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SAUL
Die meisten Leute hätten das Geschöpf abscheulich gefunden. Von rundlicher Gestalt, gelb und ockerfarben gefleckt und am ganzen Körper mit dornigen Auswüchsen besetzt, war seine äußere Erscheinung von einer Art, die nur in einer überaus nachsichtigen Mutter liebevolle Empfindungen wachrufen konnte.
Oder in einem Stiefvater, dachte Saul Lintz.
Tausende der winzigen häßlichen Tierchen schossen im beengten Raum eines einzigen glänzenden Tropfens Salzwasser herum, den die Oberflächenspannung in einem flachen runden Hügel auf dem gläsernen Objektträger des Mikroskops zusammenhielt.
Saul drehte an der Optik, bis die Vergrößerung einen einzelnen Cyanuten heranholte. »Da haben wir ihn«, murmelte er. »Du taugst zum Versuchsobjekt, mein Junge.«
Er drückte einen Auslöser, und das zytologische Instrument übernahm die Verfolgung der winzigen Mikrobe in ihrem kleinen Universum.
Stärkere Vergrößerung zeigte, daß der Einzeller sich durch rasch pulsierende Bewegungen winziger gelber Flimmerhärchen fortbewegte, aber das war Saul nicht neu. Er kannte das Lebewesen bis in seine kleinsten Bestandteile, selbst dort noch, wo das Mikroskop versagte – auf der Ebene der Säuren und Basen, der Zucker und fein ausbalancierten Lipoide.
Es sauste zwischen Tausenden von anderen pulsierenden Einzellern hin und her und suchte, was es zum Überleben brauchte.
Nicht anders als wir, dachte Saul. Nur hat unsere Suche uns eineinhalb Milliarden Kilometer von der Heimat entfernt.
Er rieb sich die Augen und beugte sich vor, einer alten Gewohnheit aus längst vergangenen Tagen folgend, als man noch durch Okulare gespäht hatte, ehe er sich wieder entspannte. In einer Zeit, da derlei Mühseligkeiten von der Elektronik übernommen wurden, genügte es, vor dem Bildschirm zu sitzen.
Selbst hier, im langsam rotierenden Gravitationsrad der Edmund Halley, war die Anziehungskraft nicht stark genug, daß man gegen sie ankämpfen mußte. Es kam darauf an, locker zu bleiben, oder es kostete einen unverhältnismäßigen hohen Energieaufwand, einfach stillzuhalten.
Nur die Hälfte der Bildschirme und Hologramme in der biologischen Abteilung waren eingeschaltet. In einem Dutzend anderer dunkler Oberflächen spiegelte sich Sauls eigenes blasses Ebenbild: dichte Augenbrauen über einer fleischigen Nase, gelichtetes Scheitelhaar und Falten, deren Herkunft die meisten Leute, die ihn kennenlernten, eher im Lachen als in Trübsal vermuteten.
Nur jene, die Saul gut kannten – und ihrer waren in diesen Tagen wenige –, kannten den wahren Ursprung dieser tiefen Furchen: einen Stoizismus, der den Schmerz vieler Verluste abwehrte.
Die Furchen vertieften sich jetzt, als Sauls schwarze Augen sich in angestrengter Konzentration verengten. Die Fingerspitzen am Steuergerät, senkte er eine Hohlnadel in den Salzwassertropfen auf dem Glas des Mikroskops. In der holographischen Bildwiedergabe erschien die winzige Nadel wie eine Lanze, als der Computer ihre Spitze zum auserwählten Versuchsobjekt führte.
»Komm schon!« murmelte Saul, als die Mikrobe ihr Heil in der Flucht suchte. »Halt still für Papa!«
Der Cyanut hatte einen Durchmesser von weniger als fünfzig Mikron und war damit so winzig und unauffällig, daß seine Vorfahren in stiller Symbiose seit Jahrmillionen friedlich in menschlichen Körpern gelebt hatten, bis sie vor einer Generation entdeckt worden waren. Für Saul enthielt die winzige Kreatur so viele Wunder wie der riesige Komet, der draußen so viel Aufmerksamkeit auf sich lenkte.
