NEUNZEHN

~ Von Ironie, Regenschirmen und Infernos ~

Nach seinen eisigen Worten, fegte Corvindale aus dem Zimmer in das angrenzende Ankleidezimmer und ins Badezimmer daneben. Maia ließ er allein auf dem Bett zurück. Betäubt.

Kurz darauf hörte sie, wie sich die Tür öffnete, die von jenem Zimmer zum Korridor führte, und wenig später schritt er wieder in das Schlafzimmer herein, mit einem großen Bündel Kleider auf dem Arm. Er war lediglich in Hosen und ein lose runterhängendes Hemd gekleidet.

„Ich nehme an, Sie brauchen Hilfe beim Ankleiden“, sagte er, während er die Kleidungsstücke überraschend sanft auf dem Bett ablegte. Sie hatte erwartet, er würde sie dorthin schleudern.

„Nein“, sagte sie und schnappte sich ein Unterhemd. Sie weigerte sich, ihn zu fragen, wie er zu den Kleidern gekommen war. Es war fast unvorstellbar, dass der Earl in ihr eigenes Zimmer gegangen war und ihre Schubladen und Schänke durchwühlt hatte. „Ich brauche Ihre Hilfe nicht.“

Das Unterhemd legte sich sanft niederschwebend über ihre Schultern und Hüften. Maia verzichtete auf das Korsett und die Unterhosen, und streifte sich stattdessen nur rasch ein einfaches Tageskleid über, das er ihr mitgebracht hatte. Glücklicherweise gestattete es ihr der Empire-Schnitt mit seiner hohen Taille, fürs Erste ohne Korsett auszukommen. So würde sie also in ihr Zimmer zurückgehen können und sich dann mit Bettys Hilfe ordentlich ankleiden, und sollte ihr jemand auf dem Weg zu ihrem Zimmer begegnen, würde es den Anschein haben, sie wäre gerade von einem Spaziergang zurückgekommen. 

Danach könnte sie dann hinuntergehen und ein schwieriges Gespräch mit Alexander führen. 

Nachdem sie einen Weg gefunden hatte, wie sie die Bissspuren verbergen konnte.

Nachdem sein widerwillig gemachtes Angebot abgelehnt worden war, drehte Corvindale sich weg und baute sich vor einem Fenster auf, den Rücken zu ihr, das Gesicht zu den dort zugezogenen Vorhängen, während sie sich fertig ankleidete.

Und während er da stand, dachte Maia darüber nach, wie erstaunlich es war, dass sie hier in dem Schlafzimmer des Earl war, nur er und sie, sie zog sich gerade an, nachdem sie mehrere Stunden in seinen Armen verbracht hatte. Nackt. Und jetzt nahm er sie kaum zur Kenntnis. Sie gingen jetzt so kühl miteinander um und waren so gleichgültig angesichts des Geschehenen, als wäre alles eine Geschichte aus einem Buch und nicht etwas, was wirklich geschehen, ihnen widerfahren war. Im wirklichen Leben.

Als sie das ungemachte Bett betrachtete, schauderte sie leicht bei der Erinnerung an eine Nacht, der sich nun Bedauern beimengte. Nie würde sie das Gefühl vergessen, wie sie auf seinen nackten Körper gefallen war, warm und hart, von rauhen, kratzigen Haaren bedeckt und auf seine harten Muskeln, seine Arme, die sich um sie schlossen. Sein Mund, der von ihrem nahm.

Sie gehörte dorthin.

„Das einzige Mal, dass ich eine Frau geliebt habe“, sagte er plötzlich, immer noch mit dem Rücken zu ihr, „gab ich alles für sie hin. Mein Herz. Mein Leben. Und auch – buchstäblich – meine Seele.“

Maia hielt in ihren Bewegungen inne, gerade hatte sie das Bündel unbenutzter Kleider hochheben wollen. Das Herz hämmerte ihr. Sie hatte so viele Fragen. „Lerina?“

„Gott und die Schicksalsgöttinnen! Nein! Denken Sie, ich bin von allen guten Geistern verlassen? Ihr Name war Meg. Ich bin wegen ihr ... wegen ihr bin ich zu dem geworden, was ich heute bin.“

„Sie sind wegen ihr einen Pakt mit dem Teufel eingegangen?“

Er nickte, seine Finger spielten mit den schweren Vorhängen, die immer noch vor dem Fenster hingen. „Ich dachte, ich würde ihr damit das Leben retten. Unser beider Leben.“

„Was ist dann passiert?“, fragte Maia und stellte sich vor, wie gerne sie alt und gebrechlich in seinen Armen gestorben wäre, während er ewig jung geblieben wäre.

„Sie hat mich verlassen.“

Oh. „Das tut mir Leid.“

„Mir auch.“

Etwas Weiches schwoll in ihrer Brust an, und Maia musste an sich halten, nicht die Arme nach ihm auszustrecken. Selbst mit dem Rücken zu ihr, konnte sie die Anspannung in seinen Schultern erkennen. Sie glaubte auch, die schwarzen Linien der grauenvollen Zeichnung auf seiner Haut zu sehen, durch sein Baumwollhemd hindurch, jene gewundenen schwarzen Adern, so breit wie die Äste eines Rosenbuschs.

„Haben Sie Lerina auch geliebt?“

„Ich habe nie wieder jemanden geliebt.“ 

Maia schluckte. Also auch mich nicht. „Auch das tut mir Leid, Corvindale.“ Sie hielt das Bündel Kleider an ihre Brust gepresst und stand einfach nur da. 

