ZWEI

~ Von ägyptischen Königinnen ~

“Wir sind jetzt fast da”, sagte Maia lächelnd zu Corvindales Schwester, die ihr und Angelica gegenüber in der geschlossenen Kutsche saß. Sie blickte kurz zu ihrer anderen Begleiterin und schloss diese in ihr Lächeln mit ein: Tante Iliana, die als ihre Anstandsdame fungierte. „Der Mittsommermaskenball ist einer der Höhepunkte der Londoner Ballsaison.“

Mirabella sah aus, als würde sie angesichts ihres ersten Londoner Balls vor Vorfreude gleich platzen, und Maia konnte es ihr nicht einmal verdenken. Das arme Ding hatte die letzten sieben Jahre auf dem Lande verbracht und kaum einen Besuch oder einen Brief von ihrem älteren Bruder erhalten. Obschon siebzehn war sie noch nicht bei Hofe eingeführt worden, und ihre Garderobe musste dringend überholt werden.

Es war wirklich geradezu schändlich vom Earl – und auch rücksichtslos. Wie sollte das Mädchen denn jemals eine gute Partie machen? Sie konnte nicht auf das gesellschaftliche Parkett, bevor sie nicht bei Hof eingeführt war, und bis das geschah, konnte sie nicht einmal davon träumen, einem potentiellen Ehemann zu begegnen. 

Beim Gedanken daran, wie der Earl ihr und Angelica den sprichwörtlichen Boden unter den Füßen weggezogen hatte, um sie in seinen Londoner Wohnsitz umzuziehen, ohne auch nur einen Gedanken an ihre Wünsche oder Meinung dazu zu verschwenden – bei all dem kochte Maia noch vor Wut. Das alles war vor zwei Tagen so schnell und so reibungslos bewerkstelligt worden, dass Maia eigentlich vor Bewunderung ganz still gewesen wäre – wäre sie nicht so wütend. 

Gewiss, Maia war daran gewöhnt, sich immer um alles zu kümmern. Und es gab Zeiten, da hätte sie sich lieber einfach zurückgelehnt. Aber nicht zwangsweise, so wie hier, und nicht wegen einem misslaunigen Earl. 

Am Morgen nach dem Lundhame Ball war, wie versprochen, Corvindales Mitteilung eingetroffen. Dort stand kurz und knapp, sie würden nach der üblichen Teestunde mit Nachmittagsbesuchen bei ihnen zu Hause dann nach Blackmont Hall umziehen, wo sie als Mündel des Earl verbleiben würden, bis Chas zurückkehrte. Bevor Maia in ihr Schreibzimmer eilen und sich einen Briefbogen schnappen konnte, um eine abschlägige Antwort aufzusetzen, waren die Angestellten des Earl eingetroffen, um ihre Sachen zusammenzupacken, und ehe sie sich’s versah, war der Earl selbst auch schon da.

Genauso unbewegt und gefühlskalt wie eine Marmorstatue, und nichts, was sie sagte, hatte irgendeine Wirkung auf ihn, sah man von dem Anheben einer arroganten Augenbraue ab. 

Er war gerade noch rechtzeitig eingetroffen, um Viscount Dewhurst – dessen plötzliches Erscheinen zur Teestunde sie alle überrascht hatte – dabei zu erwischen, wie er versuchte, Angelica in einer abgeschiedenen Ecke der Bibliothek zu umgarnen. Maia musste sich da eingestehen, dem Earl dafür dankbar zu sein, ein Machtwort gesprochen zu haben, denn Angelicas Augen hatten ganz unnötig hell gestrahlt, als der Viscount eintrat. Und je mehr sie von Dewhurst sah, desto sicherer war Maia sich, dass der Mann nichts taugte – ein Wüstling und ein Spitzbube und der letzte Mann auf Erden, in den sich ihre schöne Schwester verlieben sollte. Jemand wie Lord Harrington wäre da eine deutlich bessere Wahl für Angelica. 

Der Earl hatte den Viscount nicht nur mit unmissverständlichen Worten hinauskomplimentiert, sie hatte ihn auch sagen hören, er müsse unverzüglich nach Rumänien aufbrechen. 

Was den heutigen Abend anbetraf, so hatte Corvindale ihnen rücksichtsvollerweise in der Gestalt von Tante Iliana eine Anstandsdame zur Seite gestellt – die sich als eine liebenswerte Matrone herausstellte, obwohl niemand so genau wusste, wessen Tante sie nun war. Damit musste Maia sich nur um sich selbst kümmern. Tante Iliana sah so aus, als würde sie mit Habichtsaugen über alle wachen und sich dennoch selbst gut amüsieren. 

Maia selbst beabsichtigte, genau das auch zu tun. Irgendwie verspürte sie den Drang, sich etwas entspannter zu geben, anonym unter anderen zu sein und nicht so sehr auf der Hut sein zu müssen, wegen der guten Sitten. Wann hatte sie sich denn zum letzten Mal gestattet, ein bisschen loszulassen?