Die Bildwand des Laboratoriums war auf eine Ansicht des Halleyschen Kometen eingestellt, zeigte diesen aber nicht, wie er jetzt war – eine allmählich abnehmende Wolke von diffusen Lichterscheinungen um einen zehn Kilometer dicken Kern aus Eisen, Gesteinen und schmutzigem Schnee –, sondern wie er noch vor Monaten gewesen war, auf dem Höhepunkt seiner kurzen Prachtentfaltung, als er im halben Orbitalabstand der Erde die Sonne umkreist hatte und sein doppelter Schweif im protonischen Sonnenwind die größte Ausdehnung erreicht hatte.
Sie standen einander an Schönheit nicht nach, der gigantische kosmische Bote, der für den größten Teil eines Jahrhunderts ihre Heimat sein sollte, und das mikroskopische Wunder, das den Aufenthalt möglich gemacht hatte. Dennoch war es kein Wunder, daß Saul sich statt auf den Kometen auf das winzige Lebewesen konzentrierte, das im Wassertropfen schwamm.
Schließlich hatte er es gemacht.
Aber nein, sagte er sich. Es gibt nur einen Gott – selbst wenn er seine Werkzeuge zur Gestaltung des Lebens in unsere Hände legt. Er tut es nur, um zu sehen, was wir damit anfangen werden.
Wer in seinem Fach arbeitete, tat gut daran, sich dies von Zeit zu Zeit zu vergegenwärtigen.
Als die Nadelspitze sich dem Versuchsobjekt bis auf eine Zellenbreite angenähert hatte, löste Saul die Versuchsabfolge aus. Ein winziger, undeutlicher Flüssigkeitsaustritt trübte das Wasser in unmittelbarer Nähe der Nadelspitze, wo Spuren von Cyanwasserstoff-Lösung ausgestoßen wurden.
Es handelte sich nur um wenige Moleküle, doch der kleine Organismus reagierte fast augenblicklich. Seine Flimmerhärchen gerieten in heftig pulsierende Bewegung, und der Cyanut sprang vorwärts…
Vorwärts, auf die Nadelspitze zu. Er umkreiste und berührte sie wiederholt in eifriger Aktivität.
So weit, so gut. Saul wäre überrascht gewesen, wenn die Mikrobe sich anders verhalten hätte. Die Cyanuten waren schon auf der Erde gründlich untersucht worden, bevor die Expedition zum Halleyschen Kometen hatte genehmigt werden können. Kein Faktor war für den Erfolg und die Gesundheit von vierhundertzehn mutigen Männern und Frauen wichtiger als diese kleinen Lebewesen.
Er war zuversichtlich. Aber das Leben – und das galt selbst für genetisch maßgeschneidertes Leben – hatte die Gewohnheit, sich zu verändern, wenn man es am wenigsten erwartete. Das Überleben aller Expeditionsteilnehmer hing von der planmäßigen Arbeit der winzigen Cyanuten ab. Er hatte die Forschungsgruppe geleitet, die sie entwickelt hatte, und er konnte sich keine Mißerfolge leisten. Es gab in seinem Leben schon so mehr als genug Schatten. Miriam, die Kinder, das Land und das Volk seiner Jugendzeit… und natürlich Simon Percell.
Der arme Simon. Nur zu gut erinnerte er sich, wie ein Fehler das Leben des Freundes und nahezu alles, was zu erreichen ihm höchstes Ziel gewesen war, ruiniert hatte. Es war gefährlich, Gott zu spielen.
Bald zeigten die Instrumente an, daß alles HCN verschwunden war, absorbiert von dem hungrigen Organismus. Saul nickte befriedigt. Jeder an dieser Expedition beteiligte Mensch hatte Millionen Cyanuten in seinem Blutkreislauf und in den Lungenbläschen. Diese Probe – willkürlich einem der Besatzungsmitglieder entnommen – hatte gerade demonstriert, daß sie ihrer Hauptaufgabe gerecht wurde, nämlich der Absorption jeder Spur des tödlichen, gelösten Blausäuregases, bevor dieses die roten Blutkörperchen des Wirts erreichen konnte. Die Zufuhr gelösten Kohlenmonoxids erwies die Fähigkeit der Mikrobe, auch dieses Gas zu absorbieren, ehe es sich dem Hämoglobin anschließen konnte.