Er verlagerte das Gewicht, als wolle er sich umdrehen, und tat es dann doch nicht, sondern blieb mit dem Rücken zu ihr stehen, seine Finger um die Vorhangenden gekrallt. „Sie wissen, dass ich mit Vornamen Dimitri heiße.“

„Ja. Ich habe keine Veranlassung, diese Anrede zu verwenden“, sagte sie steif. Lerina hatte ihn Dimitri, Liebling genannt, in einem so falschen, zuckersüßen Ton, dass Maia jetzt noch davon übel wurde. Abgesehen davon waren sie nicht vertraut genug miteinander. Nicht mehr. 

„Ich wollte damit nicht sagen, dass Sie das tun sollten, Miss Woodmore.“ Seine Stimme wurde ein bisschen weicher, als er fortfuhr. „Meine Mutter war eine rumänische Prinzessin, die meinen Vater den Earl geheiratet hat, und sie taufte mich Dimitri Gavril. Sie rief mich immer Gavril.“ 

Maias Lippen zuckten, denn sie begriff, warum er es ihr erzählt hatte. „Gavril oder im Griechischen Gabriel. Ich glaube man übersetzt es mit ‚Mann Gottes‘.“

Als sie auf seinen schwarzen Kopf schaute, stolz erhoben, seine Schultern gerade und aufrecht, und die Andeutung der schwarzen Zeichnung des Teufels unter seinem Hemd, wusste sie, dass es für ihn wie bittere Ironie klingen musste.

~*~

„Wenn Sie Mr. Bradington bitte mitteilen würden, dass Miss Woodmore hier ist, um mit ihm zu sprechen“, sagte Maia zu Alexanders Butler, Driggs, als dieser ihren Regenschirm entgegennahm.

„Der gnädige Herr ist seit gestern Abend unpässlich, Miss“, verkündete Driggs ihr ernst. „Ich werde versuchen, ihn zu wecken.“

Sie schluckte ihre Nervosität herunter, als Driggs ihr bedeutete, in dem kleinen, privaten Salon zu warten. Alexander hatte Blackmont Hall an jenem Morgen nach dem „Missverständnis“ mit ihrer Verabredung verlassen, um einen Spaziergang zu machen. Und er war auch am Nachmittag nicht wiedergekehrt, und auch nicht tags darauf. 

Dass er dies nicht getan hatte, hinterließ bei Maia ein ungutes Gefühl, und heute, als sie sich fertig angekleidet hatte und nachdem sie das Mittagessen – wo sie herzlich wenig zu sich nahm – über sich ergehen ließ, hatte sie beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und ihm einen Besuch abzustatten.

Einem Herrn einen Besuch abzustatten war ganz und gar nicht schicklich, es sei denn in Begleitung einer Anstandsdame, aber im Falle des eigenen Verlobten, gab es da einen gewissen Spielraum. Dennoch, Maia war nicht sonderlich erpicht darauf, jemandem aufzufallen, und daher war sie sehr dankbar für den heftigen Regen und die dunklen Wolken, die es ihr ermöglichten, sich unter einem ausladenden, sperrigen Regenschirm zu verstecken, als sie den kurzen Weg zu seiner Haustür hochging. Aus demselben Grund hatte sie eine Droschke bestellt, anstatt mit einer von Corvindales Kutschen zu fahren. Und, eingedenk der Warnungen von sowohl Dewhurst als auch Corvindale, hatte sie Blackmont Hall durch den Hinterausgang, den Dienstbotenausgang, verlassen, tief verhüllt von einem langen Umhang. Jemand, der darauf lauerte, dass sie das Haus verließ, würde nicht nur Probleme haben, sie zu erkennen, er würde sie auch höchstwahrscheinlich für eine Magd oder Dienerin halten. 

Jetzt, da sie hier war und dem Regen lauschte, brachte sie ihre Röcke in Ordnung, ordentlich über Knie und Füße. Um den Saum waren sie nass geworden und hingen daher schwer herab, der Saum gerade mal an ihren etwas feucht gewordenen Schuhen. Die waren ruiniert, aber ihre Schuhe waren im Moment auch wahrlich nicht ihre Hauptsorge.

Wie sollte sie es Alexander nur beibringen? Was würde sie ihm erzählen? 

Vermutete er bereits etwas, und war das der Grund für seine Unpässlichkeit? Nein, ganz sicher nicht. Wie hätte er denn Verdacht schöpfen sollen?

Es musste ihm wirklich unwohl sein, was auch erklärte, warum er sie nicht mehr besucht hatte. Der arme Alexander, immer der Gentleman. Wahrscheinlich versuchte er, damit zu verhindern, dass sie auch krank wurde. Vielleicht ... sie hoffte, er war nicht krank, weil er sich Sorgen um sie machte. Das wäre einfach mehr, als sie ertragen könnte. 

Die Tür zum Salon öffnete sich plötzlich, und bei dem unerwarteten Geräusch zuckte Maia zusammen. 

„Alexander“, sagte sie und ermahnte ihr klopfendes Herz, ruhig zu bleiben, und erhob sich prompt. Sie schaute ihn sich genau an, suchte nach Anzeichen für Krankheit oder Schlaflosigkeit.