„Nichtsdestotrotz ... Versuch heute Abend doch, dich nicht danebenzubenehmen, Angelica“, hielt sie ihrer Schwester einen Vortrag, als sie sich anschickten, im Gedränge aller Kutschen dort aus ihrer Kutsche auszusteigen. Sie waren am Stadthaus der Familie Stirlinghouse angekommen. „Sei Mirabella ein Vorbild.“

Angelica warf ihr einen vernichtenden, vielsagenden Blick zu, als sie ihr langes, schwarzes Gewand im griechischen Stil zusammenraffte. Sie war eine der drei Schicksalsgöttinnen, komplett mit Schere und einem Fadenknäuel. 

„Ich glaube nicht, dass du heute Abend Grund zur Sorgen haben wirst“, flüsterte Angelica ihr mit einem schelmischen Blick zu. „Niemand wird uns erkennen, bis wir die Masken abnehmen. Mein Betragen bis dahin wird also gänzlich inkognito bleiben.“ Sie hielt die schwarze Samtmaske mit der Bordüre aus goldener und silberner Spitze hoch, unter der Wangen und Mund nur als verlockend Andeutungen zu sehen waren. „Dein Name wird in meine skandalösen Taten nicht mit hineingezogen werden.“

Hmmmph. Maia konnte sich kaum verkneifen, die Augen zu verdrehen. Wenigstens musste sie sich keine Sorgen machen, dass Angelica von Dewhurst in einer schummrigen Ecke gelockt werden würde, da dieser sich schon längst auf dem Weg nach Rumänien befand. 

„Du könntest doch auch mal etwas Unerhörtes tun, Cleopatra“, murmelte Angelica, „und niemand würde je davon erfahren!“ 

Maia setzte sich gerade auf, und der Königsstab rollte ihr fast vom Schoß. Wenn Angelica sich einen Begriff davon machen würde, wie anstrengend es war, stets steif und sittsam zu sein. Und warum sie so grauenvoll prüde erschien. „Das werde ich gewisslich nicht tun“, fauchte sie zurück, wobei ihr das Herz wild in der Brust hämmerte. Sie war einmal gefährlich nah an den Abgrund eines Skandals gekommen und würde das ganz sicher nie wieder tun. In ihr lauerte stets die Furcht, dass sie in jenes schwarze Loch des Skandals zurückrutschen würde, wenn sie sich auch nur ein kleines bisschen unachtsam war ... und dieses Mal gäbe es kein Entrinnen. „Und wie oft muss ich dir noch sagen, dass ich Hatschepsut bin, und nicht Cleopatra.“

„Wen kümmert das schon, Hatsche-wie-auch-immer? Es kann ohnehin niemand da irgendeinen Unterschied feststellen“, sagte Angelica gleichgültig.

„An meinem Stab ist keine Natter“, erklärte Maia.

„Wir setzen uns die Masken auf, bevor wir ankommen?“, fragte Mirabella, als sie endlich einmal zu Wort kam.

„Ja. Man wird uns zwar ankündigen, aber nicht unter unserem wahren Namen“, erklärte Maia, bevor Tante Iliana etwas sagen konnte. „Nur unter dem Namen unserer Kostüme.“

Sie winkte mit der goldenen Maske in ihrer Hand und fing einen nachsichtigen Blick von ihrer Anstandsdame ein. Wenigstens schien der älteren Dame Maias herrisches Wesen nichts auszumachen – was man von ihrer Schwester nicht gerade behaupten konnte. „Um Mitternacht sollen alle Masken fallen. Obwohl es letztes Jahr auch fast ein Uhr wurde“, fuhr sie fort. „Weil vorher niemand so weit war.“

„Wir sind da“, sagte Angelica, als die Stimmen des Kutschers und des Lakaien zu ihr durchdrangen. Sie war schon aus der Kutsche, bevor Maia etwas erwidern konnte, gefolgt von Tante Iliana und Mirabella. 

Maia brauchte erst einen Moment, um sicherzustellen, dass ihr langes, hauchdünnes, glitzerndes Goldgewand den Blick nicht auf etwas Skandalöses freigab.

Wenn sie stillstand, sammelte sich der Saum ihres Kleides in kleinen Wellen um ihre Füße, die in Sandalen mit dicken Sohlen steckten, um Maia so groß erscheinen zu lassen wie ihre Schwester. Anstatt aus einem herabfallenden Stück geschnitten zu sein, bestand das Gewand aus sechs Stoffbahnen, die aber nur knapp unter der Taille zusammengenäht waren. Die langen Schlitze zwischen den Bahnen gaben damit dann oft den Blick auf das Untergewand aus zarter Spitze frei, das sie darunter trug.

Und nicht zum ersten Mal fragte Maia sich, ob sie einen Fehler gemacht hatte, als sie ein solches Kostüm, potentiell recht skandalös, gewählt hatte. Aber sie hatte sich auf Anhieb in es verliebt, als der Schneider ihr den Schnitt gezeigt hatte, und schließlich war es auch der Sinn eines Maskenballs, dass man unerkannt bis an die Grenzen des Anstands gehen konnte. Außerdem hatte sie, um ehrlich zu sein, wirklich gehofft, Alexander wäre vor dem Ball schon zurückgekehrt, und dann wären all diese Sorgen (ob skandalös oder nicht) sowieso hinfällig.

