8
CARL
Verständnislos beobachtete er die Farbkaskaden auf den Bildschirmen. In der Kälte und Stille war es, als wäre er der letzte Überlebende der Jahre des Wahnsinns, ein einsamer Zeuge des Endkampfes zerbrechlicher, organischer Lebensformen gegen die vordringende Kälte. Ihn fröstelte.
Saul lag absolut still. Neuralanschlüsse machten seinen Kopf zu einem Medusenhaupt von Kabeln, Stahlzylindern und körnigen Silikatflecken. Und um Carl ging ein seltsamer lautloser Kampf vor sich, undeutlich reflektiert in den Bildschirmen und der zentralen holographischen Projektion.
Dort erstand das Bild einer immensen smaragdfarbenen Gestalt, wo Facetten aus den Nischen und von den Kanten hochragender Wolkenkratzer glänzten. Die Gebäude waren durchscheinend, jeder glich einem Ameisenhaufen hin und her schießender Lichtpunkte und sich verschiebender Ebenen, als ob winzige Geschöpfe in Massen durch die Korridore einer Metropole eilten.
Carl verstand, daß dies eine symbolische Darstellung von Virginias Bewußtsein war, ein seit früher Kindheit aufgebautes, vielfach geschichtetes Assoziationsnetz, wie eine Stadt von unten nach oben errichtet. Unter einem einförmigen grauen Himmel schimmerten die Lichter, zeichneten wandernde Funken den Straßenverlauf nach. Hier versank ein Gebäude plötzlich in Dunkelheit, dort strahlte ein anderes im Schein ungezählter Lichter auf. Man konnte den raschen Bewegungen nicht folgen, aber Carl spürte in allem eine hektische Neuordnung, ein insektenhaftes, fiebriges Tempo.
»Was – was ist geschehen?« Lanis ängstliche Stimme zog ihn zurück in die Realität des Augenblicks.
»Saul ist ihr nachgegangen«, sagte er, während er das Geschehen verfolgte. Ein riesiger Ozeandampfer legte am Stadtrand an. Gebäude schmolzen, flossen in das Schiff, das tiefer und tiefer im Wasser lag. »Ich nehme an, er speichert einen Teil ihrer Assoziationsmatrizen in seinem eigenen Gehirn.«
»Ist das möglich?«
»Theoretisch – vielleicht. Virginia hat ihr System seit Jahrzehnten ausgebaut, Johnvon integriert und weiterentwickelt, bis es für einen Außenstehenden wie mich schwierig wurde, zu erkennen, wo sie aufhört und er anfing. Ich konnte nicht einmal ihr Fachchinesisch verstehen.«
»Und wenn Saul in Gefahr gerät? Können wir es erkennen?«
Er preßte die Lippen zusammen. »Wüßte nicht, wie.«
Lani wandte den Blick von dem Gewimmel der Bildschirme. »Es ist so viel, so schnell…«
Er legte den Arm um ihre Schultern. »Und so viel Sterben.«
Sie warteten. Zeit verging. Lani setzte sich auf den Boden und schlief ein. Carl wanderte auf und ab, bis plötzlich eine Anzahl Klopftöne aus dem Akustikteil drang. Ein rasches, hartes Klopfen, gefolgt von einem Knistern und Knacken, und nach einer langen, von undeutlichen Geräuschen und Tönen erfüllten Pause erklang eine Stimme…
»Hallo, Carl.«
Er wandte sich zur Projektion. Körnige Umrisse verschmolzen zu einem Gesicht. Augen erschienen – schwarze Augen, die ebenso überrascht zu sein schienen, wie er es war.
»Verdammt! Bist du es?« Neben ihm regte sich Lani, wurde auf das Geschehen aufmerksam und stand auf.
»Es ist soviel von mir, wie möglich ist.«
Lani schaute verwirrt zu dem leblosen Körper auf der Liege, dann zurück zur Projektion. Dann stellte sie sachlich fest: »Ihre Stimme ist zu hoch.«
»Ich arbeite daran.« Der Ton lag im Sopranbereich, doch waren Klangfarbe und Tonlage noch nicht stabilisiert. »Ist mir für einen Augenblick entwischt, aber es wird schon. Hier. Klingt es jetzt richtig?«
Die Stimme klang kehlig, mit einem unglaublichen naturnahen Klang. Carl überlief es. Seine Lippen formten stumm ihren Namen.
»Genau der richtige Hawaii-Akzent«, sagte Lani mit gepreßter Stimme.
Die Bildwiedergabe wurde schärfer. Die Lippen bewegten sich synchron mit: »Ich kann noch daran arbeiten…« – und dann kam ein hoher, quietschender Ton. Carl streckte den Arm aus und schaltete die Projektion aus.
»Mein Gott, was geht vor?« fragte Lani. Wieder blickte sie auf Virginias Körper. Das Beatmungsgerät zischte noch immer, aber der diagnostische Monitor zeigte, daß alle Lebensfunktionen erloschen waren.
Carl deutete mit einem Nicken zum Gehäuse des Rechners, der Johnvon beherbergte. »Sie steckt irgendwo da drin und versucht sich zurechtzufinden.«
Lani holte tief Atem und drückte ein paar Tasten der manuellen Eingabe. Nach einem zweiten Versuch wandte sie sich kopfschüttelnd um. »Es ist unmöglich, durchzukommen. Die Eingabe ist blockiert.«
Carl wies zu einer Reihe von Kontrolleuchten. »Alles abgeschaltet. Wenn irgendwo etwas bricht oder undicht wird, werden wir es hier nicht einmal wissen. Ich kann nur hoffen, daß die Zentrale besetzt ist.«
Plötzlich zuckte Saul auf seinem Lager und bog die Finger zu Krallen. Dann erschlaffte er wieder. Nach kurzer Zeit rief er mit dünner, fast tonloser Stimme: »Wendy! Wendy!«
»Wir sollten etwas unternehmen«, sagte Lani.
