5
CARL
Wenn er gegen die Sonne blinzelte, lag die Eislandschaft wie ein Traumland vor ihm. Trupps von Männern und Maschinen zogen über die fleckige, zernarbte Oberfläche. Sie schleppten lange Zylinder aus poliertem Stahl und weißlichem Aluminium, elektrische Ausrüstungen und Transformatoren, die, um im kalten Vakuum des Weltraums arbeitsfähig zu sein, mit Isoliermaterial umwickelt waren, das ihre Form bis zur Unkenntlichkeit veränderte und Assoziationen mit verkrusteten Gehirnkorallen hervorrief.
Im Zielgebiet der Arbeitstrupps zeigte das Eis tiefe trogartige Aushöhlungen. In regelmäßigen Abständen hatte Jim Vidor durch Abschmelzen zugeschnittener Blöcke Träger, Rampen und Stützen aus Eis hergestellt. Zarte Stränge verbanden orangefarbene facettierte Säulen. Eis hatte wenig Widerstandsfähigkeit gegen seitlich wirkende Scherkräfte und erfüllte seinen Zweck nur unter Druck. Es war ausgeschlossen, daß die Arabesken eine funktionale Bedeutung hatten. Dennoch zweifelte Carl nicht daran, daß Vidor, wenn man ihn bedrängte, eine Erklärung für jeden ausgepreßten Strang, jeden auf Kragsteinen ruhenden Bogen und all die fein ziselierten Formen finden würde. Carl hatte ihn nicht nach dem Sinn und Zweck dieser Strukturen gefragt. Ein Mensch mit Phantasie konnte nicht in sturer Engstirnigkeit allein auf das Praktische fixiert bleiben; er sehnte sich danach, durch sein Können etwas auszudrücken, was ihn bewegte, und wenn es nur ein für ihn charakteristischer Schnörkel war, der dem mehr oder weniger dauerhaften Material etwas von seinem Wesen mitteilte. Vielleicht war es sogar etwas Tieferes, gebunden an den Geist, der einen einsamen Primatenstamm so weit von seiner warmen, feuchten Heimatwelt weggeführt hatte.
Carl erinnerte sich der einleitenden Zeilen eines Gedichts, das Virginia ihm vor Monaten gezeigt hatte. Irgendwie waren sie haften geblieben.
Ruhig ist die See heut abend.
Die Zeit steht still, der Mond legt glänzend seine Bahn.
Das Gedicht hatte etwas mit guten Omina, Stränden und Ozeanen zu tun, und Virginia hatte in ihm eine von diesen Bildern erzeugte Resonanz gespürt. Die Reise hier draußen, das Segeln gegen den Sog der Anziehungskraft, ähnelte in mancher Weise der großen alten Zeit der Seefahrt. In den ersten Monaten nach der Landung hatten sie einen Bruchteil des Sonnenwindes genutzt, um die Ausgasung des Kometenkerns zu steuern. Dann waren sie vor diesem Wind gesegelt und hatten das Sonnenlicht nur zur Stromerzeugung benutzt. Der entscheidende Zeitpunkt nahte jetzt, wo ihr Eisschiff auf einen neuen, bislang unbefahrenen Kurs gebracht werden mußte.
Er lächelte in sich hinein. Der Vergleich mit der Seefahrt früherer Zeiten gefiel ihm. Seit sie die Edmund Halley verloren hatten, war in ihm die Sehnsucht nach einem Schiff gewachsen. Doch wie alle anderen mußte er sich damit abfinden, daß dieser Brocken aus Eis und Gestein alles war, was er noch hatte.
Es war so offensichtlich, daß es Virginia nicht hatte entgehen können. Sie hatte ihm dieses Gedicht als eine Art Trost überspielt, und zu seiner Verwunderung hatte er an einigen der Gedichte und Texte, die sie gelegentlich auf seinen Datenanschluß übertrug, Gefallen gefunden. Das wäre für den dreisten, von sich eingenommenen jungen Mann, der er vor fünfunddreißig Jahren gewesen war, völlig unmöglich gewesen. Er war in dieser Zeit nur um sieben Jahre gealtert, doch kam dieser Spanne ihr eigenes Gewicht zu. Sein jüngeres Selbst schien ihm jetzt entfernt, unreif, unerklärlich blind.