Etwas nagte unbewusst an ihr. Würde er jemals zurückkehren? Hatte er es sich anders überlegt? Sie schob diese unangenehmen Gedanken beiseite. Trotz seiner vereinzelten Briefe waren ihr in letzter Zeit oft solche Zweifel gekommen. Denn ungeachtet der Zuversicht, die sie stets zur Schau trug, hatte Maia große Angst davor, dass die Zukunft ihr Zurückweisung, einen Skandal oder öffentliche Demütigung einhandeln würde. 

Und im Gegensatz zu den anderen Problemen, die es in ihrem Leben gab, entzog sich dieses hier ihrer Kontrolle. Sie konnte nichts tun, als abzuwarten.

Aber da stand sie nun, ohne einen Begleiter, ihr Kleid bildete eine Art wolkiger Goldsäule in dem Gedränge, mit einem Unterrock so silbern und zart wie ein Mondstrahl ... und komplett unerkannt. Mit den zusätzlichen Zentimetern an Körpergröße, sowie der Maske und dann auch noch der Tatsache, dass man dunkle Pferdehaare in ihr kastanienfarbenes Haar hineingeflochten hatte, war sie unmöglich wiederzuerkennnen. Insbesondere weil niemand von der sittsamen Maia Woodmore je erwarten würde, dass sie so etwas tragen würde.

Also gestattete sie es sich, ein wenig entspannter zu sein als sonst. 

Der Butler kündigte sie an, „Ihre königliche Hoheit, Kleopatra, Königin des Nils.“ Maia versuchte noch, ihn zu korrigieren, aber hinter ihr stand noch ein Engel und Königin Elizabeth, und die Reifröcke der Letzteren stießen Maia quasi beiseite, als sie sich vorwärtsbewegte, also gab Maia es auf. Sie hatte das Gehen in ihnen zwar geübt, aber es wäre unnötig dumm, sich auf diesen hohen Sandalen aus der Balance bringen zu lassen. 

Maia konnte gerade noch sehen, wie Angelica in der Menge verschwand. Tante Iliana folgte ihr auf dem Fuße, zusammen mit Mirabella, die an ihrem Arm hing – und zur Abwechslung fand sich Maia einmal ihrer sonstigen Aufpasserrolle enthoben.

Kaum hatte sie zwei Schritte getan, stand auch schon ein Ritter vor ihr. Sie konnte sein Gesicht natürlich nicht sehen, aber hinter seiner Maske erschienen ihr seine Augen vertraut. 

„Ihre Majestät“, sprach er sie mit einer kleinen Verbeugung an. „Ich sehe, dass Ihre Knechte Sie schändlich vernachlässigen. Wäre Ihnen an einem Glas spritzigen Champagnerpunsches gelegen – oder vielleicht an der erfrischenden Limonade?“

„Ein Glas Punsch wäre geradezu himmlisch“, erwiderte Maia. Sie liebte Champagner, hatte aber nur sehr selten Gelegenheit, ihn zu kosten.

„Und wenn ich wiederkehre, würden Sie vielleicht einen Tanz mit mir wagen?“, fügte er mit einer weiteren Verbeugung hinzu.

„Aber sehr gerne.“

Und so begann der Abend, und schon bald wirbelte sie durch Tänze und andere Lustbarkeiten. Als sie gerade vorsichtig die wilden Schritte eines Schottischen Reel absolvierte, erblickte Maia plötzlich eine große Gestalt mit einer schwarzen Maske und einer rotschwarzen Weste, die sich rasch einen Weg durch die Menge bahnte. Er schien wirklich außerordentlich schnell voranzukommen, und aus irgendeinem Grund musste sie da an Corvindale denken. 

Das verdarb ihr den Abend etwas, und Maia rief ihrem gegenwärtigen Tanzpartner – einem schlaksigen Hofnarren – da laut ihren Wunsch nach einer Tasse (es waren in der Tat Tassen und keine Gläser) Punsch zu. Der Hofnarr fügte sich ihrem Wunsch und führte sie aus dem Gewirr von Tänzern heraus. 

Aber ihre gute Laune war dahin, denn schon der Gedanke an den Earl erinnerte sie an ihren Austausch mit ihm in seinem Arbeitszimmer gestern Nachmittag. Es war die erste Gelegenheit für sie gewesen, mit ihm zu sprechen, ohne dass er sie oder Angelica gerade herumkommandierte, und er war unvorstellbar unhöflich gewesen, dort in seinem trüben Büro verschanzt, in dem faszinierende Stapel von Büchern überall wild zu wuchern schienen. Er hatte sie geradezu angeschrieen, als sie versuchte, die Vorhänge zu öffnen, um ihm etwas mehr Licht zu verschaffen. 

Selbst jetzt noch wurde sie zornesrot, als sie sich an seine abgehackte Stimme erinnerte, sowie diesen Blick von seinem Schreibtisch hoch, so offensichtlich verärgert über ihr Eindringen: Was. Wünschen. Sie. Miss Woodmoore. Die Punkte zwischen jedem Wort waren überdeutlich ausgesprochen, und ebenso klar war die Abwesenheit eines Fragezeichens.

