SIEBZEHN
~ In der Höhle des Löwen ~
Maia fuhr auf, hellwach.
Sie hatte geträumt. Aber vielleicht auch nicht.
Die Welt draußen war dunkel, denn es war Neumond, und die Sterne versteckten sich hinter Wolken und dichtem Nebel. Sie vermochte kaum, die Umrisse ihrer Ankleide und des Stuhls dort in der Ecke zu erkennen.
In ihrem Kopf spukte ihr noch eine Erinnerung herum ... ein Traum oder eine Wirklichkeit, sie war sich nicht sicher... Sie saß in einem sehr luxuriös ausgestatten Zimmer. Da waren Männer und eine Frau, die groß und breit war und die einen kleinen Schnurrbart auf der Oberlippe hatte. Obwohl das Zimmer nichts zu wünschen übrig ließ, fühlte Maia sich nicht richtig wohl. Es war falsch. Schrecklich und böse.
Sie schüttelte den Kopf, versuchte, ihn dadurch etwas freizubekommen und sich zu konzentrieren. Hände griffen nach ihr, lüsternes Grinsen, das Klirren von Glas, als ausgeschenkt wurde... Mr. Virgil war da. Lächelte. Lachte herzhaft.
Ihr blieb das Herz stehen. Mr. Virgil.
Maia kletterte aus dem Bett, als ob sie vor den Bildern fliehen wollte, das Herz schlug ihr wild. Das hier gefiel ihr gar nicht. Das hier gefiel ihr ganz und gar nicht, Empfindungen krochen wie Würmer über sie hinweg. Die Hässlichkeit, diese schreckliche Erinnerungen, die sich in ihr Bewusstsein drängten.
Und dann änderte sich die Erinnerung irgendwie ... da war eine Schockwelle Energie, etwas Schwarzes, Schnelles. Glühende, rote Augen. Fäuste schnellten hervor, Gewalt, und sie war plötzlich mittendrin, konnte nicht weg...
Und dann war sie in Sicherheit. Weit entfernt. In einer Kutsche.
Mit Corvindale.
Im Dämmerlicht ihres Zimmers stand Maia nur da und atmete tief, stoßweise. Der Bauch tat ihr weh, ihr verschwitztes Haar klebte an Hals und Nacken. Ihr Gesicht erstarrt und so bleich wie ihr Nachthemdchen, wurde geisterhaft aus dem Spiegel zu ihr zurückgeworfen.
Sie brauchte Antworten.
# # #
„Mylord, da ist eine gewisse Person, die mit Ihnen zu sprechen wünscht.“
Dimitri schaute von dem vermaledeiten Buch auf, das Wayren ihm da aufgeschwatzt hatte. Jede Entschuldigung war ihm recht, um die Lektüre von dieser Geschichte einer Schönen und ihrem Biestergastgeber in einem natürlich malerischen Schreckensschloss zu unterbrechen.
Die Tatsache, dass es schon nach Mitternacht war, und jemand ihn zu sprechen wünschte, störte ihn kein bisschen, und sein Butler Crewston wunderte sich schon lange nicht mehr über derlei. In Blackmont Hall ging es nach Sonnenuntergang so lebhaft zu wie tagsüber.
So war eben das Leben eines Drakule.
„Wer ist es?“, fragte er und erhob sich von seinem Schreibtisch.
„Es ist eine weibliche Person“, erklärte Crewston. Sie wartet draußen in einer Kutsche. Sie bat mich, Ihnen dies zu geben.“ Er hielt ein Taschentuch in den Händen.
Aber Dimitri musste den Fetzen Stoff nicht an sich nehmen, er konnte sie bereits riechen, kaum hatte sein Butler es vor ihm geschwenkt. Lerina.
Sein Wutanfall ebbte auch gleich wieder ab. Sie würde ihn nicht noch einmal überlisten, und er hatte nicht das Bedürfnis, noch irgendwelche Energie oder auch nur einen Gedanken an sie zu verschwenden. Aber er war dennoch neugierig zu erfahren, warum sie ein Wiedersehen mit ihm riskierte.
Anstatt Crewston zu antworten, zog er sich seinen Überrock an und ließ einen schmalen Holzpflock in die Tasche darin gleiten. Er vermutete, sie war hier, um Frieden zu schließen, aber der Frau konnte man natürlich nicht über den Weg trauen.