Er hoffte, daß er für Virginia kein offenes Buch war. Sonst mußte sie bald herausfinden, wieviel von all dieser Hoffnung und Euphorie trügerisch war, weil es auf einer unvermeidlichen Lüge beruhte…
Daran dachte er nicht gern zurück. Kopfschüttelnd setzte er sich in Bewegung und glitt mit langen Schritten über das Eis, die Arbeiten zu beaufsichtigen. Bei der Arbeit bleiben und nicht zuviel denken, denn das war ohnehin nicht seine Stärke.
Er umging einige Maschinen und erreichte den langen, rampenartig eingetieften Graben von Anlage 6. Ein fertiggestelltes Rückstoßgerät füllte den rampenartigen Trog. Zwei Ingenieure erprobten ein aus einheimischem Eisen gemachtes Schwungrad.
Die Anlagen sollten in genau berechneten Winkeln und Zeitabständen eingesetzt werden. Ihre Bewährungsprobe mußten sie im Einsatz parallel zum Äquator bestehen, um die fünfzigstündige Rotationsperiode des Kometen zu verlangsamen und schließlich zum Stillstand zu bringen. Anschließend sollten die Geräte um eine im Graben angelegte Achse geschwenkt werden, bis sie nahezu senkrecht zum Äquator und auf das Massezentrum des Kometen ausgerichtet wären. Dann erst konnten die wiederholten Entladungen erfolgen, die, über Jahre hinweg fortgesetzt, der langsamen, gemessenen Kehrtwendung des Kometen um den Punkt der Sonnenferne in winzigen Schubimpulsen zusätzliche Schwungkraft verleihen würden. Das unablässige Zusammenwirken aller Rückstoßgeräte würde so nach den Berechnungen die Bahnveränderung bewirken.
»Hübsch, nicht?«
Jeffers kam mit leichten, geübten Sprüngen näher. Seine Brustbinde zeigte Schraubenschlüssel und Zange gekreuzt in einem Würfel, war aber arg befleckt, so daß das Zeichen kaum noch zu erkennen war.
»Ja. Alles ausgemessen? Bereit zur horizontalen Aufstellung?«
»Klar. Sitzt genau richtig, kann in jeden gewünschten Winkel gedreht werden. Nach den Versuchen können die Maschinen es für die Nutzleistung einstellen.«
Jeffers grinste fröhlich. Er war die treibende Kraft bei den Arbeiten, wußte überall Rat und fand mit raschem, fachmännischem Wissen für jedes Problem eine Lösung. Er arbeitete achtzehn Stunden pro Arbeitstag ohne ein Zeichen von Erschöpfung. Die Werkstätten in Ebene A, die jetzt weitgehend automatisiert Ersatzteile für Raketen und Rückstoßgeräte herstellten, würden ohne Jeffers nicht existieren. Carl erinnerte sich, wie Jeffers in den Zeiten der Krankheit und Hoffnungslosigkeit in Videofilmen untergetaucht war, um der Realität zu entfliehen. Er hatte Arbeit gebraucht, sonst nichts. Das allein war Carl Grund genug, dies alles zu tun, selbst wenn sein Freund vielleicht schon argwöhnte, daß es alles eine Farce war…
»Alle Arbeitsgruppen haben den Zeitplan übererfüllt. Die Leute machen sogar unaufgefordert Überstunden.«
»Nun, wir haben endlich etwas, wofür wir arbeiten können«, sagte Carl, ohne Jeffers ins Auge zu sehen.
