ZWANZIG
~ Die Hölle ~
Ein gewaltiges Gebrüll kam von tief unten heraufgekrochen, und Dimitri kämpfte es nieder. Er würde es tun. Er musste es tun.
Dimitri setzte sich in Bewegung. Zu ihr. Rang um Luft, verschwitzt und heiß, aber seine Glieder gehorchten ihm nicht. Sie wurden zunehmend schwächer, zwangen ihn, zu einem langsamen Stillstand zu kommen, als ob er sich stromaufwärts durch einen reißenden Fluss bewegte. Er ließ das Hemd los, das seine Finger umklammert gehalten hatten, und krallte sich am Boden fest, versuchte, mit Hilfe seiner Finger in den Ritzen der alten, verrotteten Holzdielen voranzukommen. Aber sie waren schwach. Er war schwach. Seine Lungen schienen geschrumpft, seine Beine wie Blei.
Maia. Bitte.
Er konnte nicht zu ihr gelangen. Er konnte nicht zu ihr gelangen.
„Maia“, keuchte er unter Mühen. War sie überhaupt noch am Leben?
In dem kleinen Raum konnte er nur wenig erkennen, aber als sie sich bewegte, ihren Kopf anhob, keimte die Hoffnung in ihm wieder auf. Sie war am Leben.
„Maia“, rief er noch einmal, hustete etwas, und als sie versuchte, etwas zu erwidern, brachte sie nichts als ein röchelndes Husten hervor. „Ich bin hier“, sagte er. „Ich komme zu dir.“
Die Flammen tobten und kamen näher, und ein großer Balken fiel von der Decke herunter, schlug krachend neben ihm auf dem Boden auf. Das Feuer schien sich kreisförmig nach innen durch das Haus zu arbeiten, und jetzt dann auch nach oben und in die letzten Winkel hinein. Er wusste, Maia würde bei diesem dicken, schweren Rauch nicht mehr lange durchhalten können. Während er ... er könnte ewig in dieser Hölle auf Erden bleiben.
Dimitri tat einen weiteren Schritt, und seine Knie zitterten und gaben dann nach. Er fiel zu Boden und fühlte Lähmung über ihn hinwegkriechen, seine Lungen hörten auf zu arbeiten, seine Muskeln wurden schwerer und schwerer. Nein. Er würde sich durch das hier durchkämpfen.
Er musste zu ihr gelangen. Er konnte nicht–
Da war eine Bewegung hinter ihm, und er verdrehte den Kopf, um dorthin zu schauen. Lerina stand hinter ihm, ihr machte das Feuer ebenso wenig aus wie ihm.
„Ich sehe, du hast sie gefunden“, sagte sie, laut genug, um noch in dem Tosen gehört zu werden.
Wut schnitt wie ein Messer durch ihn, und er versuchte, auf die Beine zu springen, aber die Rubine verfehlten ihre Wirkung nicht, und er blieb langsam und unbeholfen.
„Warum“, stieß er noch aus und krallte sich mit seinen langsamen, fetten Fingern in den Saum ihres Kleides und zerrte sie herab, als er versuchte, sich an ihr hochzuziehen. Aber die Rubine ... sie drückten zu schwer auf ihm.
Lerina entzog sich ihm, und er ging stolpernd zu Boden, seine Hand landete auf einem Stück losen Holz. „Weil“, sagte sie, und gab Acht, dass er jedes ihrer Worte verstand, „ich wollte, dass du ihr beim Sterben zusiehst. Ich wollte, dass du siehst, wie es ist, das, was du liebst, zu verlieren. Und auf ewig mit dem Bild zu leben.“
Er schloss seine Finger um das Holz, fühlte seine schmale Länge und auch die Wut, die ihm gerade rasend die Eingeweide zerfraß. Er sammelte das letzte bisschen Kraft zusammen, das ihm noch geblieben war, und machte einen Satz auf ihre Knöchel zu und erwischte sie mit einem seiner Arme. Er zerrte sie zu Boden und benutzte sein Gewicht, um sie festzuhalten, bis es ihm gelang, ihr das Ding in ihr böses Herz zu stoßen.
„Du ... hast...“, rang er nach Luft und zwang seine Muskeln erneut, ihm zu gehorchen, um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen, „zu viel Zeit mit Cezar verbracht.“ Seine Umklammerung drohte nachzulassen, als sie darum kämpfte, von ihm loszukommen, Verzweiflung in jeder ihrer Bewegungen und in ihrem wilden Gestrampel. Er würde sie nie loslassen. Sie würde zusammen mit Maia sterben. Sogar in seinem gelähmten Zustand war er noch stärker als sie.
Aber dann machte ein Geräusch, ein großer Krach, dass seine Wut sich in panische Angst verwandelte. Er lockerte unwillkürlich die Umklammerung, und Lerina entwand sich ihm, als Dimitri eine schwache Drehung machte. Ein großes Stück des brennenden Gebäudes war zwischen ihm und Maia heruntergekracht und dann zur Seite gerollt. Das Feuer tanzte und züngelte, und er konnte dahinter nichts mehr erkennen.