Draußen in der spätsommerlichen Wärme schnupperte Dimitri an der Luft, als er die drei Stufen hinab ging. Ihre Kutsche hatte man dort in dem Halbkreis der Auffahrt abgestellt. Die Luft war schwül und schwer von dem Duft der verblühenden Rosen und Lilien, unterlagert von dem Gestank nach Londoner Abfall und seinen Abwässern. Die Tür des Gefährts öffnete sich, als er unten an den Stufen angelangt war, aber er ging nicht weiter.
„Du bist vor mir sicher, mein lieber Dimitri“, sagte sie und schaute aus der Öffnung zu ihm. „Kein Rubin weit und breit.“
„Bitte verzeih, wenn ich deinen Worten keinen Glauben schenke“, entgegnete Dimitri ihr. „Ich kann mir nicht vorstellen, was wir deiner Meinung nach noch zu bereden hätten, aber wenn du es wünschst, dann musst du schon aussteigen.“
„Es war ein Missverständnis, Dimitri, Liebling“, sprach Lerina, als sie anmutig aus der Kutsche stieg, wobei ihre Frisur und ihre Kleider recht hübsch um sie wippten.
Er wartete ab, ob er die Anwesenheit des einen oder anderen Rubins spüren würde. Oder ein Dutzend davon. Er spürte nichts und hatte es auch nicht erwartet. Er roch auch niemanden sonst in der Umgegend, außer ihrem Kutscher.
Lerina war vielleicht nicht die intelligenteste aller Personen, aber sie hatte anscheinend einen ausgezeichnet funktionierenden Selbsterhaltungstrieb. Sie wusste, er würde ihr nichts tun – außer sie provozierte ihn.
„Wenn jene Episode ein Missverständnis war, kann ich mir gar nicht vorstellen, was der Zwischenfall in Wien gewesen sein soll. Ein Picknick? Lass uns keine Spielchen spielen, Lerina. Du hast versucht, mich zu entführen, das ist dir nicht gelungen, und jetzt bist du hier ... warum eigentlich? Du begreifst doch wohl hoffentlich, dass du das Überraschungsmoment nicht mehr auf deiner Seite hast?“
Sie schmollte. „Aber ich bin immer noch in dich verliebt, Dimitri.“
„Du hast eine merkwürdige Art, das zu zeigen.“
„Ich war dumm. Das war ich schon immer.“
„Wie schön zu wissen, dass sich da nichts geändert hat.“
Ihr Gesicht verhärtete sich und verlor zum ersten Mal, seitdem sie eingetroffen war, den aufreizenden, spielerischen Ausdruck. „Ich musste die Chance wahrnehmen, dich allein zu treffen. Die anderen, die du dort mit mir zusammen gesehen hast, sind Cezars Gemachte. Wenn sie von meinem Besuch hier erfahren...“
Dimitri schüttelte mit dem Kopf. „Nein, mach noch einen Versuch.“
„Verflucht seiest du, Dimitri.“
Er zuckte mit den Schultern. „Ich fürchte, auch dafür bist du ein bisschen zu spät dran. Also, was willst d–“
Er hörte hinter sich ein Geräusch. Verfluchte Seele Luzifers verdammt.
„Miss Woodmore“, sagte er, seiner Ansicht nach mit großer Selbstbeherrschung. Riesengroßer, immenser, absoluter Beherrschung.
Ihr Kopf und ihre Schultern verschwanden wieder in dem offenen Fenster nach drinnen, wo sie wahrscheinlich die ganze Zeit gelauscht hatte, und wenige Sekunden später ging die Tür auf. Da stand sie nun, die ordentliche Miss Woodmore, mit nichts an, außer einem sehr dünnen Hemdchen. Ihr volles Haar fiel ihr in langen, dunklen Wellen über die Schultern, leuchtete in dem Licht einer Straßenlaterne ab und an golden auf.
Dimitri hielt für einen Moment inne und dankte den Schicksalsgöttinnen, dass kein Mondlicht von hinten durch das Hemdchen schien, als er sich bemühte, möglichst gleichgültig dreinzublicken. „Was tun Sie hier?“
Sie trat an die oberste Stufe heran, und er bemerkte ein schmales Instrument in ihrer Hand, halb verborgen hinter ihr und auch teilweise versteckt von den Falten ihres Nachthemds. Ein Pflock? Hatte sie vor, ihn zu beschützen? Eine Mischung aus Verärgerung und Wut kämpfte in ihm gegen eine Empfindung, die er lieber nicht in Worte fasste. Dieses schwachsinnige Frauenzimmer.
