ACHT
~ Von bissigen Hunden, fauchenden Katzen und korrektem Satzbau ~
Maia hatte so viele Fragen, dass sie Mühe hatte, ihre Gedanken zu ordnen, bevor sie einen davon herausgreifen konnte.
Aber als sie in Corvindales Landauer stieg – denn er hatte ihr in scharfem Ton verboten, eine Droschke anzuheuern, um vom White’s nach Hause zu gelangen, und für eine Diskussion über Anstand und gute Sitten war sie zu so später Stunde schlicht zu erschöpft – und ihm gegenüber Platz genommen hatte, in dem Moment waren ihre wirren Überlegungen und konfusen Gedanken wie zerstoben, und es blieb ein einziger Gedanke zurück: er.
Die Tür schloss sich, und wie schon eine Woche zuvor waren sie alleine in dem Gefährt. Auf seiner Seite schien Corvindale die ganze Breite der Sitzbank einzunehmen, seine langen Beine waren zur einen Seite ausgestreckt, und die Mantelaufschläge seines Nerzmantels waren weit zurückgeschlagen, wie das Gefieder eines Vogels, der sich aufplustert, um größer zu erscheinen. Seine Arme lagen ausgestreckt auf der Rückenlehne, seine Hände baumelten nonchalant. Seine dunklen Haare, die wie immer etwas wild aussahen, kringelten sich um seine Ohren und Schläfen.
Die Situation schien ihm wenig zu behagen. Aber das war nichts Neues. Seit Maia ihn kannte, sah er niemals zufrieden aus, ja, nicht einmal behaglich. Aber da war noch etwas an ihm, was ihr auffiel. Etwas anderes.
Eine Art von Wachsamkeit, wie ein großer, bissiger Hund, der von einem Kätzchen in die Enge getrieben wurde.
Maia betrachtete sich hier als das Kätzchen, und selbst bei aller Erschöpfung und Müdigkeit dachte sie bei sich, dass ihr dieses Bild recht gut gefiel. Und da sie nun einmal das Kätzchen war, wollte sie ihre Krallen zeigen – so klein und nichtig die auch sein mochten.
„Und Sie sind also auch ein Vampyr“, sagte sie und zupfte missbilligend ihre Röcke zurecht, so dass nicht mal ihre Schuhspitzen zu sehen waren. Sie würde jetzt nicht darüber nachdenken, in welchem Zustand sich ihr Rocksaum oder die Schuhe befanden. Oder wie ihre Haare aussahen. Auf ihre ruhige, beherrschte Art fauchte und spuckte sie jetzt, während sie versuchte, nicht völlig außer sich zu geraten, weil ihr Bruder beschlossen hatte, sie zum Mündel eines Vampyrs zu machen.
„Der richtige Ausdruck ist Drakule. Oder, wenn Sie unbedingt auf dem archaischen Wort ‚Vampyr‘ bestehen, würde ich es vorziehen, wenn Sie die englische Aussprache – ‚Vampir‘ – verwenden würden, anstatt sich an Ungarisch zu versuchen. Ihr Akzent lässt etwas zu wünschen übrig.“ Er sah vollkommen gelangweilt aus, als würde ihn abgesehen von ihrer Aussprache nichts auf der Welt bekümmern, und er versenkte sich in das, was auch immer dort draußen vor dem Kutschenfenster so faszinierend sein mochte.
Aber obwohl er zum Fenster hinausschaute, beobachtete er sie. Ganz besonders dann, wenn sie ihn gerade nicht direkt anschaute. Sie fühlte seinen Blick auf sich wie eine dicke Decke über ihren Schultern. Warm und schwer. Aber durchaus nicht unangenehm.
„Nun gut“, erwiderte sie und sprach ihre Worte betont klar und deutlich aus, „Sie sind also ein Vampir, Lord Corvindale, und ich habe eine Reihe von Fragen–“
„Nur eine Reihe? Ich hatte eine Sintflut von Fragen erwartet. Oder zumindest zwei Dutzend?“
Maia musste an sich halten, um sich das kleine Lachen zu verkneifen, das sie angesichts der unerwarteten Leichtigkeit überkam, die seiner sonstigen Art so ganz und gar nicht entsprach. Oder vielleicht war es ja gar kein Scherz, sondern er meinte es im Gegenteil sehr ernst. Aus den Augenwinkeln betrachtete sie ihn und bemerkte seine Hand, die ohne Handschuh auf der Lehne ruhte und seine starken Handgelenke sehen ließ. Sie erschauerte leicht und sprang etwas hoch, immer wenn die Kutsche einen Ruckler tat.
Wie der Zufall es wollte, schien der Mond oder eine nahegelegene Straßenlaterne genau darauf, und Maia betrachtete fasziniert diese große, lange Extremität. Lange, kräftige Finger, auf denen sich die angespannten Sehnen schwach abzeichneten, die Rundung eines breiten Daumens und gepflegte Fingernägel. Sie sah nicht oft eine Männerhand einfach so – natürlich die von Chas oder ihrem Vater, als sie noch jung war, and dann ja auch noch die von Alexander. Aber Lord Corvindales Hand schien ihr ausgesprochen kräftig und wohlgeformt. Selbst dort drüben, wo sie ruhig und mit leicht gekrümmten Fingern nur da lag, schien eine magische Kraft von ihr auszugehen.