Sie hatte sich eine Entgegnung auf seine Unhöflichkeit wirklich verkneifen müssen, und besann sich stattdessen auf ihre gute Erziehung. Einen Earl schrie man nun wirklich nicht an, und schon gar nicht, wenn man Gast in seinem Hause war. Sie hatte in besänftigenden Tönen gesprochen und etwas gemurmelt wie, Meine Schwester und ich wissen es sehr zu schätzen, dass Sie der Bitte unseres Bruders, doch unser Vormund zu sein, entsprochen haben. Und sie hatte es sogar geschafft, dabei aufrichtig zu klingen und den Drang zu unterdrücken, ihm einen Vortrag darüber zu halten, bei so schlechtem Licht zu arbeiten. Wie ich in meinem Brief erwähnte, war ich vor seinem Verschwinden hinsichtlich seiner Vorkehrungen nicht im Bilde. Wir bleiben sonst immer mit Mrs. Fernfeather und ihrem Mann alleine zurück. Nichtsdestotrotz ... ich wünsche nicht, Ihne– Ihrem Haushalt länger als unbedingt nötig zur Last zu fallen.

Das ist etwas, in dem wir uns absolut einig sind, Miss Woodmore.

An dem Punkt hatten sich ihre Finger derart in ihr Kleid verkrallt, dass es sicherlich grauenvoll zerknittert sein würde, sobald sie losließ. Und daher wollte ich Sie von unseren Plänen in Kenntnis setzen, uns bald nach Shropshire zu begeben, sobald alles dort vorbereitet ist. Mein Verlobter wird demnächst wieder vom Festland zurück sein, und wenn wir vermählt sind, werde ich natürlich nicht mehr Ihre Verantwortung sein. Meine Schwestern, die jüngste mit eingeschlossen, werden bei mir leben und– 

Ein merkwürdiger Zeitpunkt, um eine Hochzeit zu planen. Wo Ihr Bruder verschwunden ist, Miss Woodmore. Oder drängt es Sie so sehr in die Ehe, dass Sie diese noch eingehen wollen, bevor Sie herausfinden können, was Ihrem Bruder widerfahren ist?

Selbst jetzt noch durchfuhr sie wilder Zorn, wenn sie an diese Worte dachte. Sie hatte sich sehr bemüht, sich nicht andauernd über die geheimnisvolle Abwesenheit von Chas Sorgen zu machen – ganz zu schweigen von Alexanders fortgesetztem Nicht-Erscheinen (denn seine Angaben, dass er schon bald zurück sei, waren eine glatte Lüge gewesen). Und dass der Earl hier andeutete, sie scherte sich nicht um das Verschwinden ihres Bruders, und dass es einen Grund für eine rasche Vermählung gebe – erfüllte sie mit Zorn. Dämliches Mondkalb.

Da merkte Maia, dass sie wieder dabei war, sich Sorgen zu machen und auch zornig zu werden, und sie schaute gerade in dem Moment auf, als der Hofnarr ihr eine Tasse mit perlendem Weinpunsch reichte. Das Getränk war außergewöhnlich gut gekühlt und ziemlich köstlich, mit den kleinen perlenden Bläschen, und sie trank es etwas schneller aus, als ratsam war. 

„Vielleicht sollte ich Ihnen noch eines davon besorgen, meine bezaubernde Kleopatra?“, fragte der Narr. „Oder wäre Ihnen etwas frische Luft lieber?“

Maia unterließ es, ihn in Bezug auf ihr Kostüm zu korrigieren, und zugleich beschloss sie, ihm nicht in seine kleine Falle zu gehen und ihm dort hinaus in den dunklen Garten zu folgen. Sie hatte bemerkt, wie der Narr bei den recht wilden Tanzschritten des Reel ihren hüpfenden Busen beäugt hatte. Er war genau die Sorte, die so tat, als würde er gegen sie stolpern, um ihr dann eine Hand um eine Brust zu legen. Wenigstens trug sie kein tief ausgeschnittenes Kleid, sondern einen schweren ägyptischen Kragen, der ihre gesamte Brust und die Schultern verdeckte. 

„Noch eine Tasse Punsch wäre wundervoll“, antwortete sie und rückte ihre Maske zurecht. 

Zumindest konnte sie sich sicher sein, Corvindale heute Abend nicht zu begegnen, denn als sie den Maskenball erwähnte, hatte er nur verächtlich geschnaubt und sie aus seinem Arbeitszimmer hinauskomplimentiert. 

Und sie selbst war nur zu froh, seine arrogante Wenigkeit zu verlassen, dachte Maia so bei sich, während sie ihre zweite ... nein, dritte Tasse von dem prickelnden Weinpunsch trank. Es war ihr entsetzlich peinlich, als sie auf einmal ein kleines Rülpsen unterdrücken musste.

„Madame?“

Der Narr war ihr auf einmal geradezu aufdringlich nah, und sie stellte fest, dass er sie etwas gefragt hatte. 