„Maia!“, brüllte er, vergaß Lerina, schleppte sich näher an des brennende Stück Holz heran und daran vorbei. „Maia!“, rief er wieder, und lauschte verzweifelt auf eine Antwort von ihr.
Aber er wusste: Je näher er seinem Ziel kam, desto schwächer würde er werden. Ihre Hände waren gefesselt, und es war unmöglich, dass sie sich selbst von den Rubinen befreite. Es waren zu viele.
Es war ein hoffnungsloses Unterfangen. Hoffnungslos.
Unmöglich für einen Vampir, der Rubine als Asthenie hatte.
Als er unter Qualen noch einmal nach hinten schaute, sah er, dass Lerina auf und davon war, wahrscheinlich aus Angst, wenn er die Rettung von Maia aufgab, dass er sich dann an ihr rächen würde.
Er brach auf dem Fußboden zusammen, Dreck und Staub rieben sich ihm ins Gesicht und in den nackten Oberkörper. Selbst seine Zehen und seine Finger benutzte er jetzt, um ein bisschen vorwärts zu kommen. Nur ein winziges Stück. Einen Fingernagel breit. Einen Flohsprung weiter. Er schleppte sich, wand sich, wuchtete sich weiter, weiter nur, mit allen Mitteln.
Die Kraft von den Juwelen strömte von Maia her stärker zu ihm als die Flammen und der Rauch, aber endlich war er an eine Stelle gekommen, wo er sie wieder sehen konnte.
„Maia“, keuchte er.
„Corvindale“, sagte sie und hustete gleich wieder. Sie schien jetzt etwas wacher zu sein, etwas klarer im Geist. Sie hatte ihre Kraft wieder erlangt, nur um dann zu sterben?
„Ich ... kann ... nicht“, würgte er, sein Hals zusammengeschnürt, von Gefühlen. „Ich kann nicht.“ Seine Finger gruben sich zwischen zwei Dielen ein, aber sie waren so schwach, dass er sie kaum in die Ritze zu stecken vermochte. Es war zu viel. Etwas prickelte in seinem Gesichtsfeld, schmutzig und bitter.
„Ich weiß“, sagte sie, als sie irgendwie die Kraft fand, trotz des vielen Rauchs in ihrer Lunge zu reden. „Das weiß ich.“ Ihr wunderschönes Gesicht war schwarz vor Schmutz, ihr Haar hing wirr herab, ihr Kleid verdreckt, und die bösartigen Rubine glitzerten wie kleine tanzende Leuchtfeuer in den Flammen.
„Maia. Gott, Maia ... es tut ... mir Leid“, presste er noch heraus, die Tränen stachen ihm jetzt in die Augen. „Es tut mir Leid.“
„Ich weiß“, sagte sie, und irgendwie fand ihr Blick, trotz Finsternis und Feuer um sie, den seinen und hielt ihn fest. „Ich liebe dich ... Gavril.“
Ich liebe dich. Das Gefühl blitzte in seinem eigenen Kopf auf, brannte sich jäh dort ein, wie eine große Offenbarung. Wahrheit.
Im selben Moment, wie Dimitri zu dieser Selbsterkenntnis gelangte, zu dieser lang verleugneten Wahrheit, traf ihn etwas bis ins Mark. Einen Augenblick lang dachte er, etwas wäre heruntergefallen, ihm auf den nackten Rücken. Oder dass ein Pflock ihn gefunden hatte, ihm das Herz durchbohrte. Aber das war es nicht, es war nicht äußerlich, es war etwas in ihm, tief drinnen, es zerbarst, krachte auseinander. Schmerz durchfuhr ihn, und seine Muskeln brachen endlich zusammen, sein Gesicht sank in den Dreck ein. Er konnte nicht einmal einen Finger rühren. Konnte kaum blinzeln. Sein Atem kam kurz und abgehackt, der Mund voller Schmutz und Asche.
Dimitri presst die Augen zusammen, der Schmerz überwältigte ihn. Mit einem letzten Atemzug hievte er sich hoch, und hob das Gesicht, um sie noch einmal anzusehen. Er musste es ihr sagen. Er konnte sie nicht sterben lassen, ohne dass sie nicht die Wahrheit wüsste.
Er konnte nicht einmal die Worte sprechen, aber er dachte sie und schickte sie mit seinem Blick zu ihr hinüber. Ich liebe dich. Maia, ich liebe dich. Ich habe dich immer geliebt.
Der Schmerz zerriss und brannte, genau an seinem Teufelsmal und tobte auch in seinem ganzen Körper, in Muskeln und inneren Organen, und seine Beine und Arme entlang, strahlte nie gekannte Folterqualen aus. Er schrie auf vor Pein, krümmte sich, zitterte: versuchte, es abzuwerfen, zu entkommen.
Niemals. Nie war es so gewesen.
Es brannte wie tausend glühendheiße Peitschenschläge auf seiner Haut, bis er dachte, er würde explodieren, verrückt werden, schreien, bis sein Hals in Fetzen hing. Und dann, ganz unmöglich, sah er Wayren ... und sie nickte, mit einem stillen, allwissenden Lächeln.
Dann ... nichts.
Schwarze. Finsternis.