Sie wurde erinnert an ... Maia stockte der Atem, der Magen flatterte ihr plötzlich, und ihr Mund wurde ganz trocken ... sie wurde erinnert an die Hände aus ihren Träumen. Sie konnte sich vorstellen, wie sie über ihre weiße Haut wanderten, groß und kraftvoll...
„Nun?“
Blitzschnell waren Maias Augen wieder bei Corvindale, und sie schluckte, versuchte, wieder den Anschluss an das Gespräch zu finden. Dann fiel es ihr wieder ein. Sie hatte eine Reihe von Fragen an ihn.
Aber sie würde mit derjenigen anfangen, die ihr am meisten auf die Seele drückte. „Glauben Sie wirklich, dass Lord Dewhurst Angelica retten kann?“ Sie war nicht ganz in der Lage, die Sorge in ihrer Stimme zu verbergen.
Er schien sich etwas zu entspannen, seine Finger lockerten sich noch etwas mehr. „Voss – ehem, Dewhurst – ist nicht jemand, den ich persönlich sehr schätze“, begann er mit einem echten Understatement, „aber seine Argumente waren stichhaltig, und ich glaube, es wird dem Mann gelingen, allein schon aus dem Grund, weil er überaus manipulativ und hinterlistig ist. Und auch, das muss man hinzufügen, intelligent und einfallsreich. Wenn er auch nicht sonderlich viel Verantwortungsgefühl mitbringt. Abgesehen davon hat Moldavi keinen Grund, bei Voss irgendeinen Hinterhalt zu vermuten, wenn er sie also nicht findet, bevor sie in Paris eintreffen, dann stehen die Chancen sehr gut, dass er Zutritt zu Moldavi erhalten wird. Und außerdem ist Ihr Bruder Dewhurst ja auch auf den Fersen. Sollte es Dewhurst also nicht gelingen, wird Chas nicht zögern, alles zu tun, damit Angelica freikommt.“
Maia blinzelte. Sie konnte es kaum glauben, aber nicht nur hatte er ihr tatsächlich die Informationen gegeben, um die sie gebeten hatte, er hatte sogar in einem normalen Tonfall gesprochen. „Ich halte große Stücke auf Ihre Meinung“, schaffte sie noch zu sagen.
Als einzige Reaktion kamen von ihm hochgezogene Augenbrauen und ein überheblicher Blick, seine lange Nase zu ihr herab.
Also fuhr sie fort. „Chas scheint zu denken, dass man Angelica nichts tun wird, zumindest bis dieser Vampir sie bei Moldavi abliefert. Ist das auch Ihre Meinung?“
„Ja.“
Maia musste hier einfach lächeln, eigentlich aus purer Erleichterung. „Es fällt mir schwer zu glauben, Mylord, dass wir eine zivilisierte Unterhaltung führen.“ Sie merkte, dass ihre eigenen Hände, ebenfalls ohne Handschuhe, aufgehört hatten, an ihrem Kleid und ihrem Mantel herumzuzupfen.
„Das“, sagte er und setzte sich zurecht, wobei seine langen Beine kurz ihren Rock unten streiften, „liegt daran, dass Sie vernünftige Fragen stellen. In einem vernünftigen Ton. Obwohl ich auch noch mal darauf hinweisen möchte, wenn Sie wie jede andere vernünftige Frau zu Hause geblieben wären, würden wir diese Unterhaltung gar nicht erst führen. Ob nun zivilisiert oder nicht.“
Sie wollte schon etwas erwidern, aber dann fiel ihr ein, dass sie ja noch weitere Informationen von ihm haben wollte – und jetzt, da man ihr versichert hatte, dass Angelica bald in Sicherheit wäre, hielt sie es für besser, ihn nicht unnötig zu verärgern. Auch wenn sie gar nicht wusste, was sie in der Vergangenheit denn getan hatte, um ihn zu verärgern, und es schon allein deswegen schwer sein würde, ihn nicht wieder zu verärgern.
„Und Sie sind also ein Vampir, und mein Bruder ist ein Vampirjäger? Und Sie sind befreundet? Er arbeitet für Sie?“
„Zugegebenermaßen etwas ungewöhnlich, aber dennoch entspricht das der Wahrheit.“
„Aber wie ist das möglich? Sind Sie nicht – nun, Todfeinde?“
Seine Augenwinkel kräuselten sich etwas, was Maia deutete, er sehe hier jetzt eine humoristische Seite der Angelegenheit. Erstaunlich. Zweimal an einem Abend; sogar innerhalb einer Stunde?
„Wer von uns beiden klingt denn nun melodramatisch? Wie einer von Mrs. Radcliffes Romanen, Miss Woodmore?“, fragte er, beinahe spöttisch.
In ihr flatterte etwas, denn seine Stimme war jetzt viel tiefer. Sie konnte sie kaum hören unter all den Geräuschen der fahrenden Kutsche und den Rädern. Draußen war sonst nichts zu hören, und sie stellte erschrocken fest, wie spät es schon war. Fast Morgen.
„Nun?“, hakte sie kurz angebunden nach. Wobei ihr gleich einfiel, trotz all ihrer Wut über die Lage: er war immerhin ein Earl des Königreichs. Und obendrein ein vampirischer – gab es das Wort überhaupt? Sie traute sich nicht, ihn zu fragen, obschon er sicherlich eine Meinung dazu hatte, ganz bestimmt. Und ihre Art und Weise kannte er ja nun auch schon zur Genüge.
Er setzte sich wieder zurecht, strich über seine Mantelumschläge und fuhr sich kurz durchs Haar, was eine überraschend liebenswerte Geste war. „Ich werde einen recht komplizierten Sachverhalt so einfach erklären, wie ich nur kann, Miss Woodmore“, sagte er.