»So ist es.«
Eine Aufsichtsmaschine kam heran, ein zusätzliches Behelfsgehäuse aus Blech auf der Rückenschale. Es enthielt ein zusätzliches Magazin Arbeits- und Kommunikationsprogramme. Virginias Ergänzungen bewährten sich tadellos und machten die Maschinen vielseitiger, aber sie waren nicht elegant. Die Maschine lenkte die Aufmerksamkeit der beiden mit ihrer Blinklampe auf sich und sendete: »Anlage 6 fertiggestellt. Ingenieur Osaka sagt, das Gerät könne zum Testbetrieb freigegeben werden.«
Jeffers nickte. »Dann also los!«
Warnsignale ertönten über die offene Frequenz. Überall sah man die Arbeitsgruppen ihre Tätigkeit unterbrechen und hervorkommen, das Schauspiel zu beobachten. Die Schutzanzüge waren zerkratzt, abgenutzt, verfärbt und mit provisorisch angefertigten Teilen zusammengeflickt.
Das Pingpingping der Erwärmung kam über die offene Frequenz, ein dünnes Echo der Aufladung, die nun im Graben eingeleitet wurde. Carl beobachtete die Mündung des Rückstoßgerätes, die unweit von ihm aus dem Eis ragte und zum Himmel wies.
Er verspürte prickelnde Erregung, eine wachsende Spannung. Wenn sie in Entwurf oder Konstruktion einen Fehler gemacht hatten…
Ein leises Erzittern ging durch den Boden. Ein Rattern im Mikrowellenbereich, ein Kreischen – und das Gerät arbeitete.
Ein unbestimmter Dunst erschien um die Mündung. Carl überlegte, ob etwas schiefgegangen sein könnte, bis ihm klar wurde, daß die Ausstoßrate des Rohres mehrere Kapseln pro Sekunde betrug und er den Ausstoß nur als Verschwommenheit sehen konnte.
Das war alles. Kein Krachen, kein Speien von Feuer und Rauch. Die Rückstoßgeräte waren so konstruiert, daß sie so wenig Abwärme wie möglich erzeugten. Wenn auch nur der Bruchteil eines Prozents der Rückstoßenergie als Wärme an das umgebende Eis abgegeben würde, müßten zwangsläufig Teile des Fundaments in gasförmigen Zustand übergehen, Verschiebungen hervorrufen und das sorgfältig ausgerichtete Gerät aus dem Gleichgewicht bringen. Und die Instabilität und zunehmende Lockerung der Anlage würde im Betrieb sehr rasch zu ihrer Zerstörung führen.
Aber das Rückstoßgerät funktionierte reibungslos. Auf der offenen Frequenz wurden Hurrarufe laut. So weit Carl sehen konnte, rissen die Leute die Arme hoch, tanzten auf dem schmutzigen Eis herum und sprangen hoch in den schwarzen Himmel. Nur die Maschinen setzten in stoischer Ruhe ihre Arbeit fort, ohne zu wissen oder zu beachten, daß die Menschen endlich das Ruder dieses Eisschiffes in die Hand genommen hatten. Der Komet war nicht mehr bloß ein schmutziger Schneeball in der langen Nacht. Er war jetzt ein Raumfahrzeug.
Jeffers plapperte aufgeregt, wiederholte Operationszahlen, die ihm durchgegeben wurden. Carl lauschte den in rascher Folge eingehenden Werten und formte sie vor seinem inneren Auge zu geometrischen Darstellungen um – Kiloampere in Impedanzkreisen, Voltspannungen, die sich zu steilen Spitzen aufbauten und mit jeder Entladung wieder in sich zusammenfielen, Zeichen der Energieverluste induktiver elektrischer und magnetischer Felder. Energie strömte in die Kapseln, elektrodynamische Beschleunigung schoß wie ein Flüssigkeitsstrahl mit Lichtgeschwindigkeit hinaus.