„Noch einen Tanz?“, wiederholte sie. Das wäre der zweite hintereinander, was streng genommen nicht ganz statthaft war, wenn man nicht gerade mit dem eigenen Verlobten tanzte, und es sei denn man wollte Thema in den Ondits in der Times sein ... aber andererseits, sie trug ja schließlich eine Maske. Und niemand müsste je erfahren, die sittsame Miss Maia Woodmore hatte zwei Tänze hintereinander– 

Und dann ging ihr auf: Es war ein Walzer.

Sie erschauerte ein wenig vor Vergnügen. Was für ein gefährlicher Gedanke. Den Walzer zu tanzen, den skandalumwobenen Tanz aus Wien, bei dem die Matronen im Almacks die Nase rümpften und die Lippen missbilligend zusammenpressten, schon beim Gedanken, dass Debütantinnen daran teilnahmen...!

Chas hatte nicht einmal Maia offiziell gestattet, den Tanz mit Alexander zu tanzen ... obwohl das ihr einmal gelungen war, nur kurz, in einem abgelegenen Korridor, und ihr Bruder hatte erst davon erfahren, als es bereits zu spät war. Und sie hatte es ganz fabelhaft gefunden.

Fabelhaft, von seinen starken Armen durch den Raum gewirbelt zu werden, ihre Körper ganz nah beieinander, ihre Schenkel aneinander, der Geruch seiner Kleider und seiner Haarpomade so nah und frisch– 

Maia merkte, dass der Hofnarr immer noch auf eine Antwort wartete und, im gleichen Moment, dass ihre Wangen unter der Maske ein ganzes Stück heißer geworden waren. Und sie war ein ganzes Stück entspannter als vorher und auch glücklicher...

„Mit Vergnügen tanze ich den Walzer mit Ihnen, Herr Hofnarr“, sagte sie kühn. Und bot ihm ihren Arm an. 

Sie hatte keine zwei Schritte auf die Tanzfläche zugetan, als eine große Gestalt in Schwarz und Rubinrot erschien und ihnen den Weg versperrte. 

„Wie freundlich von Ihnen, meine Tanzpartnerin zu mit zu bringen“, sprach er direkt zu dem Hofnarr. „Ich war gerade dabei, sie für unseren Tanz abzuholen.“

Maia war zu überrascht, um etwas zu erwidern, und wie es schien, erging es dem Narr genauso, denn er stand nur da und starrte den Mann für einen Moment an. Sie blinzelte kurz, denn für einen Moment glaubte sie, als hätten die Augen des Mannes rot geglüht ... aber dann war alles wieder verschwunden. Und ohne ein weiteres Wort verneigte sich der Hofnarr, drehte sich um und ging fort – fast, als wäre er irgendwie in Trance.

„Ihre Majestät“, sagte der Neuankömmling und bot ihr seinen Arm an. „Darf ich?“

Sie schaute zu ihm hoch und versuchte zu ergründen, was hinter der Maske und dort in seinen Augen lag, ob sie ihn erkannte. Es war etwas seltsam Vertrautes an ihm, und für einen kurzen Augenblick zuckte sie nervös zusammen, als sie seinen Arm annahm, und sie fragte sich, ob er vielleicht Alexander wäre. Sie derart zu überraschen, wäre genau seine Art. 

Aber sie revidierte den Gedanken rasch und tat es als geheimes Wunschdenken ab. Für einen Augenblick hatte sie ihre zusätzliche Höhe vergessen. Dieser Mann war zu groß, um ihr Verlobter zu sein. Seine Augen waren von den Schlitzen in seiner Maske tief umschattet, die Maske war pechschwarz und gab nur den untersten Teil seines Gesichts frei. Er trug einen schwarzen Umhang und darunter eine Weste von Blutrot und Schwarz, mit einem leuchtend roten Halstuch, das sein weißes Hemd fast vollständig bedeckte. Ein daumennagelgroßer Rubin steckte in der Mitte des Halstuchs. Dann wusste sie plötzlich, dass er die große Gestalt gewesen war, die ihr beim Tanzen aufgefallen war. 

„Wer sind Sie?“, fragte sie und griff nach den überlangen Schleppen ihres Kostüms, um diese hochzuhalten.

Er ließ sie kurz Atem holen, als sie die Tanzfläche erreichten, und anstatt sie zu sich zu drehen, machte er eine Drehung und kam vor ihr zu stehen. „Der Karobube“, sagte er, hob ihre rechte Hand mit seiner behandschuhten Hand hoch und legte ihr die andere leicht auf die Taille. 

Obwohl Gesellschaftstänze oft eine Berührung an der Hüfte oder an der Taille erforderten, war die Walzerstellung so anders, so intim, weil es eben keine vorübergehende Stellung war. Und als sie ihre behandschuhten Finger auf seine Schulter legte, und sie das brennende Gewicht seiner Hand an ihrer Taille spürte, wurde Maia warm, und ein wenig schwindlig. 