„Mrs. Throckmullins“, sagte Maia ebenso gelassen, als wäre diese gerade zur Teestunde erschienen. „Ich hätte nicht erwartet, Sie hier noch begrüßen zu dürfen – nach unserer letzten Begegnung.“
„Gehen Sie wieder ins Haus zurück“, sagte Dimitri zu ihr und blickte dann zu Lerina. Zu seiner großen Bestürzung, war auf deren Gesicht nur gespannte Aufmerksamkeit zu sehen.
„Ich wollte gerade gehen“, sagte Lerina zu der neu Hinzugekommenen. Ihre Augen verengten sich, und ihr Lächeln schien etwas gekünstelt. Es war ein hinterhältiger Gesichtsausdruck, der nichts Gutes verhieß, und Böses funkelte darin. „Ich habe alles, wofür ich herkam.“
Dimitri drehte sich wieder zu Miss Woodmore und starrte sie wutentbrannt an. Sie beachtete ihn nicht, und er betrat die unterste der drei Stufen, in dem Versuch, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, weg von Lerina. Wenn das Weibsbild sehen würde, wie wütend er war, würde sie auf ihn hören und wieder hineingehen. „Miss Woodmore, Sie werden sich in diesem Aufzug hier draußen den Tod holen“, sagte er knapp, wobei er sehr darauf achtete, nicht zu der Stelle an ihrer Schulter zu blicken, wo ein Träger heruntergeglitten und jetzt ein köstliches Schlüsselbein zu sehen war.
„Es ist überhaupt nicht kühl, hier draußen“, erwiderte sie. Dass ihre Brustwarzen sich unter dem dünnen Stoff deutlich abhoben, entkräftete ihre Aussage ein wenig.
„Miss Woodmore“, sprach er jetzt in einer leisen Stimme, mit zusammengebissenen Zähnen. „Ich weiß nicht, was Sie meinen, hier gerade tun zu müssen, aber Ihre Einmischung ist unnötig. Und–“
Er hörte hinter sich ein Rascheln und dann ein schwaches Knarren. Als er sich umdrehte, sah er noch, wie die Tür zu Lerinas Kutsche hinter ihr zufiel. Das Gefährt setzte sich schwankend in Bewegung, und er sah zu, wie sie davonfuhr, ein unangenehmes Prickeln lief ihm am Rücken entlang und gesellte sich zu dem Pochen an seinem Luziferzeichen.
„Ins Haus mit Ihnen“, sagte er, als er an ihr vorbeistrich, um ihr die Tür zu öffnen und sich fragte, wo zur verfluchten Hölle Crewston steckte, und was er sich dabei dachte, sie derart unbekleidet aus dem Haus zu lassen.
Er war nur mäßig besänftigt, als sein Mündel, ohne weiter zu widersprechen, ins Haus ging. Genau als Iliana mit wehendem Mantel um die Ecke gesaust kam, einen Pflock in der erhobenen Hand. Ihre nackten Füße kamen klatschend zu stehen, und sie schaute Dimitri an.
Auf einmal begriff er, was vorgefallen war, und er konnte nur mit Mühe an sich halten, Miss Woodmore nicht auf der Stelle anzuschreien, dass er verflucht zum Teufel noch mal nicht beschützt werden musste. Luzifers schwarze Seele, was war nur in sie gefahren, dass sie so etwas glaubte?
Iliana warf nur einen Blick auf sein Gesicht und machte sofort kehrt, und kehrte dorthin zurück wo sie hergekommen war. Ein kluger Schachzug, ohne Zweifel.
Das ließ Dimitri allein mit seinem Mündel zurück, denn Crewston hatte, allem Anschein nach, etwas anderes zu tun. Oder, was eher wahrscheinlich war, lungerte er irgendwo herum, weil er die Wut im Gesicht seines Herren gesehen hatte, und es für besser hielt, sich nicht blicken zu lassen.
„Ich muss mit Ihnen reden, Corvindale“, sagte Miss Woodmore kühl. Den Pflock hielt sie immer noch umklammert.