Wie sich bei den vorausgegangenen Versuchen mit Explosions- und Gasdruckmethoden herausgestellt hatte, war nur elektromagnetische Linear-Beschleunigung geeignet, das Problem der Abwärme und des Aufschmelzens zu lösen. Einstweilen lagerte genug Aushub vom Bau der Schachtanlagen und Stollen an der Oberfläche, dessen Anteile an Gestein und Nickeleisen für die Rückstoßgeräte verwendet werden konnten. Eine Werkstatt der Ebene A stellte leichte eimerartige Behälter aus supraleitenden Polymeren her. Diese Behälter wurden mit Gesteinsbrocken, Eisenerz und anderem schwerem Abfallmaterial gefüllt und zu Geschossen, die über Förderbänder zu den Ausstoßrohren gelangten, wo sie von hohen Voltspannungen beschleunigt, mit enormen Geschwindigkeiten – bis zu zehntausend Kilometern pro Sekunde – hinausgeschleudert wurden. Das Rückstoßgerät war einem kosmischen Maschinengewehr vergleichbar, das Geschosse abfeuerte, die auf Grund ihrer hohen Geschwindigkeit das Sonnensystem verlassen und einige Jahrhunderte später den Bereich benachbarter Fixsterne erreichen würden.
Die Masse des Kometen war jedoch so groß, daß selbst der durch diese enormen Beschleunigungen erzeugte Rückstoßeffekt kaum ausreichte, die Umlaufbahn zu verändern. Carl stimmte sich auf eine Überwachungsfrequenz ein und hörte ein Stakkato von Geräuschen, die sich wie brap brap brap anhörten, als die Behälterkapseln ins Magazin des Ausstoßrohres fielen. Das Rückstoßgerät 6 war das erste von zweiundfünfzig, die bald den ganzen Kometen umgeben und fünf Jahre lang in Betrieb bleiben sollten. Die Sonnenferne, wenn der Komet wie ein Ballettänzer auf der Höhe seines Sprunges innehielt, war der günstigste Zeitpunkt für das Ablenkungsmanöver. Ganze zehn Millionstel der Kometenmasse mußten ausgestoßen werden, um den berechneten Effekt zu erzielen. Das verlangte, daß Dutzende von Maschinen im Bergwerksbetrieb Gestein und Meteoreisen abbauten, zerkleinerten und neben den endlosen Förderbändern in die Behälterkapseln füllten. Es erforderte aber auch ausgeklügelte Programme, die jede Bewegung und jeden Schritt steuerten, jedes Versagen meldeten und Stockungen im Ablauf des Prozesses beseitigten.
»Verdammt«, sagte Carl. »Es klappt.« Die Erleichterung kam, und er merkte, daß er die Hände krampfhaft zu Fäusten geballt hatte.
Der Jubel dauerte an. Selbst dieser Probelauf, der nur ein paar Stunden dauern sollte, verlangsamte Halleys ursprüngliche Rotation und veränderte auch winzig seine lange, gleitende Ellipse.
»Und läuft glatt«, sagte Jeffers mit fröhlichem Grinsen.
»Komm mit zum Fünfer! Dort haben wir einen Schwenkzapfen eingebaut, der spätere Richtungsänderungen erleichtern wird. Wir dachten uns…«
Jeffers brach ab, als ein Eisturm in ihrer Nähe lautlos in eine Dampffontäne verwandelt wurde. Vidors Eisarchitektur explodierte in einem Schauer blitzender, hochgewirbelter Eissplitter, die den Dampf mit funkelnden Reflexen durchschossen.
»Was? Was war das?«
»Laser!« Carl warf sich flach auf den schmutzigen Boden und schaltete auf die offene Frequenz. »Alles volle Deckung!«
»Was, zum Teufel…? Wer würde so…?«
»Arcisten!« knurrte Carl. »Sie müssen auf dem offenen Kanal vom erfolgreichen Versuch gehört haben.«
»Aber warum?« rief Jeffers. »Ich dachte, Quiverian hätte zugestimmt.«
»Keine Ahnung.«
Überall im Umkreis sprangen die Leute in Deckung. Ein zweiter Eisturm löste sich lautlos in eine Dampfwolke auf. Diesmal sah Carl den Lichtblitz, als der Strahl traf.
»Sie feuern von der Anhöhe dort drüben im Südwesten.«
Jeffers hob den Kopf und blinzelte zu einem entfernten Punkt auf einem Schlackenhaufen, der von früheren Abbauunternehmungen übrig geblieben war.
