ZWEIUNDZWANZIG

~ Unsere Helden in der Dunkelheit ~

Maia sah den weißen Blitz nicht, sondern spürte ihn hinter ihren geschlossenen Augenlidern, und hörte dann ein lautes, berstendes Geräusch. Corvindales Arme waren um sie geschlungen, und plötzlich fielen sie, kopfüber, ins Nichts.

Sie landeten auf einem harten, kalten Untergrund, aber ohne hart aufzuschlagen. Hustend wischte sich Maia den Schmutz aus den Augen und kämpfte sich aus Corvindales Umarmung frei und stellte fest, sie konnte atmen. 

Sie brauchte nur einen Augenblick, um festzustellen, dass sie durch die Decke des brennenden Gebäudes gefallen waren und sich jetzt in einer Art Keller befanden. Über ihnen tobte das Feuer und würde schon bald den Rest der Decke niederbrennen, aber im Moment waren sie sicher vor dem Rauch und dem Feuer. Es überraschte sie nicht, dass sich jetzt auch noch der Gestank von Exkrementen zu dem von Rauch und brennendem Holz gesellte, und sie vermutete, dass sich eine Kloake in der Nähe befand, denn das war meist der Zweck solcher Keller. Aber vielleicht, lieber Gott, gab es hier auch einen Ausgang.

Wie auch immer, Hauptsache, sie waren dem Feuer erst einmal entkommen. Wie durch ein Wunder, in Sicherheit. Zumindest für den Augenblick.

Nur ... Corvindale bewegte sich nicht. 

Maia kroch wieder zu ihm hin, zerrte an seinem rußgeschwärzten Arm und berührte sein verschwitztes, schmutziges Gesicht. Das Licht war ziemlich trübe, aber das Feuer von oben warf einen gelblichen Schimmer herab, und als seine Augenlider flatterten, und sein Kopf sich bewegte, hätte sie vor Erleichterung weinen können.

„Corvindale“, sagte sie und rüttelte ihn energisch. „Wir müssen hier einen Weg hinausfinden.“

Er stöhnte, und in dem trüben Licht sah sie, dass er die Augen geöffnet hatte. „Maia“, murmelte er mit einer Stimme ganz heiser vor Rauch. „Es tut mir Leid.“

„Für Entschuldigungen ist später Zeit“, sagte sie und zuckte zusammen, als von oben ein unheilvolles Gepolter zu hören war. Ein Stück brach aus den Holzdielen über ihnen und fiel herab, landete in der Nähe und machte das Loch dort oben noch größer. „Wir müssen hier einen Weg hinaus finden, schnell. Jetzt.“

Er war zu groß, um in dem kleinen, engen Raum aufrecht stehen zu können, aber gebückt zog er sie an sich, drückte ihr einen schnellen, zärtlichen Kuss auf den Mund und nahm sie dann fest in seine Arme. Sie spürte, wie seine Arme und sein Oberkörper zitterten, und atmete den Duft seiner salzigen, verrußten, männlichen Haut ein, vergrub ihr Gesicht in dem dichten, kratzigen Haar auf seiner Brust. 

Einen Moment später ließ er sie los und, während er ihren Arm immer noch festhielt, sah er sich um. Aber Maia hatte schon beobachtet, wie die Rauchschwaden zu einer bestimmten Ecke zu wandern schienen.

„Da“, sagte sie ihm, genau in dem Moment als auch er in die Ecke dort zeigte, und sagte, „dort entlang.“

Sein Arm stützte sie, als sie sich ihren Weg bahnten, sich von dem kleinen Lichtkegel entfernten und in die Dunkelheit eintraten. Es war wie schwarze Tinte um sie, eng und feucht und klein. Maia ekelte sich. Etwas Pelziges rannte an ihrem Fuß vorbei, und einmal trat sie auf etwas, was zermatschte aber sich auch wand, aber sie unterdrückte ihre spitzen Schreie und kämpfte sich weiter voran, wobei sie Corvindales Arm fest umklammert hielt. 

Ihre Gedanken waren ein einziger Tumult, der aus so vielen Fragen und Eindrücken bestand, dass sie sich nicht darauf einlassen konnte, sondern sich lediglich darauf konzentrierte, hier hinaus zu gelangen. Wenn sie in Sicherheit waren, würde sie da Ordnung hineinbringen und mit dem Mann zusammen sein, den sie liebte.