„Maia“, erwiderte er und lächelte sie an. Ihm schien nicht unwohl zu sein, seine schottische Abstammung zeigte sich an seinem gutaussehenden, frisch rasierten Gesicht, dem schon immer eine gesunde Gesichtsfarbe eigen war. Seine graublauen Augen glitten wohlwollend über sie, und sein kastanienbraunes Haar und die Koteletten waren gekämmt und parfümiert, als hätte er auf ihren Besuch gewartet. „Ich bin entzückt, Sie endlich zu sehen. Ich wollte Ihnen heute meine Aufwartung machen, aber ich habe heute Nachmittag eine wichtige Verabredung. Vielleicht möchten Sie mir auf dem Weg dorthin Gesellschaft leisten, und wir können in der Kutsche miteinander reden? Ich glaube, wir haben uns viel zu erzählen.“

„Ja“, antwortete sie und fühlte sich ein wenig verunsichert, als wäre nichts geschehen. Vielleicht war für ihn, in seinem Kopf, auch wirklich nichts geschehen. 

In seinem Kopf. Ein eiskaltes Gefühl legte sich um sie. Corvindale. War er hergekommen und hatte Alexander überredet, alles sei in bester Ordnung? Hatte er ihren Verlobten mit seinem Bann belegt, um ihn zu einer Heirat mit ihr zu zwingen, egal, was sie ihm auch beichtete?

Konnte er so etwas überhaupt?

Maia presste die Lippen zusammen. Sie würde mit dem Earl ein Wörtchen reden müssen. Schon wieder. 

„Sehr schön, also dann, meine Liebe“, sagte er und bot ihr seinen Arm an, während er einen großen Regenschirm aufspannte. „Ich verspreche, meine Verabredung wird gar nicht lange dauern.“

Er hielt die Bedeckung hoch und über sie, während sie durch den strömenden Regen zu seiner Kutsche fast rannten. Der Regen prasselte jetzt derartig heftig, dass er auf dem Boden um sie hochspritzte und ihr das untere Drittel ihres Kleides gänzlich nass machte. 

„Da gibt es etwas, was ich Ihnen sagen muss“, sagte Maia und nahm, wie all ihre schweren, nassen Röcke, auch all ihren Mut zusammen, als sie ihm gegenüber in der Kutsche Platz nahm. Wegen des kurzen Laufs zur Kutsche atmete sie schwer und wünschte sich, sie hätte einen etwas wärmeren Mantel angezogen, gegen die Kälte, die ihr jetzt in die Glieder kroch. „Es gibt etwas, worüber wir sprechen müssen.“

Selbst wenn Corvindale hier gewesen war oder irgendwie mit Alexander geredet hatte, würde sie ihm immer noch das erzählen, was sie ihm erzählen musste, und sich später um den Earl kümmern.

„Ich habe auch ein paar Dinge, die ich dir sagen muss“, sagte Alexander, als er die Kutschentür zuzog und gegen das Dach derselben klopfte. „Die Dinge haben sich geändert.“

Das war der Moment, in dem sie merkte, dass etwas nicht in Ordnung war. Es war die Art, wie er es sagte, die Art, wie er sie anschaute. Seine Stimme klang merkwürdig, ein merkwürdiger Tonfall darin, bei dem die Härchen auf ihren Unterarmen sich aufrichteten.

„Was meinen Sie damit?“, schaffte sie noch zu sagen, als die Kutsche schaukelnd durch die Straßen eilte. 

Er lächelte ihr zu. Und zeigte ihr leuchtend weiße Eckzähne. Lange Eckzähne.

Maia unterdrückte einen Aufschrei. „Sind die wirklich echt?“, fragte sie und versuchte, eine kühle Stimme – und einen ebensolchen Kopf – zu bewahren. Unmöglich. Ihr Verstand drohte in alle Richtungen auszubrechen, aber sie zwang sich, ihre sieben Sinne beieinander zu halten. Das war jetzt nicht der rechte Augenblick, in Panik zu verfallen. 

Zur Antwort betrachtete er sie mit rot glühenden Augen. „Warum kommst du nicht näher und überzeugst dich selbst?“ Er grinste und klopfte neben sich auf die Sitzbank. 

„Alexander! Wie konnte das passieren? Was ist geschehen?“ Das Herz drohte, ihr aus der Brust zu springen, unter ihren Handschuhen waren ihre Handflächen feucht, aber sie dachte rechtzeitig daran, den Blick abzuwenden. 

„An dem Tag, als du unsere Verabredung zu einem morgendlichen Spaziergang vergessen hast, bekam ich Besuch. Es war recht seltsam, denn sie bat mich, mit ihr in ihrer Kutsche mitzufahren, weil du mich heimlich treffen wolltest.“ 

„Mrs. Throckmullins. Lerina“, sagte Maia, und der Mut sank ihr. 