„Zerbrechen Sie sich bitte nicht den Kopf, ob mein Verstand hier ausreicht.“ Das Kätzchen hatte wieder die kleinen Krallen ausgefahren. „Ich bin durchaus in der Lage, jeden Sachverhalt, den Sie mir zu beschreiben belieben, zu verstehen. Ich war es, die Chas die Geometrie und das Griechisch beigebracht hat.“ Und leicht war die Aufgabe nicht gewesen, da Griechisch für sie genauso schwer gewesen war. Aber vor Chas hätte sie das nie zugegeben.
„Ist dem so? Nun gut, also dann“, setzte er an. Und das verräterische Kräuseln in seinen Augenwinkeln war wieder da, sogar seine Mundwinkel schienen nach oben zu wandern. „Ich habe einige geschäftliche Interessen auf dem Festland und im Fernen Osten, und einige wenige auch in der Neuen Welt. Und wie es so ist mit den Reichen und Mächtigen, habe auch ich reichlich Feinde–“
„Das kann ich mir nicht vorstellen“, murmelte Maia
„–die jede Gelegenheit ergreifen würden, um meinen Geschäften zu schaden, oder sie ganz zu vernichten, oder sonst was“, fuhr er fort, als hätte sie nichts gesagt. Aber sein Blick war etwas schärfer geworden, und sie wusste: er hatte sie gehört. „Viele von diesen Feinden sind Mitglieder der Drakulia, und dann sind es auch noch einige Sterbliche. Ihr Bruder fungiert als mein Agent oder Strohmann und, falls erforderlich, wird er – ehem – unerwünschte Individuen davon – ehem – abhalten, weiteren Schaden anzurichten. Er hilft mir auch bei der Zusammenarbeit mit einigen meiner anderen Geschäftspartner, die ebenfalls Drakule sind.“
„Wollen Sie mir damit etwa sagen, dass mein Bruder ein von Ihnen gedungener Mörder ist?“, warf Maia mit großen Augen ein. „Er tötet Leute?“ Sie glaubte, gleich in Ohnmacht zu fallen. Das Herz hämmerte ihr in der Brust, ein ganz und gar hässliches Klopfen, das sie bis in den Magen spüren konnte, der gerade auch zu rebellieren drohte.
Mama und Papa ... was würdet ihr nur denken, wenn ihr hiervon wüsstet? Oh, Chas, in was bist du da hineingeraten?
„Nicht Leute, Miss Woodmore. Soweit mir bekannt ist, hat Ihr Bruder niemals das Leben einer sterblichen Person zu verantworten gehabt. Aber er hat für das Verschwinden einer nicht geringen Anzahl von Vampiren gesorgt, oder hat sie überredet, sich anderswo auszutoben. Und all das tat er schon lange, bevor ich ihn kennenlernte. Was übrigens dadurch zustande kam, dass er mir das Gleiche antun wollte.“ Corvindale taxierte sie jetzt mit den Augen, und Maia spürte ein keines Ziehen irgendwo tief in ihr. „Sehen Sie, Miss Woodmore, die einfachste Weise, die Sache zu betrachten ist: es gibt gute und es gibt böse Vampire. Ihr Bruder tötet die bösen Vampire.“
„Ich nehme an, Sie zählen sich dann nicht zu den ‚bösen‘ Vampiren?“
Maia wusste nicht, wie und woher sie den Mut nahm, derlei zu sagen – denn es wurde ihr da noch einmal bewusst, dass sie sich nicht nur in einer Kutsche mit einem Earl befand und einem der mächtigsten Männer der Londoner Gesellschaft und in ganz England, sondern dass er obendrein noch ein Vampir war. Ein blutrünstiger Vampir.
Und, Mündel oder nicht, sie war mit ihm allein.
Er gab einen tiefen Laut von sich, den sie zuerst gar nicht als Lachen erkannte, aber als das Licht auf sein Gesicht fiel und die kantigen Wangenknochen sowie die gerade Linie seiner Nase nachzeichnete, sah sie, dass seine Lippen nach oben verzogen waren. Sein Lachen währte nur kurz und war so ungestüm wie er selbst es war, und dann war es auch schon vorbei. „Da ich sehr bezweifele, ob Attila der Hunne oder Judas Ischariot oder selbst Oliver Cromwell sich für ‚schlecht‘ oder ‚böse‘ hielten, halte ich Ihre Frage für sinnlos.“
Abermals richtete er seinen Blick genau auf sie und fixierte sie mit seinen Augen. „Selbstverständlich sollten Sie diese Frage ihrem Bruder stellen, wenn Sie nicht sicher sind, auf wessen Seite ich nun stehe, Miss Woodmore. Aber ich vermute, Sie kennen seine Antwort bereits.“
Maia musste ihre Lippen hier fest zusammengepresst halten. In der Tat. Chas liebte sie, Angelica und Sonia, und er würde sie nie unnötig einer Gefahr aussetzen. Und er selbst war ein aufrechter und moralisch integrer Mann. „In der Tat“, erwiderte sie, „und ich muss daher also annehmen, dass Moldavi sich auf der anderen Seite dieser gute-gegen-böse-Vampire-Schlachtlinien befindet.“
„Ihre Logik ist bestechend.“ Seine Worte klangen gelangweilt, aber sie konnte schwören, in seinen Augen etwas aufglimmen zu sehen.