Und der sie auch liebte.

Und diesen Gedanken konnte sie nicht unterdrücken, und eine wunderbare Wärme blühte in ihr auf, in all ihren Gliedern, gaben ihren wackeligen Beinen und ihrem geschundenen Körper Kraft. Sie würde hier hinausgelangen. Denn Corvindale – Dimitri Gavril, der Earl von Corvindale – liebte sie. 

Endlich veränderte sich die Luft, und der Hauch einer kleinen Brise kam ihnen entgegen. Sie waren dicht davor. Die tiefe Dunkelheit gab allmählich graue Schemen frei, die immer deutlicher vortraten und zu erkennen waren, je weiter sie gingen.

Ein kleines Platschen verriet ihr, dass sie Wasser gefunden hatten, und zuerst war sie besorgt, ob es sich um einen Abwasserkanal handelte. Aber der damit verbundene Gestank fehlte, und als das Wasser tiefer wurde, und ihr bis an die Knöchel ging, stellte sie fest, dass es ein recht sauberer Strom war, der von der nahe gelegenen Werft hier entlang strömte. 

Sie wateten nun durch Wasser, das ihr fast bis zur Hüfte ging, geführt vom Licht, umschifften blind unebene Steine mit ihren glitschigen Algen in dem Fluss. Einer der Steine gab plötzlich nach, verschob sich gegen die anderen, und ließ sie stolpern und versinken, das Wasser stand Maia jetzt bis zu den Schultern.

Maia konnte schwimmen, und das unerwartete Bad kam ihr auch nicht ganz ungelegen. Als sie wieder auftauchte, ihr tropfnasses Haar im Gesicht, fühlte sie sich etwas erfrischt und sauberer. Sie tauchte wieder unter, froh darüber, die Reste von Blut und Rauch abzuwaschen, und damit auch das Gefühl von brutalen Lippen und Reißzähnen. Erleichterung überkam sie, als auch Corvindale wieder auftauchte und sich das nasse Haar mit einem raschen Schlenker seines Kopfes aus dem Gesicht warf. 

„Bist du verletzt?“, fragte er und griff nach ihrer Hand, als sie einen stabilen Stein gefunden hatte, auf dem sie dann stand. Das Licht wurde jetzt immer stärker. Oben musste die Sonne schon aufgehen.

„Es fühlt sich gut an“, sagte sie, ihre Stimme immer noch heiser von dem Rauch. „Das Wasser war erfrischend.“

„Das ist eine Sache, über die nicht einmal ich mich mit dir streiten kann“, erwiderte er, und seine Hände lagen auf ihren Schultern. „Maia, es tut mir Leid. Alles, was geschehen ist.“

Sie konnte nun erkennen, wie das Wasser ihm von Brauen und Haar tropfte, und den seltsamen Gesichtsausdruck. „Was ist? Ist etwas nicht in Ordnung?“

Sie konnte es nicht verstehen, begriff nicht, warum er so niedergeschlagen aussah. Sie waren dem Feuer entkommen, waren fast frei, er hatte seine Gefühle für sie zugegeben, und ganz sicher wusste er, wie sie zu ihm stand. Warum sah er aus, als ob etwas Schreckliches geschehen wäre?

Und jenseits von alledem war sie sich auch sicher, dass dort in dem Feuer etwas wie ein Wunder geschehen war. Sie wusste, dass Voss wieder sterblich geworden war, nach einem schrecklichen Zwischenfall, in den auch Angelica verwickelt gewesen war, und ein Teil von ihr glaubte – und hoffte – das Gleiche sei auch Corvindale passiert.

Wie hätte er sich sonst ihr nähern können, dort, komplett in Rubine eingewickelt?

Wenige Augenblicke, bevor er sie losgebunden hatte, hatte sie ihn gesehen, wie er mit unglaublichen, maßlosen Schmerzen kämpfte und focht, vor grenzenloser Pein schrie ... und dann auf dem Boden mitten im Feuer zusammenbrach. Sie hatte ein Aufzucken von Dunkelheit gesehen, ein Lichtstrahl, eine Art von glühender, zischender Explosion, als er dort regungslos lag. 

Sie hatte gedacht, er wäre tot.

Und dann war er wieder erwacht und zu ihr gekommen.