Alexander nickte, ein merkwürdiges Lächeln lag ihm um den Mund. „Ja, in der Tat. Ich habe nicht lange gebraucht, um zu entdecken, dass sie mich nicht zu dir brachte, sondern etwas anderes vorhatte. Wie sich herausstellte, ist sie ziemlich wütend auf Corvindale, und ich war ihrem Vorschlag, ihrer Rasse beizutreten, ganz und gar nicht abgeneigt. Es war entweder das oder zu sterben. Und die Wahl zwischen der Unsterblichkeit und dem Tod fiel mir nicht schwer.“

„Aber Sie ... Sie haben dem Teufel Ihre Seele verkauft“, sagte sie. „Ihre Wahl verflucht Sie zur ewigen Verdammnis.“

„Aber ich werde ewig leben“, sagte er. „Und unter dem Schutz Luzifers. Daher wird das niemals eintreten.“

Maia schüttelte den Kopf. „Alexander, nein, Sie–“

„Genug jetzt.“ Er bewegte sich, plötzlich saß er auf der anderen Seite der Kutsche direkt neben ihr. „Ich sehe, dass du bereits in die besonderen Genüsse meiner neuen Rasse eingewiesen worden bist“, sagte er und packte sie mit einem Arm, so dass sie neben ihm feststeckte. Mit der anderen Hand hob er die breite Perlenhalskette hoch, die sie trug, um die fast verheilten Bissspuren von Corvindale zu verbergen.

„Lassen Sie mich los“, sagte sie und kämpfte gegen die Panik an. Die Kutschentür war auf der anderen Seite, neben Alexander, und sie war verriegelt. Sie würde an ihm vorbeigelangen müssen, und sie aufschließen, um hinausspringen zu können – und die Kutsche fuhr auch noch sehr schnell. Ihr Magen verdrehte sich sehr unangenehm, und ihr wurde bang. „Mein Bruder wird Ihnen einen Pflock durch das Herz jagen, wenn Sie mir wehtun. Wenn Corvindale Sie nicht zuerst aufspürt, und ich versichere Ihnen, er–“

„Ah, ja. Ich bin über deine Schwäche für Corvindale unterrichtet.“ Bislang war sein Lächeln recht freundlich gewesen, aber jetzt fror es ihm auf den Lippen ein. „Ich vermute, du hast diese Bisswunden von ihm.“

Bevor sie reagieren konnte, drehte er sich, sein Gewicht schob sie in eine Ecke des Sitzes, als er über sie herfiel. Maia holte Luft, um zu schreien, aber er legte ihr grob eine Hand über den Mund und schlug seine Zähne in ihre Schulter.

Sie zuckte vor Schmerz hoch, bog sich durch, suchte mit ihren behandschuhten Händen nach ihm zu greifen, ihn zu kratzen, sich von der Hand zu befreien, die sie erstickte. Sie spürte, wie das Blut aus ihr herausschoss, seine Lippen auf ihrer Haut, das Gewicht seines brutalen Körpers auf ihr, der sie in der dunklen Ecke niederdrückte, während die Räder weiter über das Pflaster holperten. 

Er stöhnte, seine Brust hob und senkte sich ruckartig an ihr, als er gierig das Blut aus ihrem Fleisch trank, seine derbe Hand fest auf ihren Mund und ihre Wangen gedrückt. Einer ihrer Arme war zwischen ihnen und der Rückenlehne eingeklemmt, aber die andere konnte sie freibekommen, schlug damit verzweifelt gegen ihn, zog an seinen Haaren, kratzte ihn am Arm. Vergeblich.

Auf einen besonders heftigen Schlag von ihr gegen seinen Kopf, gerade über seinem Ohr, löste Alexander sich von ihr. Die Augen glühten rot, und Blut sammelte sich in seinen Mundwinkeln, in das auch seine Zähne getaucht waren, er verlagerte das Gewicht, ließ ihren Mund los und packte sie an beiden Armen. Er hielt ihre beiden Handgelenke mit einer starken Hand fest, zwang sie zwischen sie beide, wo sein Gewicht Arme und Hände zwischen ihren beiden Oberkörpern eingeklemmt hielt. 

„Alexander“, sagte sie, nach Luft schnappend, versuchte, hoffte, durch diesen Blutrausch hindurchzugelangen, der von ihm Besitz ergriffen hatte. „Corvindale und Chas werden Sie töten. Lassen Sie mich los.“

„Das kann ich nicht, meine liebe Maia“, sagte er, seine Zunge fuhr an seinen Mundwinkeln entlang, um das letzte bisschen Blut zu finden. „Ich habe meine Befehle. Aber es gibt überhaupt keinen Grund, warum ich nicht von dir kosten soll. Ich hätte nie gedacht, es könnte mir solche Lust bereiten.“ Er beugte sich wieder herab, und sie verkrampfte sich, erwartete, dass er ihr wieder die Reißzähne in die Schulter schlagen würde, aber diesmal legte er seinen Mund roh und brutal auf den ihren.

Blutbesudelt schmeckte er wie Kupfer, und nach etwas Finsterem und Hässlichem. Er war bestialisch und rücksichtslos, seine Zähne kratzen an ihrem Mund und schlitzten ihre Lippen auf, als seine Zunge zustieß und tief in sie eindrang. Sie wand sich verzweifelt und kämpfte, Tränen ohnmächtiger Wut und Angst fielen aus ihren Augen.

Corvindale. Chas. Beeilt euch.

Sie spürte, wie aus der Wunde an ihrer Schulter die Wärme aus ihrem Körper sickerte, als er sich zu ihrem Hals hinbewegte, dann den schneidenden Schmerz, als er erneut seine Zähne in sie schlug. Sie würden nicht rechtzeitig bei ihr eintreffen. Er würde ihr alles Blut aussaugen. Sie töten.