In dem Augenblick kam ihr der Gedanke, dass er vielleicht diese hitzigen Wortgefechte mit ihr ebenso genoss wie sie – nun, genießen war zuviel gesagt, denn richtig mögen konnte sie diesen Schlagabtausch nicht, besonders nicht die gegenseitigen Beleidigungen, denn Maia brachte das gelegentlich doch zur Weißglut. Aber vielleicht fand er es doch etwas schwierig, gleichzeitig ein Vampir und ein Earl zu sein. Schließlich war ein Earl allein schon recht einschüchternd, wenn man obendrein dann auch noch ein Vampir war ... vielleicht traute sich einfach niemand, ihm zu widersprechen.
Vielleicht hatten sie Angst davor, gebissen zu werden. Oder noch schlimmer: umgekehrt – wenn sie es taten.
Vielleicht – aber das war vielleicht doch zu abwegig – mochte er es, wenn man ihn ab und an wie eine normale Person behandelte. Ab und an.
„Trinken Sie wirklich Blut?“, platzte es aus ihr heraus. „Von Menschen?“
Er saß auf einmal ganz still da. Selbst seine Augen bewegten sich nicht mehr, oder seine Finger. Und die Kutsche schien plötzlich zu schrumpfen, ganz eng und dunkel zu werden, und ihr Herz begann wieder, auf diese hässliche Art zu hämmern. Nichts wünschte sie sich sehnlicher, als dass diese Frage ungesagt geblieben wäre.
„Es ist die übliche Art zu überleben und sich zu ernähren“, erwiderte er nach einer Weile. „Aber ich tue das nicht.“
Maia öffnete den Mund, um noch etwas zu fragen, aber dann hielt sie etwas zurück. Sie spürte, dass in dem Fall das zarte Band zwischen ihnen zu sehr belastet oder gar zerrissen würde, wenn sie das jetzt fragte. Stattdessen sagte sie, „ist es wahr, dass Vampire bei Tage nicht ausgehen können? Im Sonnenlicht?“
„Direkte Sonnenstrahlen können unerträgliche Schmerzen verursachen. Daher muss man Acht geben, wenn man tagsüber außer Haus geht. Aber das haben Sie sicherlich nicht von ihrem Bruder“, sagte er. „Ich hatte den Eindruck, dass Sie und Ihre Schwestern glückselig im Unklaren gelassen wurden, was seine ... Beschäftigung betrifft. Sie hingegen scheinen doch so einiges ... Zutreffende ... zu wissen.“
„Als wir aufwuchsen, hörten wir uns immer die Geschichten von Oma Öhrchen an, die halb Zigeunerin war. Sie kannte viele Geschichten über Vampire aus Rumänien. Natürlich hatte ich zu der Zeit keine Ahnung, dass sie wahr waren, oder dass mir eines Tages einige von ihnen begegnen würden.“
„Oma Öhrchen?“
Maia spürte, wie sich in ihrem Gesicht ein sanftes Lächeln ausbreitete. „Sie war unsere Großmutter, und aus irgendeinem Grund hielt ich sie als Kind versehentlich für unsere Ur-Großmutter. Also hatte ich diese fixe Idee, dass sie Ohr-Oma hieß. Und der Name ist dann irgendwie geblieben.“
Schweigen legte sich über sie beide, was Maia zum Grübeln brachte: Sie konnte sich nicht erinnern, je mit dem Earl allein gewesen zu sein, wo sie nicht nach Worten geklaubt hatte oder meinte, sich eine Bemerkung zurechtlegen zu müssen. Um dann von seiner scharfen Zunge trotzdem völlig vernichtet zu werden.
Die Stille war nicht ungemütlich. Im Gegenteil, mit dem Geräusch der Räder, wie sie über die Pflastersteine und Straßen rollten, war es eigentlich recht angenehm.
Sie sah ihn unauffällig von der Seite her an. Er starrte aus dem Fenster, und ihr kam der Gedanke, er wartete vielleicht darauf, dass die Kutsche wieder angegriffen wurde.
Aber dann dachte sie sich, wie unwahrscheinlich das wäre, sie waren ja bereits überfallen worden. Und so war er vielleicht einfach von der Welt da draußen fasziniert, die in der Morgendämmerung gerade zum Leben erwachte. Und zum Licht. Eine Welt, die er niemals hell und warm erleben durfte.
Wie schrecklich, niemals in der Sonne zu sitzen oder durch Blumenfelder spazieren gehen zu können, wenn alles in voller Pracht erblühte, Nicht dass sie sich den strengen Earl dabei vorstellen konnte, wie er durch Blumengärten ging, seine kraftvollen Finger über Rosenblüten gleiten ließ...
Er drehte den Kopf, und das Licht einer Straßenlaterne spielt ihm um Mund und Kinn.
Maia betrachtete ihn, ihr Blick hing plötzlich an der unteren Hälfte seines Gesichts fest. An seinem Mund. Ihr blieb die Luft weg.
Ein Mund, den sie nur zu gut wiedererkannte. Schrecklich. Unmöglich. Einen Mund, den sie schon kommentiert hatte, den sie in Augenschein genommen hatte, und bei dem sie sich gedacht hatte, sie tue all das, weil die obere Hälfte seines Gesichts maskiert war. Es durchfuhr sie eiskalt, und dann glühend heiß. Nein. Das war einfach nicht möglich.
Sie hatte den gleichen Fehler schon zuvor gemacht. Beinahe.
Aber das Bild war ihr gespenstisch vertraut: seine Augen im Schatten, sein Mund und sein Kinn im Licht.