Hier, im Haus drinnen, war ihm das Glück nicht so hold. Denn die Lampen in der Eingangshalle und der kleine Wandleuchter auf dem Flur sorgten für ein weiches, warmes Licht um ihr Hemdchen, und auch durch selbiges hindurch.
Bevor er etwas entgegnen konnte, hatte sie auf dem Absatz kehrt gemacht und stolzierte in Richtung seines Arbeitszimmers. Seinem letzten Zufluchtsort. Dimitri schaute weg, knirschte mit den Zähnen, als er ihr in seine Höhle folgte – er folgte ihr. Er hatte auch das eine oder andere Wörtchen mit ihr zu reden.
Aber als er das Zimmer betrat und die Tür hinter sich zuzog, überkam Dimitri plötzlich ein seltsames Gefühl. Seine Handflächen waren auf einmal feucht. Bei den verfluchten Schicksalsgöttinnen noch mal, er hatte seit seiner ersten Lateinprüfung in Cambridge keine feuchten Hände mehr gehabt.
Was war es nur an dieser Frau, was ihm so unbegreiflich zusetzte?
„Und übrigens, Sie hatten Unrecht, Corvindale“, sagte sie gerade. Sie hatte sich am anderen Ende des Zimmers aufgebaut, wo zwei Stühle mit einem Tisch dazwischen sich der Mitte des Zimmers zuwandten. Das Fenster, dessen Vorhänge sie jedes verfluchte Mal, das sie hier im Zimmer war, stets unverfroren geöffnet hatte, befand sich gleich neben einem der Stühle. Das Zimmer war voll von ihrem Duft, von Schlummer und Gewürzen und Baumwolle und was auch immer sie für ihr Haar benutzte.
Er zwang sich, ganz entspannt zu dem Schränkchen hinzuwandern, in dem er seinen Brandy und den Schottischen Whisky aufbewahrte. Seit letzter Woche, als er zwei ganze Flaschen Blutwhisky hinuntergestürzt hatte, hatte er sich nichts mehr gegönnt. Aber heute Nacht, so dachte er bei sich, könnte er sich vielleicht zwei Finger oder auch mehr seines besten Tropfens genehmigen, ganz besonders, weil er ihr seit dem Besuch bei Rubey nicht mehr so gegenübergestanden hatte – wie jetzt. Er hatte kaum das Flattern eines Rockzipfels von ihr zu Gesicht bekommen, seit er sie in die Kutsche nach Hause verfrachtet hatte.
„Ich? Im Unrecht?“ Er nippte an der goldenen Flüssigkeit und merkte, wie heftig ihm das Herz gegen die Rippen schlug. Seine Eingeweide zogen sich zusammen. Was zur verfluchten Hölle verdammt noch mal war nur los mit ihm?
„Sie sagten, Lerina hätte versucht, Sie zu entführen und das sei fehlgeschlagen. Das entspricht nicht ganz der Wahrheit, oder? Mrs. Throckmullins – Lerina – hat Sie erfolgreich entführt. Und wenn ich nicht aufgetaucht wäre, wer weiß, was dann mit Ihnen geschehen wäre?“
Seine Finger klammerten sich um das Glas. Was wollte sie, eine Belobigung und ein Publikum bei Hofe zur Beifallsbekundung? „So wie ich es verstanden habe, sind Sie nicht einfach so aufgetaucht. Sie wurden ebenfalls entführt.“
„Das ist wohl wahr“, erwiderte sie. „Aber mir ist es gelungen, mich zu befreien. Obschon ich verstehe, dass in Ihrem Falle noch mildernde Umstände vorlagen.“
Dimitri kämpfte verzweifelt, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. „In der Tat. Ich nehme an. Ich habe es versäumt, meine Dankbarkeit kundzutun, was Ihre ... Hilfe anbetrifft.“
Und überraschenderweise erfolgte kein Schwächeanfall oder derlei, nachdem er sich diese Worte abgerungen hatte – wie er es eigentlich erwartet hatte. Stattdessen, als er sah, wie Verblüffung darin aufblitzte, und auch, wie ein zartes Rosa ihr Gesicht überzog, fühlte er sich recht ... glücklich. Er nahm noch einen großen Schluck Whisky.