Maia schloss die Augen, versuchte sich zu konzentrieren, die entsetzliche Furcht wegzuschieben, die sie zu lähmen drohte. Weit weg, hinter ihrer Furcht noch, hörte sie das Prasseln von Regen auf dem Kutschendach und die Vibrationen des Gefährts, wie es sich vorwärts bewegte. Sie musste Abstand gewinnen, weg von dieser Gegenwart voll fürchterlicher Angst, und nachdenken. Denk nach. Gab es etwas, womit sie ihm Einhalt gebieten konnte? Noch hatte er nicht angefangen, ihr die Kleider von Leib zu reißen, aber sie konnte die harte Ausbuchtung spüren, die seine Erregung verriet, und sie vermutete mit schrecklicher, angsterfüllter Gewissheit, dass er den bisherigen Schändungen schon bald weitere hinzufügen würde.

Aber Wärme und Leben flossen aus ihr heraus, zusammen mit ihrem Denkvermögen, und sie trieb irgendwo auf einer Bewusstseinsebene aus Furcht und Schmerz hinaus, grobe Hände überall an ihr, die unablässige Bewegung der Kutsche unter ihr.

Und dann hörte es auf.

Er löste sich und setzte sich auf, schaute sie an. Ein Tropfen Blut färbte seinen Mundwinkel rot, und seine Augen, trübe vor Lust, brannten auf sie nieder. „Bedauerlicherweise“, sagte er, „sind wir am Ziel.“

Maia versuchte sich hochzuziehen, aber das Kutscheninnere drehte sich um sie, und sie fiel geschwächt auf die Sitzbank zurück. Blut rann ihr an Schulter und Hals herab, oben über ihre Brust und tropfte ihr in den Ausschnitt ihres Kleides. 

Sie hörte ein Klicken, und die Kutschentür öffnete sich. Der kalte, feuchte Luftzug belebte sie ein klein wenig, aber als sie Mrs. Throckmullins sah, überkam sie jäh neue Furcht. 

„Noch ein Wiedersehen, meine liebe Miss Woodmore“, sagte sie, Regen trommelte hektisch auf ihren Schirm nieder. „Ich sehe, du hast ein wenig von unserer Freundin hier gekostet, liebster Alexander. Aber was für ein Blutbad du dabei veranstaltet hast. Trottel.“ Ihre Stimme wurde hart. „Sie darf uns nicht verbluten.“

Mit einer raschen Bewegung warf Lerina den Regenschirm jemandem hinter ihr zu, und Maia erspähte dort kurz eine Backsteinmauer, hoch und groß in dem fahlen Licht. Dann zerstoben sämtliche Gedanken, als die Frau zu ihnen in die Enge der Kutsche stieg und die Tür hinter sich zuschlug. 

„Dann wollen wir uns mal um das hier kümmern“, sagte sie und ließ sich auf dem Sitz gegenüber nieder. „Halt sie fest“, sagte sie, als Maia zu strampeln anfing, darum bemüht sich aufzurichten, um aus der Kutsche zu gelangen. 

Alexander packte ihre Schultern und dann ihre Handgelenke und hielt Maia still, als Lerina näher kam. „Sie riecht herrlich, ganz wundervoll“, sagte die andere Frau, als sie sanft an Maia roch. „Schon bei unserem ersten Treffen kam mir der Gedanke.“ Sie fuhr mit einem Finger hinab, in das Blut, das dort immer noch reichlich aus ihren Wunden floss, und führte diesen an den Mund. Mit einer ungestümen Geste wischte sie es dort ab und schmeckte und lächelte. 

„Aber, aber, Miss Woodmore, Sie brauchen keine Angst zu haben“, sprach sie zu ihr, als sie sah, wie Maias Augen sich weiteten. Sie griff nach Maias Kinn, hielt es in ihren starken, spitzen Fingern fest. „Es wird überhaupt nicht wehtun, und dann kümmere ich mich darum, dass die Blutung aufhört. Wir wollen ja nicht, dass Sie sterben, bevor Dimitri hier eintrifft. Schließen Sie jetzt einfach die Augen, und genießen Sie es.“

Maia hätte geschrieen, aber die Frau hielt ihr den Mund zu, grob und angeekelt. „Ich will Ihr Geschrei wirklich nicht hören“, sagte sie wütend. „Es verdirbt mir alles.“ 

Maia konnte sich nicht rühren, denn das Gewicht von Alexander und seine Hände hielten ihren Körper eingekeilt fest, und ihre Arme zwischen ihnen ebenso, während Lerina ihren Kopf bewegungsunfähig hielt. Sie entblößte ihre langen Zähne, ein schwarzes Funkeln in ihren Augen, und schlug ihre scharfen Zähne in Maias Schulter. 

Maias Sichtfeld flatterte bald, zwischen hell und dunkel, hin und her, ihr Magen zog sich zusammen und verkrampfte sich, als sie hinter dem Knebel von Lerinas Hand mühselig um Luft rang. Das rhythmische Ziehen und Saugen der Lippen dieser Frau pflanzten sich in ihrem ganzen Körper fort, zehrten sie ganz tief drinnen aus. Ein leises Flattern unerwünschter Lust entfaltete sich in ihrem Bauch, nur ein kleines Fiepen in dieser finsteren Welt aus Angst und Schmerz, und Maia spürte, wie ihr die Tränen herunterliefen. 