Nun löste Saul den nächsten Schritt des Versuchs aus. Winzige Spuren einer neuen Lösung wurden dem Salzwassertropfen zugeführt. Diesmal zog sich die kleine Mikrobe auf dem Bildschirm eilig von der Nadel zurück, krümmte sich beinahe, als ob sie gestochen worden wäre. Blausäure und Kohlenmonoxid waren fette Weide für dieses Geschöpf, aber die Bestandteile menschlichen Zellgewebes schienen es abzustoßen.
Auch das war gute Nachricht. Der zweite Test bestätigte, daß der Cyanut völlig abgeneigt war, menschliche Zellen als Nahrung anzusehen.
Dies waren jedoch nur die Grundlagen. Es gab zahlreiche andere Punkte, die der Überprüfung bedurften und mit denen die automatische Phase der Testreihe programmiert war. Zu diesen gehörte eine Reproduktionsrate, die sich selbst in Grenzen hielt, Akzeptanz durch das menschliche Immunsystem, pH-Empfindlichkeit, ein gefräßiger Appetit auf andere mögliche Gifte…
Es war nicht so sehr ein Katalog von Eigenschaften als vielmehr eine Litanei von Herausforderungen, denen man sich stellen und die bestanden werden mußten. Saul verspürte berechtigten Stolz auf seine kleine Gruppe zu Haus auf der Erde, die Vorurteile, bürokratische Hindernisse und abergläubische Vorstellungen hatte überwinden müssen, um diese Arbeit zu leisten. Am Ende aber hatten sie ein Wunderding geschaffen – einen neuen menschlichen Symbionten.
Cyanuten sollten von nun an bleibende Bestandteile aller Expeditionsteilnehmer für den Rest ihres Lebens sein… und vielleicht, so wagte er sich vorzustellen, aller Menschen, nicht anders als die Darmflora, die dem Menschen von jeher geholfen hatte, seine Nahrung zu verwerten, und wie die Mitochondrien in seinen Zellen, die Zucker für ihn verbrannten und in nutzbringende Energie umwandelten.
»Wer kann sich mit dir vergleichen, o Herr…«, flüsterte er in schiefmäuliger Verspottung seiner unausrottbaren Neigung zu allzu menschlicher Hybris. Vor langer Zeit schon war er zu dem Schluß gelangt, daß Gott und er Geduld miteinander haben mußten. Vielleicht war das Universum für keinen von ihnen zweckdienlich eingerichtet.
Er beobachtete die Versuchsergebnisse am Bildschirm – alle wie erwartet und nahezu vollkommen –, bis ein leises Quietschen hinter ihm verriet, daß jemand die Tür zum Labor öffnete.
»Ah! Soso! Wir ärgern wieder unsere Haustiere, wie? Können Sie die armen Dinger nicht in Ruhe lassen, Saul?«
Er brauchte nicht aufzusehen, um die Stimme Akio Matsudos zu erkennen. »Hallo, Akio.« Er hob die Hand, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden. »Nur eine Überprüfung. Und alles sieht gut aus, danke. Sind es nicht liebenswerte Tierchen?«
Er mußte lächeln, als der hagere japanische Arzt mit raschen Bewegungen an seine Seite kam und ihm einen säuerlichen Blick zuwarf. Der Chef der biologisch-medizinischen Abteilung hatte aus seiner wahren Meinung von Sauls Geschöpfen niemals einen Hehl gemacht. Sie waren notwendig, für den Erfolg ihrer achtundsiebzigjährigen Reise sogar lebenswichtig. Aber dem armen Akio war es nie gelungen, ihre ästhetische Seite zu sehen.
Matsudo winkte ab. »Bitte erinnern Sie mich nicht an die Infektion, die meine Körperflüssigkeiten durchschwärmt. Wenn Sie mir nächstes Mal Parasiten injizieren wollen…«
»Symbionten«, berichtigte Saul eilig.
»… gegen die mein Körper keine Immunreaktion mobilisieren kann, werde ich es vorziehen, den Einschnitt selbst zu machen – von links nach rechts!« Und er machte die Bewegung des Harakiri.
Saul grinste, als Matsudos strenge Maske in kichernder Heiterkeit aufbrach. Es klang wie »Chi-chi-chi« und wurde von der Besatzung unter Deck bereits als eine Art Signal imitiert. Akio machte häufig solche lockeren Scherze über die Traditionen des alten Japan.
Vielleicht war es vergleichbar mit Sauls Neigung, jiddische Brocken in seine Sprache einzustreuen, obwohl er sich erst seit einem Jahrzehnt mit dem Idiom beschäftigte – weil er fand, daß es die rechte Sprache für Verbannte sei.