Maia musste aufgekeucht oder ihre Überraschung irgendwie anders kundgetan haben, denn er drehte sich zu ihr und sah sie direkt an. Ihre Blicke trafen sich, kreuzten sich dort in der Kutsche, hielten sich fest, und sie konnte es nicht länger leugnen.
„Ist etwas nicht in Ordnung, Miss Woodmore?“, fragte er kühl.
Er war es. Ganz ohne Zweifel.
Ich hoffe, Sie sind nicht gerade dabei, sich ihres Mageninhaltes zu entledigen, und das auf meine Weste, Ihre Majestät, hatte der Karobube in jener Nacht gesagt.
Und heute Nacht hatte Lord Corvindale gesagt, ich hoffe inständig, dass Sie sich nicht gerade die Nase an meinem Hemd schneuzen, Miss Woodmore.
Der Earl von Corvindale hatte sie geküsst? Hatte mit ihr den Walzer getanzt? Hatte mit ihr getändelt?
Maia wurde schwindlig. Und übel.
Und warm. Auf einmal. Sehr, sehr warm. Sie musste schlucken, ihre trockenen Lippen befeuchten. Jener Kuss war ... nun, sie versuchte verzweifelt, nicht daran zu denken. Wegen Alexander.
Denn, wenn sie einen Mann heiraten würde, sollte sie nicht an die Küsse eines anderen denken – ganz besonders nicht die von einem übellaunigen, vampirischen Earl. Streng genommen sollte sie von einem anderen Mann nicht einmal Küsse bekommen.
Etwas Schreckliches wühlte sie auf. Schuldgefühle und Scham, aber auch... Die Erinnerung lockte sie, der Drang danach ... war stärker.
Sie hob ihre Augen und sah Corvindale direkt an. Er musste gewusst haben, das sie das war, selbst wenn er es zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste – denn nach dem Zwischenspiel, als er sie gepackt und auf den Balkon geworfen hatte, hatte er sie ja am Kostüm erkannt.
Als jemand, der sich nie vor der Verantwortung drückte noch das Offensichtliche leugnete, sagte Maia dann, „Wussten Sie, dass ich das war, Mylord Karobube?“
Seine Augen wurden weit und dann ausdruckslos. Es folgte eine kurze Pause, dann, „ich wollte Sie davon abhalten, Ihren Ruf zu gefährden, indem Sie zweimal mit einem Mann tanzen, der nicht Ihr Verlobter ist. Ich bin schließlich Ihr Vormund.“ Seine Worte waren ausdruckslos dahingesprochen, aber sie fühlte, wie er sich dahinter zu verschanzen suchte. Sie sah ihn genauer an.
Grundgütiger. Maia begriff auf einmal, dass sie einen Vampir geküsst hatte.
Ihr Mund stand vor Schock schon wieder leicht offen, aber gleichzeitig stieg eine Wolke von Hitze in ihr hoch, machte sich in ihrer Magengrube breit und erschwerte ihr das Atmen ganz beträchtlich.
Er wandte das Gesicht ab, abrupt und plötzlich, und sie erinnerte sich, wie er genau dasselbe getan hatte, als er ihren maskierten Kuss beendete.
Oh ja. Jedes Detail dieses Zwischenspiels hatte sich ihr ins Gedächtnis gebrannt.
Corvindales Finger waren nun fest zusammengerollt, und seine Handgelenke lagen nicht mehr entspannt auf dem Sitz. Er hatte sie näher an sich herangezogen, als bereite er sich auf seine Verteidigung vor.
Ihr wurde das Geräusch von rauhem Atmen bewusst und bemerkte, wie seine Lippen nur noch einen dünnen Strich bildeten. Und tief drinnen, pochte ihr Herz wie verrückt. Ihre Hände waren feucht. Sie war völlig aufgewühlt.
„Mylord“, sagte sie. Sie brauchte seine Aufmerksamkeit, sie brauchte seine Augen auf ihr. Aber er bewegte sich nicht. „Corvindale“, sagte sie in schärferem Ton.
Endlich drehte er sich um. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte – brennende, rote Augen, entblößte Reißzähne, fauchend und wütend. Aber er schien der Gleiche wie immer zu sein. Ah. Bis auf die Augen.
Dort war immer noch ein schwaches Glühen zu sehen. Als hätte er es nicht ganz unterdrücken können.
Und als ihre Augen sich trafen, fühlte sie, wie kleine, zaghafte Wärmeschauer durch sie hindurch gingen und von ihr Besitz ergriffen.
„Ich habe über den Kuss nachgedacht“, sagte sie und sprach dabei das an, was groß und spürbar zwischen ihnen im Raum stand.
„Den Kuss?“, erwiderte Corvindale. „Ihre Wahl des Artikels ist interessant.“ Seine Stimme war anders; die Stimmlage war voller. Tiefer. Und da war etwas in seinen Augen. Etwas ... anderes.
„Ich habe mich seither gefragt“, fuhr sie fort, „ob er so denkwürdig war wegen der Umgebung. Die geheimnisvolle Atmosphäre der Anonymität.“ Maia hörte ihre Stimme, aber ihre Aufmerksamkeit war bei dem Mann ihr gegenüber. Dieser Drang, die Verbindung zwischen ihnen war wirklich wie eine Schnur – nein, ein Seil – band sie aneinander fest. „Ein bisschen erlaubte Freiheit, wegen der Masken. Man kann nur annehmen, Sie empfanden das Gleiche, Mylord.“
„Man könnte annehmen“, erwiderte er sanft. Aber seine Augen brannten jetzt noch heller. Er war so still dort. Selbst als sein Blick ruhig und stark blieb.