Nach einer langen Weile war es vorbei. Lerina löste sich von ihr, die Lippen geschwollen, die Augen leuchtend rot. Lustvoll summte sie leise vor sich hin, Blutgeruch lag auf ihren heftigen Atemstößen. Maia hielt die Augen geschlossen und dachte nur daran, dass die beiden sie nicht töten wollten. Zumindest nicht, bis Corvindale eintraf. 

Eine Falle für ihn. Natürlich war es eine Falle, aber er war klug. Und stark und mächtig. Zu klug, um einfach überlistet zu werden, ganz besonders nicht ein zweites Mal. Und er hatte Mr. Cale und Chas und dann auch noch Dewhurst und Iliana, um ihm zu helfen. Sicherlich, würde er nicht zu Schaden kommen. Sicherlich–

Lerina beugte sich wieder zu ihr, und Maia verkrampfte sich, fühlte, wie Alexanders Hände an ihrer Schulter fester zupackten. Sie krümmte sich, aber sie war machtlos, und anstatt sie zu beißen, fuhr Lerina diesmal ihre Zunge aus. Das Gefühl, wie diese Frau sie an der Schulter leckte, war noch schlimmer, als von ihr gebissen zu werden, zu lecken und sanft an ihrem Fleisch das letzte bisschen Blut aus den neuen Wunden wegzulecken.

Maia zitterte innerlich heftig, als beide sie festhielten, und jetzt gleichzeitig an den Bisswunden an ihrem Hals und an ihren Schultern schleckten. Ihre Haut ekelte sich unter den feuchten Zungenschlägen und unter diesen widerwärtigen Lippen, und sie versuchte, in Ohnmacht zu fallen, versuchte, in eine Art schwarze Bewusstlosigkeit zu versinken, damit sie dieses Gefühl auf ihrer geschundenen Haut nicht mehr spürte. 

Sie musste nicht lange warten. Gnadenvollerweise kam Schwäche über sie, und Finsternis verdunkelte ihre Augen. Maia ließ sich willig hineingleiten.

~*~

Dimitri starrte auf das Stück Papier. Er war starr vor Kälte, am ganzen Körper wie gelähmt, dann zersprang sein Kopf in Tausend Scherben Furcht. Und jetzt stieg unbändiger, maßloser, alles vernichtender Zorn in ihm hoch.

Er durfte dieser Furcht nicht anheim fallen, also verlegte er sich darauf, die Wut zu erkunden. 

Ich habe etwas, was du begehrst.

Das war alles, was auf dem Papierfetzen stand, aber er brauchte auch nicht mehr, um zu verstehen. Das Papier war getränkt in Lerinas Duft, neben dem von Maias Blut. 

Sobald er es gerochen hatte, erlaubte Dimitri seinen Gedanken nicht, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Nein. Diesen Weg einzuschlagen, würde ihn in den Wahnsinn treiben. Die Fakten, halte dich an die Fakten. Denk nur an das, was du sicher weißt.

Maia war heute am frühen Nachmittag aus dem Haus gegangen, vor vielen Stunden, um Bradington einen Besuch abzustatten. Sie hatte eine Droschke genommen, anstatt eine seiner Kutschen, eine Tatsache, über die er erst zum Abendessen unterrichtet wurde, als Angelica an die Tür seines Arbeitszimmers hämmerte, um ihm mitzuteilen, ihre Schwester sei noch nicht zurück.

Selbst da hatte er sich noch keine allzu großen Sorgen gemacht, sondern sich stattdessen mit Bildern von zwei Verliebten gequält, die, wieder vereint, einfach alles um sich herum vergaßen. Auch die Uhrzeit. 

Aber jetzt...

Er zwang seinen Kopf dazu, leer und beherrscht zu bleiben. Die einzelnen Schritte mit der Hilfe von Logik und Objektivität durchzuspielen. Offensichtlich wollte Lerina, dass er kam. Offensichtlich hatte sie etwas vor.

Offensichtlich würde Maia nicht getötet werden, zumindest nicht, bis er dort eingetroffen war. So hoffte er. Lerina war kein Cezar Moldavi.

Er würde Hilfe brauchen, jemanden, der ihm den Rücken freihielt. So dumm war er nicht. Giordan. Chas war immer noch in Schottland, verflucht. Iliana. Selbst Voss. Eddersley. Gehrington. Vielleicht Eustacia, die Frau, die manchmal mit Iliana trainierte, wenn sie schon aus Rom zurück war. 

Nicht, dass er abwarten würde, bis auch nur einer von ihnen hier war. Aber zumindest wären sie ihm hart auf den Fersen. 

Und so bewahrte Dimitri einen kühlen Kopf, eisern beherrscht, während er Crewston Befehle zubrüllte, Nachricht zu Rubey zu schicken, in die Hinterzimmer vom White’s, und zu Dewhurst. Er ließ nach Tren und Iliana rufen, gab Hunburgh Anweisungen, wie das Haus zu sichern sei und wer zu benachrichtigen sei, sollte das Schlimmste eintreten. 

Darüber würde er jetzt nicht nachdenken.

Wo waren sie? Sie hatte keine Adresse angegeben, keinen Hinweis ... Sie mussten an demselben Ort sein, von dem sie zuvor geflüchtet waren. Oder zumindest müsste er dort beginnen und sie von da aus notfalls aufspüren. Er wünschte, er hätte seine Hunde hier, aber er brachte sie nie mit nach London.