»Was haben Sie mir gebracht, Akio?« fragte er mit einer Kopfbewegung zu dem dünnen Blatt in der Hand seines Besuchers.
»Ach ja. Weil wir gerade vom Immunsystem sprachen: Ich bin gekommen, Sie zu bitten, mit mir die Liste der Reizmittel durchzugehen, Saul. Ich glaube, es ist an der Zeit, eine abgeschwächte Krankheit in das Ventilationssystem einzugeben.«
Saul machte ein Gesicht. Solche Aktionen waren ihm verhaßt.
»So frühzeitig? Sind Sie sicher? Vier Fünftel der Expeditionsteilnehmer liegen doch noch gefroren an Bord der Sekanina und der anderen Transporter. Wach sind gegenwärtig nur die Besatzung der Edmund Halley und die Mitglieder der Arbeitstrupps.«
»Ein Grund mehr«, erwiderte Matsudo. »Seit mehr als einem Jahr leben dreißig Raumfahrer zusammen in der Enge dieses Schiffs. Weitere vierzig sind seit zwei oder mehr Monaten aus den Kühlfächern. Alle Erkältungen und kleineren Viruserkrankungen, die sie von der Erde mitbrachten, haben inzwischen ihren Gang genommen. Ich habe eine Inventur der Erkrankungen und ihrer Erreger vorgenommen und festgestellt, daß mehr als drei Viertel der zum menschlichen Umkreis gehörenden pathogenen Organismen bereits ausgestorben sind. Höchste Zeit, die Immunsysteme der Leute mit einer neuen Herausforderung wachzurütteln.«
Saul seufzte. »Sie sind der Chef.« Tatsächlich sollte das gesamte wissenschaftliche Personal der biomedizinischen Abteilung über Maßnahmen zur Kräftigung des Immunsystems beschließen, aber wenn er Akio daran erinnerte, würde es den Mann nur beleidigen. Das Verfahren war ohnehin eine Routineangelegenheit.
Aber Sauls Nase juckte bereits in unfroher Erwartung.
Er wandte sich zur Bibliothekskonsole und gab die Kodenummer ein. Auf dem Bildschirm erschien eine Seite voller Daten vor schwarzem Hintergrund.
Saul deutete mit einem Kopfnicken zu der grün leuchtenden Beschriftung. »Da steht Ihnen eine hübsche Auswahl bösartiger Erreger zur Verfügung, Doktor. Mit welcher Seuche möchten Sie Ihre Patienten infizieren? Wir haben Windpocken, Masern, Röteln, Mumps…«
Matsudo winkte ab. »Nichts Drastisches. Wenigstens nicht so frühzeitig.«
»Nein? Nun, dann gibt es Blasengrind, Fußpilz…«
»Um Himmels willen, Saul! In dieser Feuchtigkeit? Bevor das Stollensystem im Kometenkern fertiggestellt und die Lufttrocknungsanlage installiert ist? Sie wissen, wie sehr man Pilzbefall an Bord eines Raumschiffs fürchtet. Cruz würde uns die Hammelbeine langziehen…«
Er brach ab und lächelte pikiert. »Ha ha. Sehr komisch, Saul. Sie wollen mich nur zum Besten haben.«
Saul kannte Matsudo seit vielen Jahren von wissenschaftlichen Kongressen und durch Veröffentlichungen, doch war ihre Bekanntschaft in früherer Zeit eher flüchtig gewesen, und noch immer war ihm manches an dem Mann rätselhaft. Warum, zum Beispiel, hatte er sich zur Teilnahme an dieser Expedition freiwillig gemeldet? Welchem der Typen, die bereit waren, Heimat, Familie und Karriere aufzugeben, dreiundsiebzig von den achtundsiebzig Jahren der Expeditionsdauer im gekühlten Tiefschlaf zuzubringen und schließlich in eine fremd gewordene Welt zurückzukehren, konnte man Akio zuordnen? War er ein Idealist, der Kapitän Miguel Cruzs Traum von einer für die ganze Menschheit wichtigen Mission folgte? Oder war er ein Verbannter, ein Flüchtling, wie so viele Teilnehmer an diesem Unternehmen?
Vielleicht ist er, wie ich, ein wenig von beidem, dachte Saul.