„Ich denke, es gibt einen Weg das herauszufinden.“ Sie schluckte noch einmal, ihr wurde noch wärmer und Erwartung füllte sie restlos aus. Etwas wühlte in ihr, flatterte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
„Wollen Sie damit sagen, Sie wünschen geküsst zu werden?“ Seine Stimme war tonlos.
Maia feuchtete sich die Lippen an, plötzlich nervös. Aber entschlossen. Diese Erfahrung war ihr im Rückblick sicher größer erschienen, als sie war, und würde sich jetzt als eine kleine peinliche Episode herausstellen. „Ja.“
„Um herauszufinden, ob der vorherige Kuss ... denkwürdig war? Geht es darum?“
„Ja.“
„Ich nehme an, morgen wird auch das ohne Belang sein“, murmelte er, seine Augen immer noch auf ihr. „Und zumindest wird es Sie vom Reden abhalten, Miss Woodmore.“
Einen Moment saß sie einfach noch, wagte kaum zu atmen, auf ihrer Seite der Kutsche ... und dann schlossen sich schon diese starken Hände, die sie bewundert hatte, um ihre Arme. Groß stand er über ihr, im dämmrigen Licht blitzten seine Augen wie auch bei Menschen ganz normal weiß auf, sein Körper nahm neben ihr auf dem Sitz Platz. Warm und groß an ihrer Seite.
Maia drehte sich zu ihm, hob das Gesicht an, ihr Herz hämmerte derart, sie dachte sie würde gleich ohnmächtig. Als ihre Münder sich trafen, war es, als würde eine mächtige Feuerkugel in ihr explodieren, die irgendwo nur geschlummert hatte. In ihr.
Sie hörte einen tiefen Seufzer, der seine Brust unter ihren Händen durchfuhr, ein leises Stöhnen, dass von ihm her zu ihr schwang, als seine Finger ihre Arme fester packten. Aber Maia spürte das fast nicht, denn sein Mund war heiß und hart und verlangte absolute Aufmerksamkeit.
Seine Lippen passten sich den ihren an, weich und warm, aber fordernd, öffneten sich da an ihren, als er sie am Hinterkopf zu fassen bekam. Er hielt sie fest, als seine Zunge durch ihre geöffneten Lippen schlüpfte, feucht und warm, und dann plötzlich in sie hineinstieß, in einer jähen, kraftvollen Bewegung.
Maia schloss die Augen, überwältigt von Lust, die sie wie ein Rausch voll und ganz erfasste. Ihre Zungen kamen zusammen, wild, schlüpfrig, Lippen saugten und knabberten, sein Mund presste sich hart auf ihren, als könnte er nicht genug davon haben. Sie biss ihn zurück, ließ ihre Zunge tief in die Wärme seines Mundes wandern, und spürte, wie auch er erschauerte.
Ihr Körper war hellwach, erblüht, nunmehr angeschwollen und bereit, heiß und gelöst, und sie spürte wie sie sich hemmungslos an ihn presste, seine ganze Kraft und Hitze spüren wollte. Irgendwie stieß eines ihrer Knie gegen sein Bein, und er drückte dann mit der ganzen Länge seines Oberkörpers und seiner Hüften gegen sie. Unter dem glatten Leinen seines Hemds fühlte sie, wie seine Brust sich hob und senkte. Das Bild davon, auch dies schon ins Gedächtnis eingebrannt, kam ihr wieder vor die Augen, eine genaue Entsprechung von dem, was sie mit den Händen jetzt fühlte. Sie wollte die Haut berühren, das Haar, die festen Muskeln, die sie bereits gesehen hatte.
Corvindale zog sich zurück, und sie öffnete die Augen und sah kurz sein Gesicht, bevor er seine Arme um sie gelegt hatte und sie ganz an sich zog. Wie Folter schlossen seine Lippen sich um ein Ohrläppchen von ihr, an dem wenige Stunden zuvor ein Rubin gehangen hatte, und Maia musste aufkeuchen, bei dieser fiebrigen Empfindung von Hitze und Nässe, sein Atem warm auf ihrer Haut, brannte ihr im Ohr. Sie streckte sich nach hinten und erzitterte, konnte ein leises Stöhnen nicht unterdrücken, als kitzlige Lust ihr in den Bauch fuhr, und tiefer.
Als seine Hände sich bewegten, die eine, um sie sanft an einer Seite ihres Kinns zu fassen, als er sein Gesicht in ihrem Hals vergrub, küssend, liebkosend, während die andere sich um ihre Hüften schmiegte, um sie näher an sich zu ziehen, fühlte Maia sich, als ob jeder Knochen in ihr gerade einfach dahinschmelzen würde. Lust ließ sie widerstandslos und heiß werden, und sie fiel zur Seite, lehnte dort in einer Ecke der Sitzbank und zog ihn mit sich.
Er fand ihre Lippen wieder und machte, dass sie seinem heißen Atem entgegenkeuchte, als er ihren Mund aufzwang, mit einem kraftvollen Kuss. Sie nahm ihn an, heiß und lang, sie tief erforschend und begegnete ihm mit ihren eigenen knabbernden Zähnen und suchenden Lippen. Die Hitze seines Körpers, der Geruch von ihm, nah und männlich, sie wusste nicht mehr, wie atmen...
