SIEBENUNDVIERZIGSTES KAPITEL
Schatten im Schattenland

Im Gräberland gab es keine Zeit. Es gab nur Schatten und Feuer, Licht und Quelle und endlose Angst und Hilflosigkeit. Von seinem Standort, wo er in dem Netz gefangen war, das er selbst geknüpft hatte, konnte Raven etwa zwanzig Ungeheuer aus der Unterdrückung sehen. Er konnte Menschen und Tiere sehen, die zur Zeit der Weißen Rose niedergestreckt worden waren, um diese Dämonen an der Flucht zu hindern. Er konnte den Umriß des Zauberers Bomanz vor erstarrtem Drachenfeuer sehen. Der alten Magier mühte sich immer noch, einen weiteren Schritt in die Mitte des Großen Grabes zu tun. Wußte er denn nicht, daß er schon vor Generationen versagt hatte? Raven fragte sich, wie lange er hier schon gefangen war. Waren seine Botschaften angekommen? Würde Hilfe komme? Saß er hier nur die Zeit ab, bis die Finsternis explodierte?
Wenn es eine Uhr gab, die die Stunden schlug, dann war es die wachsende Unruhe jener, die gegen die Finsternis als Wache aufgestellt waren. Der Fluß fraß sich immer näher heran. Es gab nichts, was sie dagegen tun konnten. Sie hatten keine Möglichkeit, den Zorn der Welt heraufzubeschwören.
Raven dachte sich, daß er es anders angefangen hätte, wenn er damals den Befehl gehabt hätte. Undeutlich erinnerte er sich, daß andere Wesen vorbeigezogen waren, Schemen, wie er selbst einer war. Aber er wußte nicht, wie lange das her war, oder was sie waren. Ab und zu bewegte sich etwas, und man konnte nichts Genaues feststellen. Aus dieser Perspektive sah die Welt vollkommen anders aus. Noch nie war er so hilflos, so verängstigt gewesen. Dieses Gefühl gefiel ihm nicht. Stets war er Herr seines Schicksal gewesen, von niemandem abhängig… In dieser Welt gab es nichts anderes zu tun als zu denken. Viel zu ausführlich, viel zu oft, kamen seine Gedanken zu dem, was es bedeutete, Raven zu sein, zu Dingen, die Raven getan und nicht getan hatte und Dingen, die er anders hätte machen sollen. Er hatte Zeit, all jene Ängste und Qualen und Schwächen des inneren Menschen zu erkennen und ihnen zumindestens zu begegnen, die all das Eis und das Eisen und die furchtlose Maske erschaffen hatten, die er der Welt präsentiert hatte. All jene Dinge, die ihn alles gekostet hatten, was ihm lieb und teuer gewesen war und die ihn wieder und wieder um der Sühne willen in die Klauen des Todes getrieben hatten…
Zu spät. Viel zu spät.
Wenn seine Gedanken sich klärten und wieder zusammenfanden und er diesen Punkt erreichte, sandte er Wutschreie durch die Geisterwelt. Und jene um ihn herum, die ihn dafür haßten, was er hätte auslösen können, lachten und ergötzten sich an seinem Leid.