„Ich danke Ihnen“, sagte sie mit einer weichen Stimme, die nicht schneidend war, wie sonst so oft. „Wir waren ... wir haben gut zusammengearbeitet.“
Er schaute weg, versuchte, diese Verärgerung und diese unglaubliche Wut wieder auszugraben, die allmählich in ihm versickert war. „Was glauben Sie nur, was Sie heute Nacht getan haben, Miss Woodmore? Haben Sie ernsthaft geglaubt, dass dieser kleine Holzpflock etwas gegen Lerina ausrichten würde, wenn sie eine Bedrohung gewesen wäre?“
Sie hatte angefangen, einen der Bücherstapel auf dem Tisch neu zu sortieren. „So, wie ich es sehe“, sagte sie und zog eine französische Übersetzung der Ilias aus dem Stapel und legte sie auf ihre Entsprechung, Die Odyssee, „ist es nie verkehrt, gut vorbereitet zu sein. Man weiß nie, ob nicht plötzlich etwas Unerwartetes geschieht.“
„Ich bin niemals–“ Er unterbrach sich abrupt.
Sie schaute zu ihm hoch, und ihre Blicke trafen sich. Und blieben da. Etwas tat weh, in seiner Brust, etwas Scharfes und Heißes, als wäre er erdolcht worden. Oder gepfählt. Aber, auch wenn es unerwartet über ihn kam, war es nicht gänzlich unangenehm.
Ihre Mundwinkel zuckten, und diese volle, saftige Oberlippe bog sich um zu einem kleinen Lächeln. „Kann es sein, dass Sie hinzulernen, Corvindale? Dass Sie nicht immer Recht haben?“
„Was wollen Sie, Maia?“ Er zwang sich dazu, seine Stimme eiskalt klingen zu lassen, zwang sich, sein Gesicht zu Stein werden zu lassen. Das Herz zersprang ihm fast in der Brust.
Ihr Gesicht veränderte sich, die Zärtlichkeit darin verschwand. „In jener Nacht mit Mr. Virgil“, sagte sie, „der Zwischenfall ... ich habe heute Nacht davon geträumt. Von Dingen geträumt, an die ich mich nicht mehr erinnerte. Die ganze Nacht ist, fast gänzlich, weg, aus meinem Gedächtnis verschwunden.“
Dimitri hob eine Augenbraue. „Das ist nichts Ungewöhnliches, in einer solch traumatischen Situation, Miss Woodmore. Menschen vergessen oft, was ihnen zugestoßen ist.“
„Ja, und manchmal eben auch mit ein bisschen Unterstützung von einem Vampir und seinem Bann. Ist es das, was passiert ist? Haben Sie meine Erinnerungen ausgelöscht?“
„Wie kommen Sie darauf, dass ich dazu in der Lage wäre?“, wich er ihr aus. Sein Glas war leer, und er stellte es auf dem Schränkchen ab. Irgendetwas sagte ihm, dass er hier seine sieben Sinne beieinanderhalten musste. „Und wenn es so wäre, warum sollte ich so etwas tun?“
„Machen Sie sich nicht lächerlich. Sie wissen, dass Sie es können. Sie haben es versucht. Sie sagten ich wäre jetzt immun gegen ihren Bann. Ist es Ihnen in jener Nacht gelungen?“
„Es war besser so.“
„Was ist geschehen?“
Was war nicht geschehen? Dimitri holte tief Luft. „Ihr Mr. Virgil hatte nicht die Absicht, Sie nach Gretna Green mitzunehmen. Er wollte Sie in ein Etablissement in Haymarket bringen, das ... nun, Miss Woodmore, wenn Sie Rubeys Haus schon anstößig fanden, dann hätte jener Ort Sie das Fürchten gelehrt. Eine Art Umschlagsplatz für junge, jungfräuliche, Frauen. Ihr Schicksal dort wäre besiegelt gewesen.“
Er beobachtete, wie Ungläubigkeit und dann nacktes Entsetzen über ihre zarten Gesichtszüge wanderten. Sie hatte aufgehört, die Bücher zu ordnen, und war zur Salzsäule erstarrt. „Und was geschah dann?“
„Als ich Sie erkannt hatte, bin ich Ihnen gefolgt. Ihr Bruder hatte mir natürlich schon gezeigt, wie Sie und Ihre Schwestern aussehen.“ Und der Eindruck, den sie damals bei Dimitri hinterlassen hatte, war ihm unauslöschlich in Erinnerung geblieben, selbst damals. Selbst aus der Entfernung. Ganz besonders, als er an ihr vorbeilief und sie einatmete, ihren Duft. Unverwechselbar. „Es gelang mir, ohne großes Aufsehen zu erregen, Sie aus den Klauen der Frau zu befreien, der das ... Etablissement ... dort gehörte. Und dann habe ich dafür gesorgt, dass eine Droschke Sie sicher nach Hause brachte.“
„Hatte sie einen Schnurrbart?“, flüsterte sie, und er nickte zur Antwort. „Ich habe von ihr geträumt.“
Die Kraft der Hypnose ließ wahrscheinlich nach, was nicht überraschend war, angesichts der Tatsache, dass er in letzter Zeit hier gar nichts mehr bei ihr erreichte. Seit jener Nacht in Haymarket war etwas geschehen, was sie immun gegen seinen Bann machte. Seinen Bann. Etwas nagte ganz ungemütlich, dort, in seinem Hinterkopf, als er sich daran erinnerte, wie Voss ihm erzählt hatte, er hätte bei Angelica auch nichts ausrichten können. Hatten die Woodmore Schwestern irgendetwas an sich, was sie immun gegen den Drakule Bann machte?