Matsudo fuhr sich durch das glänzende schwarze Haar, das dicht wie das Haar eines Jungen war. »Suchen Sie mir einen Schnupfenvirus aus, seien Sie so gut, Saul. Etwas, was die Immunsysteme der Leute hinreichend herausfordern kann, um ihre Antikörperproduktion in Gang zu halten. Sie brauchen es nicht einmal zu merken, wenn es nach mir geht.«
Saul gab eine Kodenummer ein, und eine neue Seite erschien auf dem Bildschirm. »Der Kunde hat immer recht«, antwortete er. »Und Sie haben Glück! Wie es scheint, haben wir achtzig Varietäten von grippalen Infekten auf Lager.«
»Na, ich lasse mich überraschen«, sagte Matsudo. Dann aber zog er die Stirn in Falten und hob beide Hände. »Nein! Wenn ich es genau bedenke, wähle ich lieber selbst! Ich möchte nicht, daß Sie welche von Ihren experimentellen Ungeheuern loslassen, ganz gleich, was Sie über die Wunder der Symbiose sagen!«
Saul machte ihm Platz, und Akio beugte sich vor und überflog die Liste der verfügbaren Viren, wobei er kaum hörbar vor sich hin murmelte. Offenbar hatte er wieder seine Kontaktlinsen vergessen.
Er mochte zwanzig Zentimeter größer sein als sein Großvater, dachte Saul, und doch war ihm Veränderung suspekt. Ein Wissenschaftler, dabei aber zu konservativ, um sich durch eine Hornhautoperation von seinem Sehfehler befreien zu lassen. Was war denn aus den innovationsfreudigen, zukunftshungrigen Japanern früherer Zeiten geworden?
Was das anbelangte, konnte man geradeso gut fragen, was aus Israel geworden war, seinem eigenen Heimatland. Wie hatten die Abkömmlinge der Negev-Pioniere, deren Militärmaschine jahrzehntelang den Nahen Osten in Atem gehalten hatte, so tief in Aberglauben und Borniertheit versinken können? Was hatte nüchterne Sabras in verwirrte Schafe verwandelt, die sich von fanatischen Leviten und Salawiten vor den Karren spannen ließen?
Vielleicht waren diese Rätsel Teil eines anderen, dem Saul auf der Spur zu sein glaubte: der Ausbreitung einer allgemeinen Hoffnungslosigkeit unter der Menschheit, obwohl nach dem Ende eines Jahrhunderts der Verwüstungen und des Kulturverfalls bessere Zeiten nahe schienen.
Es war kein beruhigender Gedankengang. Auch die biologischen Wissenschaften befanden sich in schlechter Verfassung. Die großen Hoffnungen, die Simon Percell und andere Gentechniker zu Beginn des Jahrhunderts beflügelt hatten, waren vor mehr als einem Jahrzehnt in einer Serie von Skandalen zusammengebrochen, aus der nur eine gleichmütige pharmazeutische Industrie und ein paar kleine Außenseiter wie Saul halbwegs ungeschoren hervorgegangen waren.
Und auf Erden machten verschärfte Bestimmungen und verstärkte Überwachung diesen Außenseitern das Leben zunehmend schwer – einer der Gründe, daß er an dieser Expedition teilnahm. Ein Exil in Raum und Zeit war zweifellos einigen der Alternativen vorzuziehen, die er hatte auf sich zukommen sehen.
»Wir werden den Virus TR-3-APZX-471 nehmen«, erklärte Matsudo selbstzufrieden. »Sind Sie einverstanden, Saul?«
Saul glaubte bereits einen Niesreiz zu verspüren. »Eine harmlose kleine Varietät, deren Anmaßung jedoch nicht verfehlen wird, Sie zu erheitern«, murmelte er.
»Wie bitte?«
»Hat nichts zu sagen«, sagte er verdrießlich. »Als offizieller Hüter kleiner Tiere werde ich Sorge tragen, daß Sie bis morgen eine frisch ausgebrütete Kultur dieses lästigen Ungeziefers erhalten.« Er drückte eine Taste, und das Verzeichnis verschwand vom Bildschirm.