»Sie haben einen von den großen aufgestellt. Wahrscheinlich wollen sie den Sechser treffen, aber mit diesen Dingern ist nicht leicht zielen.«
Die offene Frequenz war ein entrüstetes und ängstliches Stimmengewirr.
Ein weiterer Lichtblitz fuhr nahe einer kauernden Gestalt ins Eis. Carl hörte einen erschrockenen Schmerzensschrei.
»Takeda! Schaffen Sie die Frau zur Ersten Hilfe!«
Er kauerte in einer Mulde und sah unsichtbare Laserblitze Fontänen aus Eis und Dampf himmelwärts schleudern. »Die Schweine!«
»Wir müssen was tun!«
»Ich könnte Virginia rufen, daß sie ein paar Maschinen schickt, die sie von hinten fassen…«
»Ja, richtig.«
»Nein, warte…« Er schaltete auf Virginias Kanal. Ein Zischen verriet ihm, daß abgeschaltet war. Natürlich. Nur ein Idiot würde angreifen, ohne die Hilfsquellen der Verteidiger zu verstopfen.
Kaum hatte er auf die offene Frequenz zurückgeschaltet, erreichte ihn ein weiteres Schmerzgewimmer. Er stieß Jeffers an. »Der Sechser – kannst du ihn schwenken?«
»Was?«
»Die Mündung auf den Horizont richten und schwenken?«
Jeffers war überrascht. »Die Sicherungssperren. Ich weiß nicht… das ist eine ziemlich flache Schußbahn.«
»Versuch es!«
Als Jeffers in den Graben zum Rückstoßgerät kroch, gingen hinter ihnen die aus Eis konstruierten Stützbefestigungen von Rampe 5 in einer Dampfwolke auf, daß Kabel und Verschalungen herumflogen und langsam zur Oberfläche sanken. Verlorene Teile, verlorene Arbeitszeit, Verletzte – Leute, für die er verantwortlich war. Finster blickte Carl zu den entfernten Punkten bei der Laserkanone, und ein mörderischer Zorn stieg in ihm auf.
Er verließ die offene Frequenz, wo die Stimmen einander überlagerten. Alles rief durcheinander. Leute versuchten Freunde und Kollegen zu erreichen, fluchten in ohnmächtigem Zorn oder schrien in heller Aufregung. Maschinen fragten unschuldig nach Anweisungen. Dann meldete sich Virginias Stimme auf seiner persönlichen Frequenz. »Was geht vor? Jemand hat meine Kanäle durch Störsendungen blockiert. Wer…?«
»Kannst du Waffen heraufschaffen?«
»Aber – was sollen wir nehmen?«
»Die kleinen Laser in 3B – das ist alles, was wir schnell bewegen können.«
»Aber werden die nicht einfach jeden abschießen, der nahe genug kommt, um kleine Laser einzusetzen?«
Carl fluchte. Sie hatte recht.
»Ich kann ein paar große Maschinen vom Nordpol schicken.«
»Bist dahin sind wir Toast!«
Er sendete ein Such- und Kontaktsignal für Joao Quiverian und hatte innerhalb von Sekunden Verbindung. »Quiverian! Hier Osborn. Sie…«
»Diese Leute handeln nicht auf meine Anweisung«, unterbrach ihn Quiverian. Seine Stimme klang gepreßt. »Sie sind Arcisten, ja, aber sie gehorchen mir nicht.«
»Das soll ich Ihnen glauben?«
»Sie müssen. Es ist die Wahrheit. Eine radikale Splittergruppe…«
Carl knirschte mit den Zähnen. Also war der Feind gesichtslos. Anonym. Die Leute hinter diesem großen Laser waren nicht gewillt, anderen die Rückstoßgeräte und ihre Funktion zu überlassen. Für sie hieß es alles oder nichts… und sie wollten alles.
Als er auf die offene Frequenz zurückschaltete, erreichten ihn weitere Schreie, denn eben hatte ein unsichtbarer Laserstrahl einen Eisbuckel getroffen und aufgelöst. Carl sah eine sich davon wälzende Gestalt… Jemand hatte dort Deckung gesucht.
