4


CARL

 

 

»Irgendwelche Zeichen von weiteren?« fragte Carl.

»Keine«, antwortete Virginia. »Ich habe die Suche auf eine Lichtstunde im Umkreis ausgedehnt und finde nichts.«

Lani kam mit bleichem Gesicht und ängstlichen Augen in die Zentrale. »Ich hörte die Bekanntmachung, Virginia. Wie nahe sind sie herangekommen?«

»Wie Wellington nach der Schlacht bei Waterloo sagte…« Virginias Stimme nahm einen aristokratischen britischen Akzent an. »Es war eine verdammt knappe Sache.«

»Und sie werden es wieder versuchen, wenn wir unseren geplanten Kurs beibehalten«, sagte Carl nüchtern. »Sie werden nicht dulden, daß wir die Jupiterbegegnung nutzen, um uns in das innere Sonnensystem zu katapultieren. Vergessen wir nicht, daß sie Jahre haben, um auf uns zu schießen. Wenn wir wieder hereinkommen, werden sie abermals zuschlagen. Auch der Angriff mag fehlschlagen. Und der nächste. Aber schließlich…«

»Diese Mörder!« rief Lani. »Wir waren bereit, die Quarantäne zu akzeptieren, aber das war ihnen nicht genug! Lieber töten sie uns, als daß sie sich selbst auch nur der geringsten Gefahr durch fremde Erreger aussetzen würden.«

Carl fühlte die Unausweichlichkeit dessen, was er zu sagen hatte, das Ende so vieler Hoffnungen. »Es ist Zeit, daß wir uns den Tatsachen stellen. Wir können nicht zurück aus der Kälte.«

»Aber das bedeutet…«

»Richtig. Daß wir eine Bahn wählen müssen, die uns im Anschluß an die Jupiterbegegnung ins äußere Sonnensystem führen wird. Es ist der einzige Weg, außer Reichweite der Erde zu bleiben.«

Virginia fragte: »Du meinst, darauf wird man von weiteren Angriffen absehen?«

Carl schüttelte den Kopf. »Wir werden es hoffen müssen. Wir werden einen Kurs weit hinaus ins äußere Sonnensystem planen.«

Lani schaute ihn stumm an und biß sich auf die Lippe.

»Irgendwie«, sagte Virginia, »glaube ich nicht, daß man sich mit etwas Geringerem als einer endgültigen Abreise zufriedengeben wird.«

Lanis Augen weiteten sich. »Was? Das Sonnensystem ganz verlassen?«

»Dann werden sie überzeugt sein, daß die hiesigen Lebensformen sie niemals erreichen können.«

Carl nickte. »In dem Fall wäre es auch sinnlos, uns zu verfolgen. Und zu teuer.«

»Aber was sollen wir da draußen anfangen?« fragte Lani ungläubig.

»Wir werden leben. Wir werden sterben.« Carl starrte abwesend zu den Bildschirmen, wo Zahlen von oben nach unten wanderten. »In die Oort-Wolke«, sagte er wie in Gedanken. »Dort soll es unzählige Eiswelten von Asteroidengröße geben. Angeblich soll auch unser Komet von dort herstammen, bevor er durch irgendein Ereignis in den Anziehungsbereich der Sonne geriet.«

»Und sobald wir dort sind?« fragte Lani. »Können wir die als Rohstoffreservoir gebrauchen?«

Er zuckte die Achseln. »Vielleicht. Wir werden Hunderte von Jahren Zeit haben, darüber nachzudenken.«

»Dann werden wir alle lange vorher tot sein, mit oder ohne Kühlfächer.«

Carl verspürte eine eigentümliche, distanzierte Resignation. Irgendwie hatte er gewußt, daß er diesen Ort niemals mehr verlassen würde. Sie überantworteten nicht nur sich selbst, sondern alle weiteren Halley-Generationen – sollte es jemals welche geben – einem Leben in äußerster Dunkelheit und grenzenloser, unbekannter Leere. Sie flohen in den Abgrund.

Lani sagte: »Ich nehme an, wir müssen planen, was wir tun können, nicht was wir am liebsten tun möchten.«

Das Leben, dachte Carl, besteht darin, daß wir einem Untergang nach dem anderen entgehen. Er wußte, daß sie es schaffen konnten, wenn sie sich einfach weigerten, sich der Verzweiflung zu überlassen. Wenn sie etwas hatten, wofür zu leben sich lohnte.

Im Herzen des Kometen
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