Unterstützt durch die minimale Schwerkraft, schwang sich Matsudo mühelos auf den Tisch und blickte seufzend auf seine Hände. Saul sah ihm an, daß er im Begriff war, sich in Erörterungen allgemeiner Lebensphilosophie zu ergehen. Im Laufe ihrer langen gemeinsamen Reise hatten sie ungezählte Schachpartien gespielt und ihre Ansichten über die Welt ausgetauscht, aber keinem von ihnen war es je gelungen, den anderen in irgendeiner Frage zur eigenen Ansicht zu bekehren.
»Was hat sich nicht alles geändert, seit wir Medizin studierten! Wir wurden dazu erzogen, alle Krankheitserreger zu bekämpfen und wenn möglich vom Angesicht der Erde zu tilgen. Heutzutage kultivieren und gebrauchen wir sie. Sie sind unsere Werkzeuge.«
Saul nickte. Heutzutage war es nicht die geringste unter den Pflichten eines Arztes, durch die sorgfältige Verabreichung eben dieser Krankheitserreger Herausforderungen der körpereigenen Abwehr zu schaffen.
»Das Immunsystem des Patienten wird gekräftigt und geübt, damit es die Aufgaben erfüllen kann, denen die Medizin nicht gewachsen ist. Es ist ohne Zweifel eine bessere Methode, Akio, als an Symptomen herumzukurieren, wie wir es mit unseren Medikamenten meist getan haben. Ich wünschte nur, Sie würden einsehen, daß meine Cyanuten Teil des gleichen Fortschritts sind.«
Matsudo verdrehte die Augen zum Himmel. Sie hatten dieses Thema viele Male erörtert.
»Ich bedaure, daß ich nicht zustimmen kann, Saul. In einem Fall lehren wir den Körper, seine eigenen Abwehrkräfte zu gebrauchen und abzustoßen, was fremd ist. Sie aber beschwatzen ihn, einen Eindringling aufzunehmen, für alle Zeit!«
»Eine ungeheuer große Zahl der in einem menschlichen Körper lebenden Zellen gehört zu symbiotischen Lebensformen – Darmbakterien, Follikelreiniger. Sie helfen uns, wir helfen ihnen.«
Matsudo wedelte abwehrend mit der Hand. »Ja, ja, das kennen wir. Ich weiß, Sie sehen uns nicht als Individuen, Saul, sondern als große, zusammenwirkende Ameisenhaufen verschiedener Arten.« Seine Stimme hatte eine gewisse Schärfe, die Saul früher nicht herausgehört zu haben glaubte. Und Übertreibung war gewöhnlich nicht Matsudos Stil.
»Akio…«
Aber der andere ließ sich nicht unterbrechen. »Aber nehmen wir ruhig einmal an, Sie hätten recht, Saul. All diese Organismen, die unsere Körper mit uns teilen und mehr oder weniger nützliche Funktionen darin erfüllen, sind im Laufe von Jahrmillionen zu Symbionten geworden. Das ist etwas völlig anderes als praktisch von heute auf morgen gentechnisch zusammengeschusterte Mikroben, über deren langfristige Mutationsfähigkeit nichts bekannt ist, in ein so fein ausbalanciertes Gleichgewicht einzuführen.«
Saul errötete ein wenig. Er überlegte, ob er noch einmal erklären solle, daß die Cyanuten Abkömmlinge von Einzellern waren, die seit Urzeiten friedlich im Menschen gelebt hatten. Aber er wußte nur zu gut, was Akio antworten würde. Nach allen Veränderungen, die durch gentechnische Manipulation an der Lebensform vorgenommen worden waren, handelte es sich bei den Cyanuten um ein neues Lebewesen, das von seinen natürlichen Vettern so verschieden war wie der Mensch vom Affen.
»Saul, die Bewegung für Rückbesinnung und Erneuerung lehrt uns, daß wir sorgfältig überlegen müssen, bevor wir in natürliche Abläufe eingreifen. Die Fehler der Vergangenheit haben gezeigt, wie gefährlich das sein kann.«
Saul blickte zum Hologramm des Mikroskops auf, wo sein winziges Versuchstier noch immer durch das Versuchsprogramm gejagt wurde. Es pulsierte nach wie vor nahe der Nadelspitze – gequält aber wohlauf.
»Ich…« Dann schüttelte er den Kopf und verstummte. Er konnte sich denken, was seinen Freund beunruhigte.