»Was? Wir können nichts tun. Sie sind auf sich gestellt.«
»Wir könnten beide verlieren!«
Allmählich gelang es Carl, die durch Droge und Schock erzeugte Benommenheit abzuschütteln. Virginia war für immer verloren, ganz gleich, was Saul tat. Und ganz gleich, was in Johnvons Gehäuse blieb, die lebendige, lebenswarme Frau war nicht mehr.
»Carl?« Er wandte den Blick von der smaragdgrünen Stadt, wo ganze Blocks jetzt aufflammten, während andere in schwelende Ruinen sanken. Er wußte nicht, wie lange er so gestanden hatte. »Ja?«
»Jeffers sagte mir vorhin, daß die Rückstoßgeräte unterhöhlt seien. Ould-Harrad hat seine Arbeit getan.«
»So.« Er hatte nichts anderes erwartet. Es war bloß eine weitere Tatsache, ein willkürliches Bruchstück von Information in einem von Zufälligkeiten beherrschten Universum. Ehe sich die Frage, was zu tun sei, in den Vordergrund schieben konnte, leuchtete die holographische Projektion wieder auf. Die smaragdene Stadt löste sich in rote Lava auf, das durchscheinende Material der Wolkenkratzer zerfiel lautlos, schmolz und floß in die blasenwerfenden, aufbrechenden Straßen.
Saul entspannte sich auf seinem Lager. Es blieb eine Weile still. Carl wagte nichts zu sagen.
Die Akustik knisterte und rauschte. Er drehte den Schalter hin und her, ohne Wirkung.
»So einfach kannst du mich nicht ausschalten, mein Lieber.«
»Virginia!« In seiner Reaktion machte er eine unvorsichtige Bewegung und schwebte zur Decke, wo er sich den Kopf anstieß. »Du bist da?«
Das Gesicht war wieder erschienen, jetzt klar und umrissen, selbstsicher und jugendlich. Virginia Herbert, von der Sonne beschienen, lächelte zu ihnen heraus. Ihr Gesicht war faltenlos und olivbraun, und eine große gelbe Blüte steckte hinter ihrem Ohr. Wattige Wolken sprenkelten einen unglaublich blauen Himmel.
»Ich hatte etwas zu sortieren«, sagte das Gesicht.
»Ist das… ist das wirklich…?« fragte Lani zögernd.
»Ob ich es bin?« Die Frau im Projektionsraum zuckte die Achseln und brachte bloße Schultern ins Bild. »Es fühlt sich jedenfalls so an.«
»Können Sie uns sehen?« fragte Lani.
»Und hören. Diese Meldung, die Sie eben erwähnten – was für Dummköpfe! Ould-Harrad ist ein Idiot.« Sie hielt inne, als lausche sie. »Oh, Saul. Ich sehe. Ich verstehe jetzt.«
Saul regte sich nicht. Er schien normal zu schlafen.
Carl wußte, daß er die Stimme einer Toten hörte, aber sie schien so strahlend jung, so voller Lebensfreude…
»Mit diesen Schäden fällt die Äquatorlinie als Standort für Rückstoßgeräte aus«, fuhr Virginias Stimme fort. Ihre Klangfarbe wurde weicher und gewann an Harmonie, als sie daran arbeitete. »Damit bleibt der Nordpol. Und es gibt nur ein mögliches Missionsprofil, das eine Schubwirkung von Norden her voraussetzt.«
Carl konnte kaum sprechen. Sie war tot. Wie konnte ein Verstand…? »Ich habe es noch nicht…«
»Jupiter. Die Bahndynamik läßt die Möglichkeit dieses Vorbeiflugs offen.«
Lani runzelte die Stirn. »Ich dachte, das sei unmöglich.«
»Nein, bloß schwierig«, erwiderte die Stimme ruhig, fast im Konversationston. »Das Manöver erfordert eine völlig verschiedene Annäherung als die, welche ursprünglich geplant war. Wenn die Rückstoßgeräte vom Nordpol während der ganzen Einfallszeit arbeiten, also dreißig Jahre lang, können wir…«
»Dreißig Jahre?« rief Lani.
»Richtig. Um das Manöver auszuführen, werden wir durch das Perihel gehen müssen.« Das Gesicht hob erheitert die Augenbrauen. »Dieser Jupiter-Vorbeiflug findet auf dem Weg hinaus statt.«
Carl hörte die Worte, aber sie waren wie eine Geräuschkaskade ohne viel Bedeutung. Sie hatte gekämpft und war untergegangen und war nun zurückgekehrt, eine Stimme, die in der Enge dieses Raumes erklang, die Virginia, die er gekannt hatte, und doch nicht sie. Die Stimme ließ weder Furcht noch Schock erkennen, nicht einmal eine Spur von Traurigkeit. Was war es? Er hörte sie weitersprechen, fühlte, wie Lani ihn beim Arm faßte, und langsam wurde ihm klar, daß die Stimme recht hatte. Es gab noch einen Ausweg, und ganz gleich, welche Tragödien sie durchgemacht hatten und welche Schuldgefühle sie plagten, Zeit und die große leere Dunkelheit ringsum konnten sie heilen, und sie würden weitermachen.