Aber nein, denn Lerina hatte Maia umgarnen können, als sie beide Lerinas Gefangene gewesen waren. Er verstand es nicht.
Maia redete jetzt langsam, kramte einzelne Erinnerungen aus der Vergangenheit hervor. „Ich habe eine Erinnerung ... in der Kutsche. Wir ... Sie waren dort. Sie hatten sich an der Wange geschnitten, und auch an ihrer Hand – ich erinnere mich jetzt. Sie trugen keine Handschuhe.“
Er unterdrückte ein Schnauben. „Sogar inmitten einer solch schrecklichen Erfahrung, und als sie Knabenkleider trugen, komplett mit Mütze, bemerkten Sie spitz, dass ich keine Handschuhe tragen würde. Und rümpften empört Ihre Nase.“
„Das habe ich nicht.“ Und wieder rümpfte sie in der gleichen Art ihre kleine, vorwitzige Nase.
Er konnte nur mit Mühe ein Lächeln unterdrücken und hob eine Augenbraue.
„Ich ... wir diskutierten Kräuterwickel für Ihre Wunden“, sagte sie zögerlich, als würde sie die Erinnerung wie einen dünnen Faden aufrollen. „Sie sprachen sich für die wohltuende Wirkung von getrocknetem Ginster aus.“
„Sie schienen der Überzeugung zu sein, dass das Rezept aus Rot-Ulme und Schwarzwurz von Dioskurides die beste Behandlungsmethode sei. Ich muss gestehen, ich war sehr erstaunt zu erfahren, dass Sie seine Schriften nicht nur kannten, sondern dass Sie diese auch noch im griechischen Original gelesen hatten. Und so begann ich eine Diskussion, um zu sehen, ob es möglich sei.“
„Sie“, und ihre Mundwinkel zogen sich schon wieder etwas noch oben, „sangen das Loblied von John Gerard, einfach deswegen, weil er ein Engländer ist.“
„Abgesehen davon, dass er ein Freund meines Vaters war, liegt der Vorteil von einem Heilkräuterbuch, dass sich nur auf einheimische Gewächse bezieht, meine liebe Miss Woodmore, darin, wesentlich wirksamer zu sein, als jede Schrift aus der Antike. Und da wäre dann noch das Problem der Übersetzung.“
„Außer, man fertigt die Übersetzung selber an“, erinnerte sie ihn, „wie ich es tat.“
„Genau das sagten Sie an jenem Abend.“
Ihre Blicke trafen sich, und er konnte ihren klaren – restlos klaren – Blick erkennen. Sie erinnerte sich jetzt an alles.
Er hatte es nie vergessen. Er hatte sie in jener Nacht fast geküsst. Sicher in dem Wissen, dass er ihren Verstand trüben und ihr Gedächtnis zurechtbiegen könnte, hatte er diesem plötzlichen, unerklärlichen Verlangen fast nachgegeben. Und jetzt war er dankbar, so überaus dankbar, dass er es nicht getan hatte.
Weil das würde er niemals erklären können.
Und plötzlich begehrte er sie wieder, maßlos, unermesslich. Er stand weit entfernt von ihr auf der anderen Seite des Zimmers, und alles, woran er denken konnte, war, was sich dort unter dem dünnen Hemdchen befand.