Diese Gedanken – diese Gedanken, wie aus kaltem Stahl – ließen ihn die Ruhe bewahren, als er seinen Überrock abstreifte und sich Kleider anzog, die einem Händler eher angemessen waren denn einem Earl. Weite Hosen mit Taschen und ein Hemd und festes Schuhwerk. Und einen Rock mit weiteren Taschen, in denen er Holzpflöcke verstaute. Er nahm seinen Degen, der als Spazierstock getarnt daherkam, und ging aus dem Haus, so gut vorbereitet, wie es nur möglich war. 

Er ließ die wartende Kutsche links liegen und nahm stattdessen das gesattelte Pferd, denn es war wesentlich schneller, und Tren hatte in weiser Voraussicht beides bereitgemacht. Die Kutsche würde nachkommen, sobald die anderen eintrafen.

Sollten sie eintreffen.

Dimitri galoppierte durch die Straßen, dankbar für einen Mnd, der ihm die Welt fast so gut ausleuchtete wie eine Sonne. Die Morgendämmerung würde in wenigen Stunden anbrechen. 

Als er sich dem verlassenen, abgelegenen Haus in der Nähe von Fischerman’s Wharf näherte, in dem man ihn und Maia gefangen gehalten hatte, glitt Dimitri von dem Pferd, noch bevor dieses richtig stehen geblieben war. Er landete auf beiden Beinen und nahm die Zügel in eine Hand, schaute sich um, nach einer Stelle, wo er das Tier anbinden könnte, oder nach einem Straßenkind, das für ihn darauf aufpassen konnte. Das Haus war mehrere Häuserblocks entfernt, und er wollte sich möglichst unauffällig nähern. 

Obwohl es schon weit nach Mitternacht war, herrschte auf den Docks noch reges Treiben. Fischersleute und Matrosen liefen herum, redeten, prügelten sich, löschten Ladung oder beluden Schiffe. Die Luft war voller Geräusche von Streitereien und Ausgelassenheit. Die Gerüche von Fisch und Seewasser vermischten sich mit dem von etwas, was in der Nähe brannte, und dem unvermeidlichen Gestank von Abfall. 

Immer noch ruhig, eiskalt, sah er sich um. Und dann erblickte er sie. 

Lerina stand in der Mitte, in der schmalen Straße. Sie wurde von zwei Männern flankiert – höchstwahrscheinlich gemachte Vampire – und beobachtete, wie Dimitri sich ihnen näherte. Ihre Augen glühten schwach, und sie stand wie eine königliche Hoheit da, als wäre er ein Untertan, gekommen um ihr Ehre zu erweisen.

„Wo ist sie?“, fragte Dimitri barsch, seine Selbstbeherrschung fing an zu bröckeln, als er Maia an Lerina roch ... und an dem Mann neben ihr. Bradington. Dessen Augen spöttisch glühten.

Dimitri wurde bang, aber er kämpfte das Gefühl nieder. So war Lerina also an Maia herangekommen. Er gestattete es seinen Augen, ein klein wenig zu glühen, ließ die Spitze eines Zahns sehen. Sie waren ihm in Kraft oder Schnelligkeit nicht ebenbürtig, und Lerina würde das wissen. Ohne die Hilfe von Rubinen, stellte nicht einmal sie eine Bedrohung für ihn dar. Und er spürte auch keine Rubine an ihren Begleitern.

Diese Tatsache verursachte ihm Unbehagen.

„Ich war nicht sicher, ob du sie immer noch haben willst. Jetzt, da wir mit der Göre fertig sind“, erwiderte sie. „Obgleich ich jetzt durchaus sehe, warum du so gern von ihr gekostet hast. Sie ist wirklich ein kleiner Leckerbissen.“ Eine aufkommende Brise brachte mehr Fischgestank zu ihm, zusammen mit dem Geruch von Flammen und brennendem Holz. 

„Wo ist sie?“

„Ich war mir nicht ganz sicher, hinsichtlich deiner Gefühle für sie. Beim ersten Treffen“, ließ Lerina das Gespräch weiterplätschern. „Schließlich warst du da extremen Prüfungen ausgesetzt. Aber du hast von ihr getrunken – deine Selbstbeherrschung und Abstinenz sind schon fast legendär, weißt du, und es war ein Schock, zu entdecken, dass irgendetwas dich dazu gebracht hatte, beides hinzuwerfen. Und dann war da noch die Art, wie du sie angeschaut hast ... nun, ich hatte so einen Verdacht. Also musste ich mich natürlich vergewissern. Es war recht amüsant, wie sie kam, um dir zu helfen, in jener Nacht in–“ 

Bevor sie den Satz noch beenden konnte, machte Dimitri eine jähe Bewegung und hielt Lerina im Arm, mit einem Holzpflock direkt über ihrem üppigen Busen. „Wo ist Maia?“

Ihre Augen weiteten sich, offenkundig vor Bewunderung, und sie bog sich ein wenig durch, presste ihre Hüften gegen ihn. „Luzifers Schwanz, du lässt mein Herz immer noch höher schlagen, Dimitri. All diese unbändige Kraft und Wut unter der Oberfläche.“ Sie zuckte in seinen Armen mit den Schultern, ihre Brüste drückten gegen ihn, als sie ihren Kopf nach hinten neigte, wie um ihm eine bessere Zielscheibe darzubieten. „Nur zu, tu, wonach es dich gelüstet. Aber wenn du mich tötest, wirst du nicht wissen, wo du Miss Woodmore finden kannst. Und dir läuft die Zeit davon.“

Ohnmächtige Wut, die mit der aufsteigenden Angst kämpfte, brachte ihn dazu, sie loszulassen, und wieder musste er kämpfen, um seine wilden Gedanken im Zaum zu halten. „Sag mir, wo sie ist?“ Er blickte kurz zu Bradington, der einen Schritt zurück gemacht hatte und etwas weniger zuversichtlich aussah wie kurz zuvor. 