Um sich Gehör zu verschaffen, ließ er eine Kommandoschaltung auf die offene Frequenz legen. »Schafft diese Leute von dem Schlackenhaufen bei Gerät 2! Alles sucht Deckung in den Zuführungsstollen.« Ein Stimmengewirr antwortete, gedämpft durch die Kommandoschaltung. »Und wer gehört werden will, soll gefälligst den Identifizierungskode gebrauchen!«
Darauf verband er sich mit der rechnergesteuerten Funkzentrale und ließ alle Frequenzen für den Direktverkehr sperren. Ungestörte Verbindungen kamen nur noch durch Vermittlung der Funkzentrale zustande, die zuvor den Kode kontrollierte und weitergab. Sekundenlang blieb alles still, nur ein unheimliches Zischen war zu vernehmen. Dann meldete sich eine Stimme: »Jones, BQ an Osaka und Osborn. Stollen mit Gruppe von fünf Personen erreicht. Erwarte weitere Anweisungen.«
»Benchley, DF an Kommandant. Habe guten Überblick von sicherer Anhöhe. Kann laufend Lageberichte geben.«
Carl nickte. Ein paar gute Leute, die sich ihrer Ausbildung erinnerten, waren Bataillone wert.
»Jeffers, GH an Osborn. Ich hab’s, glaube ich.«
»Osborn, GH. Was hast du?«
»Jeffers, GH. Ich kann das Rohr neigen. Muß noch nach Süden gedreht werden. Du richtest aus, in Ordnung?«
Carl bemerkte, daß das gleichmäßige Hämmern des Rückstoßgerätes vor einiger Zeit aufgehört hatte. Nun wurde das ungefüge Gerät mit gesenktem Ausstoßrohr langsam auf die entfernte Anhöhe geschwenkt. Carl sprang auf und lief mit mehreren langen Sätzen hinter das Rückstoßgerät. Er konnte sich nur eine Möglichkeit der Ausrichtung vorstellen: indem er über das Rohr direkt sein Ziel anvisierte.
Großartig, dachte er. Wie im Dreißigjährigen Krieg.
Und die Arcisten beobachteten sie zweifellos. Ihr Ziel mußte diese Stellung sein. Sie hatten die leichteren Ziele während ihrer Versuche zur Entfernungsbestimmung zerstört. Das Rückstoßgerät war freilich schwieriger zu treffen, da es größtenteils in seinem Graben stand. Aber der obere Teil mit dem Ausstoßrohr mußte deutlich genug zu sehen sein…
Er kauerte auf dem verfärbten Schnee hinter dem Ausstoßrohr, schloß ein Auge und visierte die Punkte auf dem entfernten Hügel an.
»Benchley, DF an Osborn. Habe eine taktische Skizze beobachteter Feindpositionen. Bereiten Sie Empfang vor. Sie stecken ziemlich dicht beisammen.«
Carl übernahm die Skizze, deren Projektion mehr als die Hälfte seiner Visierscheibe einnahm. Sie zeigte eine Hauptgruppe und zwei Flügel – wahrscheinlich vorgezogene Beobachter.
»Benchley, DF an Osborn. Es sind nicht viele. Ich zähle fünf. Aber sie haben eine hervorragende Stellung.«
Die Arcisten saßen in einer Einkerbung auf dem Kamm der Anhöhe, wo sie gut gedeckt waren. Als er hinüberspähte, leuchtete ein bläulichweißer Blitz auf, und er zog automatisch den Kopf ein. Was lächerlich war; wäre er im Brennpunkt des Laserstrahls gewesen, hätte er ihn augenblicklich geblendet und getötet. Sie hatten zu hoch gezielt. Nur der Randbereich hatte ihn getroffen.