Dimitri wandte sich ab, seine Finger zitterten, sein Gaumen spannte auf einmal und schwoll an. Ein seltsamer Schmerz lag ihm im Bauch.
„Ist Ihnen in den Sinn gekommen“, sagte sie unvermittelt, „ich könnte schwanger sein?“
War es ihm in den Sinn gekommen? Oh ja, oh in der Tat. Bei den Schicksalsgöttinnen, bei Gott, bei Luzifers schwarzem Herzen, es war ihm in den Sinn gekommen.
„Ich bete, dass Sie es nicht sind“, schaffte er zu sagen. Er war über die Jahre so vorsichtig gewesen, denn jedes Kind, das er zeugte, wäre auch an Luzifer gekettet, wegen der Abmachung, die Vlad Tepes damals mit dem Teufel getroffen hatte. Es war unvorstellbar, dass er seinem Kind eine derartige Bürde auferlegen würde. Es war daher ganz gut, dass er noch nie einen großen sexuellen Appetit gehabt hatte.
Er schaute von Maia weg. Bis jetzt.
„Ich bin es nicht“, sagte sie sanft.
Erleichterung drückte ihn so mächtig nieder, dass er fast laut aufseufzte. Gott sei Dank. Gott sei Dank. „Ich danke Ihnen, dass Sie mir das gesagt haben.“
„Ich konnte Alexander nicht heiraten, bevor ich nicht Gewissheit hatte.“
„Ich bin sicher, er wird es zu schätzen wissen.“ Die Worte kamen über sehr steife Lippen. „Sind Sie dann hier fertig, Miss Woodmore? Ich habe noch zu tun.“ Er wies vage zu seinem Schreibtisch.
Sie richtete sich auf, zog die Schultern zurück und zeigte noch mehr von ihren Brüsten. Deutlich mehr. Dimitri betrachtete seine Hand. Die Finger – ganz ruhig waren die nicht.
„Ja. Ich danke Ihnen, dass Sie sich die Zeit genommen haben“, sagte sie. Der Sarkasmus in ihrer Stimme war nicht gerade subtil zu nennen, aber er biss nicht an.
Er durfte ihr keine Beachtung schenken, als sie an ihm vorbei zur Tür ging, und dieses schwere, süß duftende Haar mit sich nahm, diese zarten Füße und diese schmalen Handgelenke, diese vollen, erotischen Lippen.
„La Belle et la Bête?“, hielt sie fragend an seinem Schreibtisch inne.
Geh. Bei allem, was heilig ist. Bei allem, was verdammt ist. Bitte geh.
„Es ist ein französisches Märchen“, sagte er, zwang seine Stimme, gelangweilt zu klingen.
„Ich kenne es. Diese Version, wie es der Zufall will.“ Sie schaute zu ihm. „Wie finden Sie es?“
„Ich habe es noch nicht gelesen“, knurrte er. „Was mir vielleicht gelingen würde, wenn Sie mich nun endlich in Ruhe lassen würden.“
Als sie um den Schreibtisch lief, schaute sie zu ihm hoch, jetzt war sie recht nah, und er vermochte kaum, ihr in die Augen zu schauen. Er kämpfte, um seinen Atem ruhig zu halten, um das Hämmern von seinem Herz leise zu halten, als es ihm im Brustkorb wild sprang. Seine Zähne drohten sich auszufahren, und er presste die Lippen aufeinander, weil alles, woran er denken konnte, war, wie nah sie ihm jetzt war. Und wie sehr er sie berühren wollte, und dann natürlich, dass er das nicht durfte. Nie. Wieder.
Seine Hände über diese elfenbeinfarbene Haut gleiten zu lassen, sie an sich zu spüren und sein Gesicht in ihrem Haar zu vergraben, diesen frechen Mund zu verschließen, der abwechselnd mit ihm stritt und dann lächelte und Vorträge hielt und widersprach.
Er konzentrierte sich auf das andauernde, stetige Pochen an seiner Schulter, auf den Schmerz dort. Er schien nicht mehr so schlimm wie früher zu sein. Aber vielleicht fiel es ihm einfach nicht mehr auf.
„Ist alles in Ordnung, Corvindale?“, fragte sie. Ihr Nachthemd flatterte so weit, dass es fast an die Stulpen seiner Stiefel schlug. Ihre Essenz stieg ihm in die Nase.