„Ah, bitte tu dir keinen Zwang an. Er war nur ein Mittel zum Zweck, um hier ... an diesen Punkt zu gelangen. Genau hier, genau da, wo ich dich haben will.“

„Und so bin ich also hier.“ Er blickte hinter sie, als eine weitere Wolke von Rauch ihm in die Nase stieg, und er einen niedrigen Schimmer von Rot in der Ferne sah. Und auf einmal, waren all seine Sinne wie abgestorben. Das Haus, eben jenes Haus, in dem man sie gefangen gehalten hatte, stand in Flammen.

„Ja, Dimitri. Sie ist da drin“, sagte Lerina. 

Aber er hatte sich schon an ihr vorbeigeschoben und flog dem Haus entgegen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, er fegte wie ein Wirbelwind durch die Nacht, wusste, irgendwo gab es einen Haken ... eine Überraschung, die auf ihn wartete.

Sie konnte tot sein. Sie konnte eine Gemachte sein. Sie war vielleicht nicht einmal dort drinnen, es war vielleicht eine Art Hinterhalt ... es konnte sogar Cezar dort drinnen auf ihn warten.

Züngelnde Flammen fauchten an den zersprungenen Fenstern, Rauchschwaden rollten vom Dach. Das Haus stand lichterloh in Flammen. Wenn sie drinnen war, wie konnte sie da noch am Leben sein?

Für einen kurzen Moment wurde Dimitri zu dem Großen Brand von London zurückgeworfen, und er hielt inne. Nur einen Moment lang, und dann ging er weiter, so entschlossen und so schnell wie zuvor.

Denn jetzt war es anders. Das hier war Maia, das hier war jetzt, und er war ein Drakule. Feuer konnte ihm nichts anhaben, es peitschte nur um ihn und erinnerte daran, wie es in der Hölle sein würde, würde sich aber nicht wirklich in ihn hineinfressen. Wenn er Maia finden könnte, wäre er schnell genug, um sie herauszuziehen und sicher mit ihr durch die Feuersbrunst zu springen.

Wenn er sie finden könnte. Wenn sie noch am Leben war. 

Sein Kopf war seinen Füßen drei Schritte voraus, und er riss sich das Hemd von Leib, versenkte es in einer Regentonne. Nass und feucht würde es dabei helfen, Maia zu schützen, wenn – sobald – er sie fand und sie herausbrachte. 

Als er sich dem Gebäude diesmal näherte, musste er nicht nach einer Öffnung suchen, die nicht brannte. Er stieß die brennende Tür einfach nieder. Dort stand er dann: an einem dunklen, heißen Ort, voller Rauch, der ihm die Sicht nahm, obwohl er normalerweise im Dunkeln sehen konnte. 

„Maia!“, brüllte er und atmete dabei einen großen Schwall Rauch und Asche ein, als er sich rasend schnell einen Weg durch das Erdgeschoss des Hauses bahnte, auf der Suche nach einer Stelle, die nicht in Flammen stand. Er versuchte, sie zu riechen, ihren Duft inmitten von Ruß und brennendem Holz zu finden, und endlich, als er bei der Treppe anlangte, fand er ihn auch.

Sie war hier. Sie war hier.

Oder, sie war hier gewesen.

„Maia!“, rief er ein zweites Mal, duckte sich, als ein brennender Balken von der Decke krachte. Das gesamte Haus lag in Trümmern, die Laken, welche die Möbel bedeckt hatten, waren längst restlos verbrannt. Feuer bahnte sich fauchend einen Weg durch Löcher in den Wänden, und das Getöse war wie ein Windsturm in seinen Ohren.

Wieder und wieder rief er ihren Namen, als er die brennende, herunterfallende Treppe hochstürmte, den Flur entlang, dorthin, wo sie eingekerkert gewesen waren – er konnte sich besser mit der Nase als mit den Augen zurechtfinden – und wieder zurück. Dort war niemand. 

Tränen brannten ihm in den Augen, und noch stärker, als sich der Dreck von heißer Asche und die Hitze damit vermischten. Er benutzte das tropfnasse Hemd, um sie sich wegzuwischen. Sie musste hier sein. Sie musste– 

Und dann hörte er etwas. Ganz schwach.

„Maia!“, schrie er, stolperte über eine halbhohe Mauer, als er sich dem Geräusch zuwandte. Er war sich nicht mehr sicher, wo genau er sich in dem Gebäude befand, er lauschte nur, roch, und dann...

Nein.

Er wusste, was die Falle war, noch bevor er dort war und sie sah, denn Schwäche hatte ihn gepackt.

Er fand sie, als er in den hintersten Winkel des Hauses vorstieß, und in das Zimmer stolperte. 

Dort war sie, saß in der Mitte des Zimmers, an dem ringsum die gefräßigen Flammen emsig arbeiteten, Rauchschwaden über ihnen. Maia saß zusammengesackt in dem Stuhl, an den man sie gefesselt hatte.

Mit Seilen und Seilen von Rubinen.