„Maia“, sagte er noch einmal, als könnte er ihren Namen gar nicht oft genug aussprechen. „Ich liebe dich. Aber ich kann nicht...“ Er unterbrach sich, zog sie an seinen warmen, nassen Körper, bedeckte ihren Mund mit seinem. Sie kam ihm begierig entgegen, schmeckte kühles, frisches Wasser und fühlte, wie es zwischen ihnen runtertropfte, in ihre Kleider tropfte, und wie seine Hitze in sie hineinströmte. Ihre Hände hatte sie ihm an die breite, starke Brust gelegt, wo sie durch das dunkle Haar dort glitten und über seine Schultern. 

Seine Lippen waren weich, zärtlich und bedürftig, passten sich ihren an, knabberten und liebkosten mit großer Zärtlichkeit, in der auch eine Verzweiflung mitschwang. Die Arroganz und das Selbstvertrauen der früheren Küsse war verschwunden... Das hier fühlte sich an wie die Entschuldigung, die er am anderen Tag versucht hatte. Und wie eine Trennung, ein Abschied.

Das war nicht er. Das war nicht der Earl, der sich nahm, was er wollte, zu seinen Bedingungen. Der jede Art von Weichheit oder Zärtlichkeit von sich wies. 

„Corvindale“, sagte sie und löste sich von ihm, um ihn anzusehen. „Gavril. Was ist passiert?“

Sein Gesicht war feucht, seine Augen verschleiert. „Dort drinnen ist etwas passiert, Maia. Etwas ... Schreckliches.“ Er blickte zu dem Licht, das jetzt noch stärker schien.

Sie konnte dort einen Felsvorsprung erkennen und begriff, dass der Tunnel und der Fluss dort eine Biegung machten, und dass sie dort in Sicherheit wären. Entkommen waren. Und es war Tag. Es würden keine Vampire auf sie warten. Sie würde für Gavril einen Mantel oder einen ähnlichen Schutz finden ... wenn es sein musste. 

Er zog sie zu dem Ufer des Untergrundstroms, wo das Wasser ihr nur noch bis zu den Knien ging und setzte sie auf einen ausladenden Stein, er stand neben ihr, das Wasser rann ihm in kleinen Bächen am Gesicht entlang und tropfte ins Wasser darunter.

„Ich konnte nicht zu dir gelangen. Sie – Lerina – wusste das, sie wusste, ich wäre nicht in der Lage, nachdem ich das Feuer erst einmal überwunden hatte. Das ist etwas, was vielleicht nicht einmal du weißt, Maia. Liebste“, sagte er, und der Schatten eines liebevollen Lächelns lag ihm um den Mund. Aber nur kurz, dann war es schon verschwunden, und der harte, unnachgiebige Earl aus Stein war wieder da. „Den Drakule kann Feuer nichts anhaben. Also wusste, sie, ich konnte dich finden ... und dann wusste sie auch, dass ich nichts mehr tun könnte, wenn ich den Rubinen begegnete. Sie wollte, dass ich dir beim Sterben zusehe. Sie wusste, noch bevor ich selbst es mir eingestanden hatte, dass ich dich liebe.“

„Aber du bist zu mir gekommen“, sagte sie und streckte die Hand aus, um seine Wange zu berühren, sicher. Sie erinnerte sich an eine ruhige Präsenz dort, etwas, die sich während dieses ganzen Kampfs sanft um sie gelegt hatte, nachdem sie aufgewacht war und gesehen hatte, wie er auf sie zugekrochen kam. Alles wird gut, hatte eine Stimme in ihrem Kopf gesagt. Die Kraft schien in dem Raum zu schweben, hielt das Feuer von ihnen fern und den Rauch davon ab, zu dicht zu werden. Sie war blass und golden und friedvoll gewesen.

„Du bist an den Rubinen vorbeigekommen“, sagte sie. „Etwas ist passiert ... ich habe es gesehen. Da war ein heller Blitz, wie eine Explosion, oder wie wenn ein Blitz einschlägt.“

Eine Grimasse verzerrte kurz sein Gesicht, und er schloss für einen Augenblick die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah sie, dass sie ausdruckslos und dunkel waren. Leer. „Ich habe den Pakt gelöst. Ich habe mich von Luzifer losgesagt und bin sterblich geworden.“

Freude packte sie ... und verschwand dann wieder. Warum war er immer noch so niedergeschlagen, trostlos? „Ist es nicht, was du immer gewollt hast? Ist da noch etwas?“

Was wenn er, indem er Luzifers Pakt aufkündigte, dann andere Dinge auf sich nehmen musste? Wie ... zu sterben? Was, wenn es hier eine Art von Strafe gäbe?