»Noch kein Zeichen von der Newburn?«
Matsudo schüttelte den Kopf. »Kapitän Cruz und seine Offiziere halten noch Ausschau. Vielleicht, wenn der Komet sich weiter beruhigt, wenn der Schweif sich weiter zurückbildet und die Ionisierung geringere Störungen verursacht… Glücklicherweise waren dort nur vierzig Leute an Bord. Wäre es einer der anderen Transporter, die Sekanina, oder die Whipple, oder die Delsemme…« Er zuckte die Achseln.
Saul nickte. Kein Wunder, daß Matsudo reizbar war. Mehr als dreihundert Männer und Frauen waren vier Jahre vor der Edmund Halley ausgesandt worden, zusammen mit dem größten Teil des schweren Materials. Sie befanden sich – bei herabgesetzten Lebensfunktionen bis nahe an den Gefrierpunkt abgekühlt – an Bord von vier selbststeuernden Raumsonden, deren viele Kilometer weit ausladende Gazesegel den Strahlungsdruck des Sonnenwindes als Antriebskraft nutzten.
Nur die ›Gründermannschaft‹ nahm den schnellen, energiewirtschaftlich kostspieligen Weg an Bord der alten Edmund Halley. Nach ihrem Eintreffen – sie hatten ihren Treibstoff bei der Angleichung an die beschleunigte rückläufige Bahnbewegung des Kometen nahezu aufgebraucht – war es die erste Aufgabe der Gründungsmannschaft, die nötigen Vorbereitungen zur Bergung der zylindrischen Raumsonden zu treffen, in denen die Masse der Expeditionsteilnehmer in Tiefschlaf lag.
Beide Reisearten hatten ihre Nachteile. Die Leute an Bord der Edmund Halley hatten während der mehr als einjährigen Reise durch den Raum beengte Lebensumstände und Langeweile zu ertragen. Außerdem teilten sie die in letzter Zeit offenbar gewordenen Gefahren, die mit der Errichtung eines Stützpunktes verbunden waren.
Auf der anderen Seite hatten sie eine gewisse Möglichkeit, ihr Schicksal selbst zu bestimmen. Es war nicht ihr Los, jahrelang im Kälteschlaf dahinzutreiben und sich darauf verlassen zu müssen, daß andere sie einholten, ihr Fahrzeug bargen und sie schließlich weckten.
Würden die Männer und Frauen der Newburn für alle Zeit durch den Raum treiben? Wenn Cruz und seine Mannschaft die Sonde nicht entdeckten, würde sie vielleicht nie, vielleicht erst in einem fernen Zeitalter von anderen gefunden werden. In welch einer Welt mochten sie nach so langer Fahrt auf dem Strom der Zeit erwachen? Falls sie jemals wieder erwachten…
»Es werden lange achtzig Jahre sein, Saul.« Matsudo schüttelte nachdenklich den Kopf und betrachtete die Bildwand, die den Halleyschen Kometen in seiner vollen Prachtentfaltung vor dem Hintergrund des Sternhimmels zeigte. Der lange Schweif aus Plasma und Staub schimmerte wie phosphoreszierendes Plankton in nächtlicher See. »Eine lange Zeit wird verstreichen, bis wir die Heimat wiedersehen.«
Saul verbarg das eigene bange Vorgefühl dem Freund zuliebe hinter einem Lächeln. »Wir werden den größten Teil davon verschlafen, Akio. Und wenn wir dann heimkehren, werden wir reich und berühmt sein.«
Matsudo schnaufte skeptisch, anerkannte aber Sauls gute Absicht mit einem Lächeln. Ironie war der gemeinsame Wesenszug, der sie zu Freunden machte, waren sie auch sonst oft verschiedener Meinung.
Ein Glockensignal ertönte, und Saul blickte auf, als die Nadel der Sonde sich aus dem Salzwassertropfen zurückzog. Das kleine Versuchstier trieb jetzt grau und leblos. Der letzte Versuch der Testreihe hatte den Beweis zu erbringen, daß die Cyanuten noch immer leicht abgetötet werden konnten, sollte es jemals notwendig werden.
Er fragte sich, ob es das Vorrecht eines Schöpfers sei. Oder beugten sich seine Schultern kaum merklich unter einer weiteren kleinen Schuld?
Schon näherten sich beutesuchende Einzeller dem mikroskopischen Leichnam. Saul streckte die Hand aus und schaltete die Bildübertragung ab.