Er zögerte einen Moment, bevor er sie beide auf der Tanzfläche einreihte, und sie überließ ihm die Führung, als sie sich vorwärts bewegten. Die ersten paar Schritte waren noch etwas ungelenk, als ob er den Rhythmus entdecken oder erlernen müsste, und selbst dann drehten sie sich nicht mit der gleichen eleganten Ausgelassenheit wie die anderen Tänzer. Aus irgendeinem Grund gefiel es ihr, dass er den Tanz noch nicht perfekt beherrschte. 

Nichtsdestotrotz kam es Maia vor, als würde sie auf einer Wolke dahingleiten, gehalten von dem starken Griff an ihrer Hand und Taille. Selbst mit den hohen Schuhen und in dem ungewohnten Dreiertakt stolperte sie nur ganz selten. 

Sie blickte zu ihm hoch und erwischte ihren Tanzpartner dabei, wie er über ihre Schulter blickte, als ob er mit den Augen den Raum absuchte. Dabei bot sich ihr die Gelegenheit, das wenige, von ihm Sichtbare genauer zu betrachten; insbesondere die Linien seines Kinns und seines Munds. Sogar seine Ohren und Haare wurden von einem schwarzen Dreispitz bedeckt, und der Kragen seines Mantels war so hoch, dass Hals und Kinn darunter fast restlos verborgen blieben.

„Hatschepsut, nehme ich an“, sagte er, als er auf sie runterblickte, während sie gerade ihre zweite Runde um die Tanzfläche drehten, immer noch recht vorsichtig und behutsam. „Eine sehr ungewöhnliche Wahl für ein Kostüm, obwohl sie sich auch oft als Mann verkleidet hat.“ Seine Stimme war leise, und Maia konnte sie bei all der Musik und den anderen Unterhaltungen kaum hören. 

„Meine unteren Gliedmaßen zu entblößen wäre wohl kaum angemessen zu nennen, selbst wenn man damit ein historisch korrektes Kostüm anhätte“, sagte sie und sprach ebenfalls recht leise, um damit schlechter erkennbar für ihn zu sein. Obwohl ihr Tanzpartner sicherlich nicht Alexander war, hatte sie das Gefühl, dass sie ihn kannte. „Ich bin Hatschepsut. Alle anderen denken ich sei Kleopatra.“

„Dummköpfe allesamt. Wo wäre denn die Natter, wenn Sie Kleopatra darstellen sollen?“

Seine Bemerkung entlockte ihr ein überraschtes Lachen, und sie sah, wie sich seine Lippen bewegten, sich jetzt entspannt und voll wölbten, wo sie zuvor zusammengekniffen gewirkt hatten.

„Aber es weiß natürlich niemand genau, wie Hatschepsut aussieht“, erklärte sie noch. „Oder ob sie je etwas anderes war als nur eine Königin, die lediglich Regentin war.“

„In der Tat. Aber wir hoffen natürlich mehr zu erfahren, wenn der Stein von Rosetta einmal übersetzt sein wird.“

„Man kann nur hoffen! Bis wir Hieroglyphen entziffern können, wird es immer ein paar Wissenslücken für uns geben.“

„Ich finde es schon bemerkenswert, dass Sie auch nur von Hatschepsut wissen, geschweige denn von solchen Einzelheiten über ihre mysteriöse Regierungszeit“, sagte er, nachdem er eine besonders enge Umdrehung bewältigt hatte, bei der ihr ein bisschen schwindlig geworden war. „Und dann auch noch über den Stein von Rosetta im Bilde sind.“

Unter dem Schutz ihrer Anonymität wurde sie wagemutig ... und vielleicht war es auch der Champagnerpunsch ... Maia hob ganz offen zu einer Rede an, was sie unter anderen Umständen einem Gentleman sonst niemals zugemutet hätte. Sie zogen es in der Regel vor, über ihre eigenen Themen zu reden, und nicht über die ihrer Tanzpartnerinnen. „Die Geschichte Ägyptens ist schon seit vielen Jahren ein privates Steckenpferd von mir. Es hat angefangen, als ich die Biblioteca Historica von meinem Bruder las, um ihm mit seinem Griechisch auszuhelfen. Wenn Sie mich zu den Babyloniern oder zu den Indern befragen, so weiß ich da recht wenig. Aber wenn man beispielsweise Herodot oder Diodor von Sizilien liest, so erfährt man viel über die Ägypter. Und jetzt, da man so viele Antiquitäten und alte Manuskripte aus Ägypten per Schiff auf die Reise nach Europa schickt, werde ich das alles tatsächlich im Museum zu sehen bekommen. Dann wird alles sehr greifbar.“

„Sie haben Ihrem Bruder mit seinem Griechisch ausgeholfen?“ Lag da ein kleines Lachen in seiner Stimme?

„Es hat mir ebenso wenig gefallen wie ihm, aber ich war entschlossen...“, Maias Stimme verstummte, als sie merkte, wie viel sie schon geredet hatte. Sie biss sich auf die Unterlippe und schluckte. Eines der Dinge, die ihre früheren Verehrer etwas abgeschreckt hatte, war ihre Neigung dazu, Vorträge zu halten und alles überausführlich zu erklären. Nicht, dass der Bube hier ein Verehrer war, aber sie wusste nur zu gut, Gentlemen mochten Frauen nicht, die redeten. Alexander war da eine Ausnahme, und er hatte ihrem Interesse an Ägypten nachgegeben und war zweimal mit ihr ins British Museum gegangen. 