„Abgesehen davon, dass Sie mich von meinen Studien abhalten, ja, selbstverständlich ist es das“, erwiderte er und schaffte es, einen Schritt nach hinten zu tun, der nicht wie ein Rückzug aussah.
„Nun gut“, sagte sie. „Gute Nacht.“
Sie ging.
~*~
Maia flüchtete in ihr Zimmer.
Ihr Magen war in Aufruhr, drehte sich, schwankte, wie ein Schiff in einem Sturm.
Einen Moment lang hatte sie gedacht, er würde ... etwas tun. Die Arme nach ihr auszustrecken. Sie berühren. Sie bitten zu bleiben.
Ihr sagen, sie solle Alexander nicht heiraten.
Aber dann war er doch der gleiche, kalte Corvindale geblieben.
Sie setzte sich auf ihr Bett. Vielleicht nicht ganz derselbe. Da waren zärtliche Augenblicke gewesen. Die hatte sie sich nicht eingebildet.
Oder doch?
Sie ließ sich rückwärts auf das Bett fallen und schaute dann hoch in die Dunkelheit, es war ihr hundelend, tief in ihr. Leere machte sich in ihr breit, ihre Brust fühlte sich ausgehöhlt und kalt an.
Sie schloss die Augen, als die Tränen hochzukommen drohten. Dummes, törichtes Frauenzimmer.
Das war sie. Töricht. Verliebt in einen kalten, harten Mann. Den falschen Mann.
Dumm...
Maia musste geschlafen haben, denn sie träumte.
Er war wieder da, in ihren Träumen, aber diesmal erkannte sie ihn. Die großen, starken Hände, das dunkle Haar, das glatte, erregende Streicheln seiner Lippen, das Aufblitzen seiner Zähne, wie sie glatt in ihre Schulter hineinglitten.
Und zum zweiten Mal in dieser Nacht fuhr sie aus dem Traum hoch, mit hämmerndem Herzen, atemlos.
Ihre Träume fühlten sich so echt an. Ihr Körper war verschwitzt und angespannt, pochte und war lebendig ... aber sie war allein.
Maia setzte sich auf. Und auf einmal erinnerte sie sich an den Traum, den sie gehabt hatte, als Corvindale verschwunden war, den finsteren, furchterregenden Traum. Es musste so sein ... könnte es das gewesen sein ... dass der Traum das war, was er erlebt hatte? In den Klauen von Mrs. Throckmullins?
Und bedeutete das, dass...
Sie schluckte mehrmals, plötzlich ganz heiß. Könnte das bedeuten, dass, genau in diesem Moment, er dasselbe träumte, was sie gerade geträumt hatte?
Das Herz schlug ihr wild, sie begriff kaum, was sie tat. Maia rutschte von dem hohen Bett herunter, auf den Boden. Sie blickte kurz zum Fenster und sah dort in der Ferne einen schwachen Lichtschimmer, dort draußen auf den Dächern. Schon bald würde es dämmern. Ihre Füße machten kein Geräusch, als sie über den Holzboden zur Tür lief und diese öffnete.
Wenn er träumte, was sie träumte...
Ihre Finger schlossen sich um den Türknauf, und sie zögerte. Ihre Knie zitterten. Sie wusste, was sie tun wollte. Was sie gerade wirklich tun wollte... Aber würde es einen Unterschied machen? Würde das nicht noch mehr, weitaus größere, Probleme schaffen?
Aber als sie dort in den Schatten stand, halb im Korridor, halb in ihrem Schlafzimmer, wurde ihr klar, dass sie auf der Schwelle zu etwas ganz anderem stand.
Wenn sie zurück ins Bett ging, bliebe sie Miss Maia Woodmore, die bald schon Mrs. Bradington sein würde, Mitglied der vornehmen Gesellschaft, der Inbegriff von Anstand und Benimm. Sie würde Alexander heiraten, und sie würden glücklich miteinander sein, sie würden Kinder haben, so Gott will, und sie würde ein beschauliches, ruhiges, anständiges Leben haben. Und nie würde sie den Earl von Corvindale vergessen.
Und wenn sie nicht ins Bett zurückging ... konnte alles Mögliche passieren.
Gutes oder Schlechtes.
Liebe oder Schmerz.
Maia schloss die Augen, kämpfte, traf ihre Entscheidung und schloss leise die Tür.