FÜNFTES KAPITEL
Die
Schreckenssteppe
Einauge kam bei mir vorbei, um zu
berichten, daß Darling Corder und den Boten befragen wollte. »Sie
macht einen gereizten Eindruck, Croaker. Hast du sie beobachtet?«
»Ich beobachte sie. Ich gebe ihr Ratschläge. Sie achtet nicht
darauf. Was kann ich sonst tun?«
»Wir haben noch zwanzig Jahre und ein paar zerquetschte, bis der
Komet wieder auftaucht. Es hat wenig Sinn, daß sie sich zu Tode
arbeitet, oder?« »Sag ihr das doch.
Mir sagt sie bloß, daß sich die ganze
Sache lange vor dem nächsten Erscheinen des Kometen erledigt haben
wird. Daß es ein Wettlauf gegen die Zeit werden wird.«
Das glaubt sie wirklich. Aber wir anderen schaffen es nicht, uns
von ihrem Feuer anstecken zu lassen. Hier in der Isolation auf der
Schreckenssteppe, abgeschnitten vom Rest der Welt, scheint der
Kampf gegen die Lady irgendwie an Bedeutung zu verlieren. Die
Steppe selbst ist es, die unsere Aufmerksamkeit nur allzuoft auf
sich zieht. Ich bemerkte, daß ich Einauge hinter mir gelassen
hatte. Dieses vorzeitige Begräbnis hat ihm nicht gut getan. Ohne
seine Fähigkeiten ist er körperlich schwächer geworden. Allmählich
zeigt sich sein wahres Alter. Ich ließ ihn wieder aufholen. »Hat
dir und Goblin euer Abenteuer Spaß gemacht?« Er wußte nicht, ob er
nun feixen oder düster dreinschauen sollte. »Er hat’s dir wieder
gezeigt, oder?« Ihr Streit dauert schon seit dem Anbeginn der Zeit.
Einauge fängt ihn für gewöhnlich an. Und Goblin bringt ihn für
gewöhnlich zu Ende. Er knurrte etwas.
»Was?«
»Ho!« brüllte jemand. »Alle nach oben! Alarm! Alarm!« Einauge
spuckte angewidert aus. »Zweimal an einem Tag? Was soll das,
verdammt noch mal?«
Ich wußte, was er meinte. In den gesamten zwei Jahren hier draußen
hatten wir keine zwanzig Alarme gehabt. Und jetzt gleich zwei an
einem Tag? Unwahrscheinlich. Ich flitzte wieder hinein, um meinen
Bogen zu holen. Dieses Mal rückten wir mit weit weniger Geklapper
aus. Elmo hatte in einigen intimen Unterhaltungen sein Mißfallen
auf schmerzhafte Weise zum Ausdruck gebracht. Wieder Sonnenlicht.
Das auf uns regelrecht eindrosch. Der Ausgang des Lochs führte
nach
Westen. Als wir herauskamen, schien die
Sonne uns in die Augen.
»Du verdammter Narr!« brüllte Elmo gerade. »Was zur Hölle machst du
da eigentlich?« Ein junger Soldat stand im Freien und zeigte in die
Höhe. Mein Blick folgte der angezeigten Richtung.
»Oh, verflucht«, hauchte ich. »Doppelt verflucht.« Einauge hatte es
auch gesehen. »Unterworfene.« Der schwebende Punkt kam näher,
umkreiste unser Versteck, kam in einer Spirale immer näher.
Plötzlich wackelte er.
»Jawoll. Unterworfene. Wisper oder Journey?« »Ist doch immer wieder
schön, alte Freunde wiederzusehen«, sagte Goblin, als er zu uns
aufschloß.
Seit unserer Ankunft auf der Steppe hatten wir die Unterworfenen
nicht mehr zu Gesicht bekommen. Davor hatten sie uns im Nacken
gehockt, hatten uns während der ganzen vier Jahre gehetzt, die wir
gebraucht hatten, um von Juniper hierherzukommen. Sie sind die
Satrapen der Lady, ihre Schüler in den Wissenschaften des
Schreckens. Einst waren es zehn. Zur Zeit der Unterdrückung hatten
die Lady und ihr Gatte ihre mächtigsten Zeitgenossen versklavt und
sie zu ihren Werkzeugen, den Zehn Unterworfenen, gemacht. Als die
Weiße Rose den Dominator vor vier Jahrhunderten besiegte, gingen
die Unterworfenen mit ihren Herren unter die Erde. Und vor zwei
Kometendurchgängen standen sie mit der Lady wieder auf. Und bei den
Kämpfen, die sie untereinander führten - denn einige waren dem
Dominator treu geblieben -, wurden die meisten vernichtet. Aber die
Lady holte sich neue Sklaven. Feder. Wisper. Journey. Feder und der
letzte des alten Schlages, der Hinker, fielen bei Juniper, als wir
den Wiederauferstehungsversuch des Dominators vereitelten. Zwei
sind noch übrig. Wisper. Journey. Der fliegende Teppich wackelte
deshalb, weil er an den Rand jener Zone angekommen war, in der
Darlings Null-Feld seinen Auftrieb aufzuheben vermochte. Der
Unterworfene drehte ab, stürzte in die Außenbereiche und gewann
genug Abstand, um die vollständige Herrschaft über sein Gefährt
zurückzuerlangen. »Schade, daß er nicht direkt auf uns angeflogen
ist«, sagte ich. »Dann wäre er wie ein Stein abgestürzt.« »Die sind
ja nicht blöde«, sagte Goblin. »Sie kundschaften uns nur ein wenig
aus.« Er schüttelte den Kopf und erschauerte.