Natürlich hatte er nicht den blassesten Schimmer, wer Hatschepsut oder sogar Ramses III war, aber das machte Maia nichts aus.

„Sehr interessant.“ Der Bube schien unterdrückt zu haben, was ihm gerade auf den Lippen gelegen hatte, und sein Mund nun wieder fest verschlossen.

Als sie zu ihm hochschaute, fiel Maia plötzlich auf: Wenn man es mit einem maskierten Gegenüber zu tun hatte, dann konzentrierte man sich auf die Gesichtspartien, die noch zu sehen waren – und in diesem Fall, auf seinen Mund. Und sie fand diese Lippen faszinierender, als im Grunde schicklich war, sie fuhr ihre Formen mit den Augen nach und prägte sich alles ein. Fragte sich, wie es wäre, sie zu küssen, denn sie schienen ihr weich und voll und sehr anschmiegsam. 

„Vorsicht“, sagte er plötzlich, und seine Hände packten sie fester, und Maia stellte erneut fest, wie schwindlig ihr war. Der Raum bewegte sich etwas schneller um sie, als es nach dem Tanz eigentlich sein dürfte, und sie hielt sich an seinem Oberarm fest, ihr Gesicht war plötzlich heiß unter der Maske, und das Herz hämmerte ihr in der Brust. 

Oh. Maia kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich auf etwas hinter seiner Schulter – egal was, nur nicht diese unerwarteten, ungebetenen Gedanken zu seinem Mund. Sie konnte sich nicht erinnern, sich jemals so merkwürdig gefühlt zu haben.

„Wie viele Tassen Champagnerpunsch, Hatschepsut?“

Plötzlich fokussierte sie sich wieder auf ihn und auf seinen Blick, der sie fixierte, dort in den dunklen Schatten hinter den Schlitzen in seiner Maske. Bei seinem intensiven Blick blieb ihr die Luft weg, als hätte man ihr einen Schlag versetzt. Oder vielleicht war es auch der Champagnerpunsch, der sie atemlos und warm und völlig gelockert scheinen ließ.

„Ich bin nicht beschwipst“, entgegnete sie schnippisch und vergaß, ihre Stimme zu senken.

Jene Lippen zuckten verräterisch, was fast ein Lächeln hätte sein können, und er erwiderte, „selbstverständlich. Vielleicht würde uns ein wenig Nachtluft gut tun?“

Sie hatte den Verdacht, dass er ihr nicht glaubte. Und um ehrlich zu sein, wusste sie nicht, ob sie sich selber glaubte. Sie fühlte sich etwas merkwürdig, auf eine angenehme, kribbelnde Art. „Vielleicht wäre es das Beste, obwohl ich nur ungern die seltene Gelegenheit, einen Walzer zu tanzen, auslasse.“

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, zog er sie von der Tanzfläche, manövrierte sie durch die anderen Tänzer hindurch. Es war merkwürdig, dass sie sich noch wärmer und schwindeliger fühlte, nachdem sie sich nicht mehr in dem weichen Rhythmus des Walzers fortbewegte, und sie – überaus peinlich – sogar unbeholfen gegen ihn stolperte. Er verstärkte den Griff seines Arms um sie und führte sie weg von dem Gedränge. Dorthin, wo sie etwas kühlere und frischere Luft einatmen konnte, endlich ohne den Duft von Rosenöl – der auch diese Saison scheinbar der Lieblingsduft aller Damen zu sein schien, wie auch in all den anderen Jahren, seitdem sie debütiert hatte. 

Maias Herz hatte nicht aufgehört zu hämmern, und das schien sogar noch stärker zu werden, als der Karobube sie von dem lauten und übervollen Ballsaal wegführte. Hin zu einem Alkoven in einem der Korridore, nahe bei einem offenen Fenster, durch das eine laue Brise hereinwehte.

Es lag vielleicht daran, dass ihre Aufmerksamkeit nun von nichts anderem mehr abgelenkt wurde, denn ihre Ohren konnten die Musik nicht mehr hören, ihre Nase nahm die vielen verwirrenden Gerüche nicht mehr war, die eine Menschenansammlung stets mit sich brachte, und ihre Füße mussten sich nicht mehr auf ungewohnte Tanzschritte konzentrieren ... auf jeden Fall nahm Maia jetzt den starken Arm, an den sie sich gerade klammerte, nur zu deutlich wahr. 

Sie klammerte, in der Tat.

Wie viele Tassen Champagnerpunsch hatte sie denn getrunken? Da war eines vor dem Hofnarren ... oder vielleicht zwei? Und dann noch eines–

„Ich hoffe, Sie sind nicht gerade dabei, sich ihres Mageninhaltes zu entledigen, und das auf meiner Weste, Ihre Majestät“, sagte er und schob sie etwas von sich fort, wobei er sie vorsichtig stützte. Diese Schuhe mit den hohen Absätzen waren wirklich eher unpraktisch. 