Sein Körper lenkte sie sanft hinunter auf die ganze Länge des Sitzes, die Beine von ihnen beiden verheddert in den Röcken, ihr Kopf eingeklemmt an der Kutschenwand und die Schulter gegen die Rückbank. Er zog sich ein wenig zurück, gerade genug, dass sie ein schwaches rotes Glühen in seinen Augen sehen konnte und das Aufblitzen von zu langen Zähnen – Reißzähnen – und so dass er sich seinen Mantel herunterreißen und in die andere Ecke der Kutsche schleudern konnte.
Und dann war er wieder da, und sie zog ihn an sich, auf sich, eines seiner Beine glitt zwischen ihre, verhakte sich in ihren Röcken. Als sein Schenkel zwischen ihren hochkam, sich an sie presste, wurde sich Maia qualvoll der Hitze und der Schwellung dort an dieser Stelle bewusst. Sie dachte, sie würde gleich explodieren, und dass ihr keine Luft zum Atmen blieb, und sie verlagerte ihr Gewicht, kam ihm noch näher, versuchte irgendwie, den Druck dort unten zu lindern.
„Mylo... oh...“, hauchte sie und schoss fast vom Sitz dort hoch, als er eine Hand auf ihre Brust legte, stark und sicher. Durch die Lagen von Seide und ihr Korsett hindurch, fand er die Stelle, wo sich eine Brustwarze emporreckte, und er stieß einen kleinen Seufzer freudiger Entdeckung aus, als er diese mit seinem Daumen zu streicheln begann. Der Stoff verschob sich und ihre Haut – und alles darunter auch – fühlte ihn, und Maia konzentrierte sich jetzt auf diesen einen Platz, wo sich all die Lust sammelte und ausbreitete, durch sie und an ihr herunterströmte, heiß und brennend.
Er zog an dem Ausschnitt ihres Mieders, zog es runter und legte so das obere ihrer Brust bloß. Das Tuch schnitt ihr hinten am Rücken ins Fleisch, als diese Kurve enthüllt wurde, und Maia konnte ihre Haut unter ihren unkontrollierten Atemzügen zittern und wogen sehen, ihre Brust eine herrliche Elfenbeinkuppel im Mondlicht, kurz bevor sich sein dunkler Kopf darüber schob.
Sie schrie fast auf, als seine Lippen sich sanft an ihre harte Brustwarze drückten. Sie war so hart und fest, dass die leichteste Berührung Maia keuchen und zittern ließ, aber er hatte kein Mitleid mit ihr. Sein Mund war heiß und nass und seine Zunge kräftig, als sie dort an der Spitze ihrer Brust Kreise beschrieb. Er sog sie tief in seinen Mund hinein, saugte und leckte sie in einem harten, schnellen Rhythmus, und dann wieder langsam und neckisch, als wolle er jedes kleinste Fältchen dort erkunden. Maias Welt wurde dunkel und rot und flüssig, als sie sich an ihn klammerte, ihre Hände tief vergraben in seinen Haaren und an seinen Schultern, und sich gegen seine Schenkel presste.
Der scharfe Anstieg von Lust pulsierte durch ihren Körper, sein Mittelpunkt dort zwischen ihren Beinen, füllte sich und pochte, als sie versuchte, den höchsten Punkt, das Ende zu erreichen. Etwas.
Seine Haut war so heiß, sein Haar streichelte ihr das Kinn, seine Hände packten ihre Schultern, als ginge es um sein Leben. Sie fühlte etwas Spitzes an ihrer Haut, und dann brauste eine erlösende Welle durch sie, Maia verlor die Kontrolle über ihre Gedanken, als sie erbebte und tief drinnen explodierte, und dann glitt sie in die warme Lust des Danach.
Er hob das Gesicht an, und ihre Blicke trafen sich, für Maia blieb ihre ganze Welt stehen. Es war zu dunkel, um seinen Gesichtsausdruck zu erkennen, aber die Hitze darin, und dieser dunkle Drang, trockneten ihr den Mund aus. Die Spitzen seiner Zähne waren gerade noch zu sehen, dort unter seiner Oberlippe, veränderten die Form seines Mundes, machten ihn voll und weich, und sie wollte ihn küssen. Wieder.
Als die Lust allmählich abebbte und die Wirklichkeit zu ihr zurück fand, bemerkte sie, dass er sich nicht bewegt hatte. Dass seine Hände sie in einem todesähnlichem Griff umklammerten, und dann wandte er sich ab, schloss die Augen. Sein Atem klang rauh und tief, als ob er gerannt wäre oder gekämpft hätte.
Maia hob die Hände, um sein Gesicht zu berühren, tat etwas, woran sie zuvor noch nie gedacht hatte. Den Earl von Corvindale zu berühren? Immer noch schroff und dunkel und hart wie ein Stein, aber seine Haut war warm und sein Bartwuchs wie Sand unter ihren Fingern. Er zuckte zusammen, als sie ihn berührte, ihre Finger ganz sachte an seinen Wangenknochen.
Seine Augen öffneten sich, und jetzt brannten sie feurig rot, plötzlich nicht länger versteckt, und die Reißzähne schienen ihr noch länger. Maia schluckte, als Furcht sie wie eine Nadel kurz piekte, aber sie nahm ihre Hand nicht gleich von ihm. Sie ließ sie in sein Haar gleiten und strich es ihm hinter ein Ohr. Weich, warm, dicht.
