war, vom Zorn über seine Niederlage. Dann waren seine Befürchtungen also grundlos. Das Ungeheuer schlief tatsächlich noch… Der Dominator setzte sich auf. Und lächelte. Es war das bösartigste Lächeln, das Corbie je gesehen hatte. Dann streckte der Untote eine Hand zur Begrüßung aus. Corbie floh. Spöttisches Gelächter folgte ihm.
Panik war ein Gefühl, mit dem er vollkommen unvertraut war. Er hatte sie selten empfunden, er konnte sie nicht beherrschen. Nur undeutlich war ihm bewußt, daß er an dem Drachen und den haßerfüllten Gespenstern der Soldaten der Weißen Rose vorbeirannte. Kaum spürte er die Kreaturen des Dominators, die vor Entzücken kreischten. Selbst in seiner Panik blieb er auf dem Nebelpfad. Er tat nur einen einzigen Fehltritt…

Doch das war genug.

Über dem Gräberland brach das Unwetter los. Es war der gewaltigste Sturm seit Menschengedenken. Blitze zuckten mit der rasenden Gewalt aufeinanderprallender Heere, Hämmer, Speere und Schwerter aus Feuer droschen auf die Erde ein. Der Wolkenbruch war vernichtend und undurchdringlich.
Ein gewaltiger Blitz schlug im Gräberland ein. Erde und Gestrüpp flogen hundert Fuß weit durch die Luft. Die Erde wankte. Die Ewige Garde bewaffnete sich hastig, entsetzt und überzeugt, daß das Böse seine Ketten gesprengt hatte. Auf dem Gräberland formten sich zwei große Gestalten aus dem Nachglühen des Blitzeinschlags, eine auf vier, die andere auf zwei Beinen. Einen Augenblick später stürmten sie auf einem gewundenen Pfad davon, ohne dabei auf Wasser oder Schlamm Spuren zu hinterlassen. Sie überschritten die Grenze des Gräberlandes und flohen zum Wald. Niemand bekam sie zu Gesicht. Als die Wache mit Waffen, Laternen und bleischwerer Angst das Gräberland erreichte, hatte der Sturm nachgelassen. Die Blitze hatten ihr prahlerisches Gefecht aufgegeben. Der Regen hatte wieder sein normales Maß erreicht. Oberst Sweet und seine Männer suchten stundenlang die Grenzen des Gräberlandes ab. Sie konnte nicht das geringste entdecken.
Die Ewige Wache kehrte unter Flüchen auf das Wetter und die Götter in ihre Kaserne zurück.
Im Obergeschoß von Corbies Haus holte Corbies Körper weiterhin alle fünf Minuten Atem. Sein Herz regte sich kaum. Ohne seinen Geist würde er sehr lange brauchen, um zu sterben.