„Ja, das ist, was ich immer gewollt habe. Bis ich begriff, dass ich ... dass ich dich nicht retten konnte. Ich hatte meine Seele gerettet, aber ich konnte dich nicht retten. Wir saßen dort in der Falle, und der einzige Weg, wie ich dich dort herausbekommen konnte, war, wieder unsterblich zu werden. Mich wieder an Ihn zu ketten.“

Maia stockte der Atem, und das Herz hämmerte ihr. „Du...“ Sie bekam die Worte nicht heraus, sie konnte es kaum fassen. „Du bist zu ihm zurückgegangen ... um mich zu retten?“ Grausiges Entsetzen machte, dass sie ihn an den Schultern packte, ihre Finger krallten sich in die Muskeln, als sie zu ihm hochstarrte, ungläubig. „Nein, nein, das würdest du nicht tun ... das kannst du nicht getan haben. Du wusstest, was es bedeutet.“

Sein Gesicht war zu Stein geworden, sein Gesicht verriet keinerlei Gefühl. „Maia, ich musste es tun. Ich konnte dich nicht sterben lassen.“

„Wir müssen alle sterben, Corvindale. Wir müssen alle sterben. Wie konntest du deine Seele für ... mich hingeben?“

Unter ihren Händen zuckte er mit seinen breiten Schultern, sein Gesicht gelassen. Aber seine Augen waren jetzt deutlich zu sehen, in dem Sonnenlicht, das von hinter der Kurve zu ihnen drang, und sie sah seine Gefühle darin nur zu deutlich. Brennen. „Wenn man die wahre Liebe findet, dann tut man alles, um sie zu beschützen.“

Sie schüttelte ihren Kopf, mit Tränen in den Augen. Das letzte bisschen Erleichterung und Freude war versickert, und jetzt legte sich eine zentnerschwere Last auf ihre Brust. 

„Und daher“, sagte er, seine Stimme jetzt wieder ausdruckslos und Earl-isch, „werde ich nicht mit dir dort hinausgehen.“ Seine Hand zeigte zum Licht. 

„Corvindale“, setzte sie an, aber er hielt eine Hand hoch, um sie zu unterbrechen.

„Bitte“, sagte er, „nur dieses eine Mal, bitte streite nicht mit mir. Maia.“

Sie nickte und zog ihn dann zu sich runter für einen weiteren Kuss. Ihre Finger glitten über seine Brust, hinauf an den starken Halssehnen, als er sie mit seinem Körper gegen den feuchten Stein drückte. Dieses scharfe Prickeln der Lust entfaltete sich in ihrem Bauch und wanderte hinunter, breitete sich aus, aber begleitet von Trauer.

Ihre Finger vergruben sich in seinem Haar, glitten an seinem Hals und seinen Schultern entlang ... und dann hörte sie abrupt auf. Löste sich, ihr Herz hämmerte. 

„Dreh dich um“, sagte sie und rückte gegen ihn. „Dreh dich um, Corvindale.“

Er runzelte die Stirn, sein Gesicht verfinsterte sich, wurde aber wieder milde, als er sich umdrehte, eine seiner Hände wanderten hoch, um sich an das Schulterblatt zu greifen.

„Es ist verschwunden“, sagte sie und strich ihm mit der Hand über den glatten Rücken. „Das Zeichen, es ist verschwunden.“

„Unmöglich“, sagte er, sein Gesicht fassungslos. „Das kann nicht sein. Ich habe mich hingegeben, ich habe ihn zu mir zurückgerufen. Er hob die Hand, um mich zu berühren–“ Dann stockte er. „Sie hat ihn aufgehalten.“ Er schaute in die Ferne, seine Augen suchten dort etwas, was Maia nicht sehen konnte. Sein Atem veränderte sich, wurde rauher, schneller. „Sie war nicht zu spät“, flüsterte er. „Sie hat ihm Einhalt geboten.“

Und dann, für das erste Mal, an das sich Maia überhaupt erinnern konnte, wurde sie Zeugin, wie der Earl von Corvindale lächelte.