Er schaute herab, seine Nasenflügel weiteten sich, sein Atem veränderte sich, und sie fühlte, wie seine Muskeln sich plötzlich verkrampften. Sie begriff, dass er gerade ihre nackte Brust sah, und war sich plötzlich ihrer halbbekleideten Lage bewusst. Da schaute auch sie dort hinab, wo sein Blick war.
Dort war ein dunkler Streifen, eine schmale Linie quer über den kleinen Hügel aus Fleisch. Als wäre sie gekratzt worden. Blut.
Maias Blick schoss zu ihm hoch, und in seinem Gesicht konnte sie den Kampf sehen. Seine Augen, leer und auf einen Punkt in der Ferne gerichtet, sein Mund schmal und zusammengepresst, seine Kiefer so angespannt, dass seine Wangen hohl wurden.
Blut.
Sie wagte kaum zu atmen, wartete. Würde er sie beißen?
Würde es genau wie in ihren Träumen sein ... oder würde es schrecklich sein, wie Angelica es beschrieb?
Warum hatte sie keine Angst?
Sein Gesicht war eine Maske der Finsternis, pure Anspannung und Kontrolle. Und auf einmal schob er sie – oder vielleicht auch sich selbst – weg, und als Nächstes wusste Maia nur, dass sein schweres Gewicht und seine Hitze fort waren, und dass sie dalag, in einer Kutsche, eine Brust entblößt und ihr Körper immer noch zitternd vor ... was auch immer da geschehen war.
Und Maia fiel zugleich auf: Das Poltern der Kutschenräder unter ihnen war verstummt.
Der kleine Raum war ruhig und still, bis auf entfernte Geräusche von Stimmen, die riefen, und dem leisen Rasseln seines Atems.
Maia fuhr auf, schob ihren Busen wieder an die rechte Stelle und zerrte ihr Mieder zurecht, wobei sie sich ständig fragte, was all das bedeutete, und warum er sich von ihr gelöst hatte und sie anschaute als ... würde er sie hassen.
„Was ist mit Ihnen, Mylord?“, fragte sie und verbarg ihre zitternden Finger in ihrem Kleid. „Ist etwas nicht in Ordnung?“
Oh, Gott, nichts ist in Ordnung.
„Mylord?“ Er lachte kurz und bitter auf. „Stets die tadellose junge Dame. Oder sagen wir, so gut wie stets.“ Wie er es sagte, klang in ihren Ohren wie eine Beleidigung.
Sie sah ihn scharf an. „Gewiss wollen Sie mir nicht die Schuld geben für das hier“, sagte sie und machte eine Handbewegung, die den Innenraum der Kutsche und alles darin Vorgefallene umfasste.
Anstatt ihr zu antworten, schaute er sie nur an. Beobachtete sie. Seine Augen glühten immer noch schwach, aber die Spitzen seiner Zähne waren nicht mehr zu sehen. Sein Mund schein voller als sonst, satt und weich.
„Verdammt“, murmelte er, wobei er sie immer noch anschaute. „Miss Woodmore.“
Sie blickte wieder hoch, zu seinem Blick, und fühlte wieder diesen Sog, die Verbindung zwischen ihnen beiden, seine Augen lockten sie und verführten sie. Und dann plötzlich keuchte sie auf, als sie begriff, was gerade geschah.
„Haben Sie mich mit ihrem Bann verzaubert?“, herrschte sie ihn an. „War das hier das Werk von einem Zauber?“
Wut stieg jäh in ihr hoch, auf dem Fuße folgte Verwirrung, und dann ebbte alles ab und ließ sie mit der Erkenntnis zurück, dass sie in dem Falle keinerlei Kontrolle über das Vorgefallene gehabt hatte. Es war nicht ihre Schuld, dass sie einen anderen Mann geküsst hatte, ihm gestattet hatte, sie zu ... nun, was auch immer. Sie schloss die Augen und fühlte, wie die Erinnerung noch in ihr prickelte. Ihre Lippen verzogen sich sanft, als Lust ganz schwach in ihr flatterte, sie im Bauch kitzelte. Es war alles gar nicht so schlimm.
Es war sogar besser als ihre Träume.
Als sie die Augen öffnete, starrte er sie immer noch an. Aber sein Mund war jetzt schmaler und seine Augen dunkler, und er verströmte in schweren Wellen jetzt nur noch eine ungeheure Anstrengung.
Maia schaute weg, überrascht, dass der Earl nichts sagen wollte, und bemerkte erneut, dass die Kutsche still stand. Sie waren wieder in Blackmont Hall angelangt, und die Dämmerung war angebrochen.
Sie erhob sich, wollte nicht länger warten, restlos verwirrt, und versuchte zu tun, als ob alles in bester Ordnung wäre, wo doch im Grunde alles ein wilder Strudel aus Problemen war. „Einen guten Morgen, Lord Corvindale“, sagte sie, als er sich weiterhin nicht rührte.
Er saß einfach nur da, sein starrer Blick auf ihr, der nicht länger glühte, aber jetzt finster vor Abscheu war. Das Weiß seines Hemds leuchtete vor dem Hintergrund der dunklen Samtsitze und hob sich ebenso von seiner dunklen Haut ab. Seine Augen waren kohlrabenschwarz.
Sie warf die Tür der Kutsche ohne jedes Zartgefühl auf, ihre Knie zitterten, ihr eigener Mund auch nur eine harte, bekümmerte Linie und ihr Gesicht glühend und heiß, und sie stützte sich ab, als sie aus der Kutsche stieg und erhobenen Hauptes ins Haus schritt.