„Was sagten Sie gerade eben?“, fragte sie, plötzlich sehr empört. „Nichts läge mir ferner als derlei zu tun.“

Ja, in der Tat. Sie würde es schlicht nicht zulassen, egal wie merkwürdig sie sich nun fühlte. Und sie fühlte sich wirklich etwas merkwürdig.

Sie blinzelte mehrmals und musste feststellen, dass sie, die sonst so sittsame Miss Maia Woodmore, den Karobuben gerade dazu missbrauchte, um den Boden vom Umkippen abzuhalten und auch ihre Knie vor dem Einknicken zu bewahren.

Sie löste sich von dem Buben und fand heraus, dass sie auf eigenen Füßen stehen konnte, selbst auf diesen hohen Schuhen, die ihr Gesicht auf fast gleiche Höhe mit ... seinem brachten.

Maia schaute von der Brokatweste und dem rubingeschmückten, blutroten Halstuch hoch, das viel zu nah an ihrem Gesicht war, und zwang sich, ihre sieben Sinne zu sammeln, in einem Hier und Jetzt – das, nun ... sie war sich gar nicht mehr sicher, was es genau war. Hatten sie miteinander geredet?

Ihre Augen wanderten an einem steifen, schwarzen Kragen entlang, der ihm bis zum Kinn reichte und den unteren Umriss seines Gesichts verbarg, dann weiter an einem kantigen Kinn ... und zu eben jenem Mund, der sie so gefesselt hatte, als sie sich sanft, wenn auch nicht immer elegant, um die Tanzfläche gedreht hatten.

Es war ein Mund, der in entspanntem Zustand – wenn er also nicht gerade fest zusammengekniffen war – eine volle Unterlippe sein eigen nannte, sowie eine fein geschwungene Oberlippe – weich und sanft, ohne im Geringsten weiblich zu wirken. 

„Hatschepsut?“ Die Lippen bewegten sich und zogen sich leicht zusammen, ein wenig gereizt wohl. „Wollen Sie sich vielleicht etwas hinlegen?“

„Selbstverständlich nicht“, erwiderte sie indigniert. „Ich vertrage durchaus etwas. Mir wurde nur wegen des Tanzes ein wenig schwindlig. Es war alles so voll, da drinnen.“

„Nun gut. Wenn Sie nur davon absehen–“

„Sie sind wahrscheinlich viel zu groß, Herr Bube, und auch etwas überheblich“, hörte sie sich sagen, die Worte strömten nur so aus ihr heraus, „aber ungeachtet des Unsinns, der Ihnen über die Lippen kommt, hat Ihr Schöpfer Ihnen doch einen sehr schönen Mund mitgegeben.“

Es gab eine kleine Pause, und dann antwortete er, „Ah.“ Die Silbe klang etwas heiser.

„Ich bin keine Expertin, was Münder anbetrifft, wissen Sie“, fuhr sie fort, wobei sie sich selbst fragte, warum sie nur so fasziniert war von seinen Lippen. „Üblicherweise betrachtet man sie nicht ganz so genau, wie man meinen möchte, es sei denn das restliche Gesicht ist maskiert und dann auch noch, wenn man beabsichtigt, diesen Mund zu küssen, ja, dann auch ... aber selbst dann, hat man vielleicht nicht ausreichend Gelegenheit dazu, vor dem Kuss, meine ich.“

„Ah“, sagte er nur wieder, als sie verstummte.

„Aber dann, ich bin ja auch nur von einer sehr begrenzten Anzahl von Lippen geküsst worden“, sagte sie. Nur um etwas klarzustellen.

„Und um wie viele Paare handelt es sich denn?“ Seine tiefe Stimme knurrte leise. Diese Lippen waren jetzt wieder ganz flach.

Sie musste da kurz nachdenken, wobei auch sie ihre Lippen zusammenkniff. Ihre Maske verrutschte leicht, und Maia war überaus dankbar für diese kleine Erinnerung, dass dies alles hier noch anonym war. „Vielleicht drei. Nein, vier. Hmmm. Vielleicht ... nein, vier.“ Sie würde Mr. Virgil hier nicht mitzählen. Er verdiente es nicht, mitgezählt zu werden, und schon der Gedanke an ihn verursachte ihr Übelkeit. Sie schaute zu ihrem Begleiter auf. „Vier, werter Herr Bube.“

Ihre Blicke trafen sich, seiner war so schwarz und lag so tief in den Schatten hinter diesen zwei kleinen Schlitzen, dass sie gar nicht begreifen konnte, wie sie nur eine solche Macht auf sie ausüben konnten. Aber das taten sie. Ihr Magen war auf einmal irgendwo verschwunden, wobei ihr warm und sie irgendwie nervös wurde, auf eine sehr angenehme Art und Weise.

Während sie Gott und allen himmlischen Heerscharen dankte, dass sie maskiert und absolut inkognito unterwegs war, flüsterte sie kühn, „aber vielleicht werden es doch noch fünf.“

Und Maia hielt den Atem an.