Er blickte zu Jeffers und zwinkerte, aber es half nicht viel. Rote und grüne Kringel tanzten ihm vor den Augen. »Laß schon fliegen!«
»Ich… ich kann diesen Hügel nicht einfach mit einer vollen Ladung wegblasen! Das ist ein Kilo Gestein und Eisen mit einer Beschleunigung von zehntausend Kilometern pro Sekunde… Es wäre wie eine Atombombe!«
Carl überlegte. »Leere Kapseln! Die wiegen kaum hundert Gramm. Hast du welche?«
»Ah. Ja. Aber wir sollten auch die Energie verringern«, sagte Jeffers. »Dauert nur eine Minute… laß sehen… noch ein Prozent…«
»Wir müssen das Feuer erwidern. Fang an!«
»Schon gut, in Ordnung.« Zu seiner Erleichterung hörte Carl das brap brap brap wieder einsetzen. Das Geräusch war diesmal anders. Tiefer und rauher.
»Für solche extremen Einstellungen ist das Ding nicht gemacht! Es wird auseinanderfliegen!«
Carl spähte durch das Fernglas. Am Hang der Anhöhe erblühten in rascher Folge Wolken aus Dampf und Staub.
»Jeffers, zwei Grad nach links!«
»Gut.«
Die Einschlagwolken, mehrere pro Sekunde, sprangen höher.
Ein Blitz von der Anhöhe, diesmal heller. Auch der Feind schoß sich ein.
Carl wandte den Kopf und sah das Eis nicht allzuweit hinter ihm in schönen, perlmuttfarbenen Dampfwolken explodieren.
»Höher!«
»Hab ihn schon!«
Die Kette der Einschlagwolken wanderte den Hang hinauf, ungleichmäßig aber aufsteigend zu den Punkten, die das große Lasergerät bedienten.
Zwei Gegner, jeder mit einer Waffe beschwert, die zu groß und zu mächtig war, um geschickt eingesetzt zu werden… wie Fechter, die mit Stahlträgern aufeinander einschlugen. Wer als erster einen Treffer erzielte…
Carl überlegte, was geschehen würde, wenn der Laser ihn voll träfe. Sein Schutzanzug würde ein wenig reflektieren, und aus diesem Winkel war der Strahl nicht so scharf gebündelt… Dennoch wäre es ein Wunder, wenn er überlebte.
»Weiter so! Und höher!«
Die erratisch umhertanzenden Einschlagwolken schwenkten, hüpften aufwärts und trafen die dunklen Punkte in dem Einschnitt.
Lautlose Zerstörung. Carl stand hinter dem Ausstoßrohr und beobachtete, wie die Geschosse endlos ins Ziel und seine unmittelbare Nachbarschaft hämmerten. Von den Punkten war nichts mehr zu sehen, das große Lasergerät war zersplittert. Dann breiteten sich die Einschlagwolken aus und verhüllten die Szene.
»Gut so. Du kannst abschalten.«
»Wir haben sie?«
»Ja. Ja, wir haben sie.«
Carl empfand weder Erleichterung noch Befriedigung. Es war alles so rasch geschehen, so abstrakt. Ein paar Punkte auf einer Anhöhe. Jähe Lichtblitze. Dann die entfernten Einschlagwolken, als Gehäusekapseln ins Eis schlugen, in nachgebendes Fleisch und brechende Knochen. Eine Geometrie des schnellen Todes.
»He, wir haben es geschafft! Das wird dem Lumpengesindel eine Lehre sein!« Das Rückstoßgerät verstummte. Jeffers kam aus dem Graben gesprungen, begeistert.
Carl hörte Virginias Stimme und die Stimmen anderer, und mit dem wiedereinsetzenden Stimmengewirr in den Ohren, ging er langsam auf die zerschossene Anhöhe zu. Er wollte nicht sehen, was dort war, wußte aber, daß er es tun mußte. Es war ein Teil seiner Verantwortung.
Plötzlich fiel ihm der Rest des Gedichts ein, die Zeilen, die er zuvor nicht zusammengebracht hatte… wenige Minuten war es erst her, und doch schien es ihm Monate zurückzuliegen.
Wir stehen wie auf dunkelndem Gefilde,
Durchtost vom wirren Lärm des Kampfes und der Flucht,
Wo unvermittelt Heere nächtlich aufeinanderprallen.