Er wußte etwas, das ich nicht wußte. Wahrscheinlich etwas, das er
auf seinem Erkundungszug über die Steppe hinaus erfahren hatte.
»Kommt der Feldzug allmählich in Gang?« fragte ich. »Ja. Was machst
du da eigentlich, Fledermausgesicht?« fauchte er Einauge an. »Paß
gefälligst auf.«
Der kleine Schwarze achtete gar nicht auf den Unterworfenen. Er
starrte die verwitterten Klippen südlich von uns an.
»Unsere Aufgabe besteht darin, am Leben
zu bleiben«, sagte Einauge so selbstgefällig, daß
ich sofort wußte, daß er Goblin mit etwas ärgern wollte. »Und das
bedeutet, daß man nicht von der ersten Volksschau abgelenkt wird,
die einem vorgeführt wird.« »Und was zur Hölle soll das nun wieder
heißen?« »Das heißt, während ihr anderen diesen Komiker dort oben
angeglotzt habt, ist ein anderer hinter den Steilhängen gelandet
und hat jemanden dort abgesetzt.« Goblin und ich starrten zu den
roten Klippen. Wir konnten nichts erkennen. »Zu spät«, sagte
Einauge. »Er ist schon wieder weg. Aber ich denke mal, daß jemand
losziehen und sich diesen Spitzel greifen sollte.« Ich glaubte
Einauge. »Elmo! Komm mal her.« Ich erklärte die Lage. »Jetzt kommen
sie wieder in Bewegung«, murmelte er. »Und ich hatte schon gehofft,
daß sie uns vergessen hätten.«
»Oh, das haben sie nicht«, sagte Goblin. »Das haben sie ganz
entschieden nicht.« Und wieder hatte ich das Gefühl, daß er etwas
auf dem Herzen hatte. Elmo musterte das Gelände zwischen uns und
den Klippen. Er kannte es gut. Wie wir alle. Eines Tages mochte
vielleicht unser Leben davon abhängen, daß wir es besser kannten
als diejenigen, die hinter uns her waren. »In Ordnung«, sagte er.
»Ich sehe ihn. Ich nehme vier Mann mit. Aber zuerst sage ich dem
Leutnant Bescheid.« Der Leutnant kommt nicht nach oben, wenn Alarm
gegeben wird. Er und zwei weitere Männer haben ihr Lager im Eingang
zu Darlings Unterkunft aufgeschlagen. Falls der Gegner jemals zu
Darling durchkommt, wird das nur über ihre Leichen passieren. Der
fliegende Teppich zog nach Westen ab. Ich fragte mich, warum die
Geschöpfe der Steppe ihn nicht angegriffen hatten. Ich ging zu dem
Menhir, der mich vorher angesprochen hatte, und stellte ihm diese
Frage. Anstatt zu antworten, sagte er: »Jetzt beginnt es, Croaker.
Behalte diesen Tag im Gedächtnis.«
»Jawoll. In Ordnung.« Und ich nenne diesen Tag in der Tat den
Anfang von allem, obgleich Teile davon schon Jahre zuvor begonnen
hatten. Dies war der Tag, an dem der erste Brief eintraf, der Tag
der Unterworfenen und der Tag von Tracker und Köter Krötenkiller.
Der Menhir hatte noch etwas zu sagen. »Fremde sind auf der Steppe.«
Dazu, daß die verschiedenen Fluggeschöpfe den Unterworfenen keinen
Widerstand geleistet hatten, wollte er nichts sagen.
Elmo kam zurück. Ich sagte: »Der Menhir meint, daß wir vielleicht
noch mehr Besucher kriegen könnten.«
Elmo hob eine Augenbraue. »Du und Schweiger, ihr habt die nächsten
beiden Wachen?« »Ja.«
»Paßt gut auf. Goblin. Einauge. Kommt her.« Sie steckten die Köpfe
zusammen. Dann suchte Elmo sich vier Jüngelchen zusammen und ging
mit ihnen auf die Jagd.