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SAUL
Die Welt kehrte langsam zurück, und nicht allzu angenehm. Es prickelte bis in die Wurzeln seiner Nerven, und dann fing alles an zu jucken.
Er konnte sich nicht kratzen.
Später, als das Prickeln endlich nachließ, stellte sich zum erstenmal ein Gefühl empfindlicher Kälte ein.
Diese allmähliche Rückkehr zum Bewußtsein glich einem fiebrigen Frösteln, einer schlimmen Krankheit, in deren Verlauf der Geist gelähmt und die Gedanken in Bruchstücken zerstreut sind, und doch weiß ein Kern, daß er denken will, daß er herausbringen muß, was fehlt und wie es behoben werden kann.
Auch war es wie ein Alptraum, mit verschwommenen Bildern, undeutlichen Geräuschen und Stimmen, die murmelten und wieder verschwanden, ohne Erklärung und Sinn. Nur der Träumer wußte, daß es diesmal kein rasches, erleichtertes Erwachen geben würde.
Es gab nur einen Weg aus diesem Traum: ein langes, langsames Weiterdämmern bis zum Ende.
Die erste Gewißheit, daß er nicht phantasierte, kam für Saul, als eine leere weiße Fläche über ihm langsam Schärfe gewann. Seine Augenlider zuckten in zögernder Rückkopplung, gehorchten dann seinem Willen.
Schließen, lautete sein Befehl. Das Licht wurde zu einem angenehm gedämpften rosigen Ton.
Öffnen! befahl er hastig, in Sorge, die Welt sei wieder von ihm gewichen. Aber Nerven und Muskeln reagierten prompt: ein Sturzbach von Licht brach über ihm herein.
Es ist kalt… Kalt wie das Herz des Hohenpriesters.
Und ein trockener, frostiger Morgen in den Hügeln Judäas erstand in der Erinnerung, der Duft hundertjähriger Zedern und die Beklemmung einer zu Grabe getragenen Hoffnung.
In der Richtung von Gan Illanna rötete Feuerschein den Himmel. Auch auf dem Herzlberg brannte es. Aber in Jerusalem rückten die Armeen des Herrn singend vor, auf einer Seite angeführt von einem Dickicht goldener Kreuze, auf der anderen Seite vom Mahdi und den Mullahs der Salawiten. Und in der Mitte, ein großes Modell der nachgebauten Arche auf den Schultern, die Kahanim-Priester des neuen Senhendron. Die Gläubigen umbrandeten die Ruinen ausgebrannter und zerschlagener Busse, ließen Freudengesänge ertönen und trugen Mauersteine und Mörtel.
Unfähig, etwas anderes außer seinen Augenlidern zu bewegen, schien Saul alles noch einmal zu sehen, in blassen Farben auf die weiße Decke projiziert. Es war eine von Rauch und Aberglauben geschwängerte Erinnerung.
Angehörige der UN-Friedenstruppe standen Wache, als die Architekten die Flaggen der drei Glaubensrichtungen auf dem Tempelberg entrollten und das Land in drei Sprachen zum Heiligen Boden proklamierten. Die gepanzerten Fahrzeuge hatten nicht eingegriffen, um die Ausschreitungen zu beenden. Und die Weltpresse berichtete kaum über das Gemetzel an jenen, die sich der neuen Theokratie widersetzten.
Für die Welt war es ein großer Tag. Ein seit hundert Jahren gärender Unruheherd war zur Ruhe gekommen. Milliarden betrachteten es als Wunder, als Vertreter dreier großer Glaubensgemeinschaften sich zum heiligen Zweck verbündeten.
Dem Höchsten einen Tempel zu erbauen.
Eine Prophezeiung zu erfüllen.
Einen Ort für das Gespräch mit Gott zu errichten.
Selbst nachdem die Feuer niedergebrannt waren und nachdem die Leviten, Salawiten und Tribulationisten den Bund besiegelt hatten, erhob sich noch Rauch zum Berg Zion, von wo er das Geschehen beobachtet hatte. Der kräftige, süße Duft am Spieß gebratener Opferlämmer.
Der Weihrauch des Levitikus stieg abermals in den Himmel und kräuselte sich unter der Nase des Herrn.
Saul schloß wieder die Augen und schlief.
Beim nächsten Erwachen gab es Bewegung. Eine Gestalt kam in Sicht. Er zwinkerte, versuchte schärfer zu sehen.
Es war ein älteres, strenges Gesicht. Aber er erkannte es.
Jemand befeuchtete ihm die Lippen. Er bewegte die Mundmuskulatur und brachte es fertig, eine Silbe zu flüstern.
»C… Carl?«
Das Gesicht über ihm nickte. »Ja, ich bin’s. Wie fühlen Sie sich?«
Saul zog die Brauen hoch. Jede Bewegung seiner Gesichtsmuskeln geschah wie gegen einen Widerstand. Es war sehr mühsam. Sein angedeutetes Achselzucken besagte mehr, als Worte es in diesem Augenblick tun konnten. Carl Osborn antwortete mit einem Lächeln, das nicht gerade freundlich aussah, eher ironisch. »Gut. Ihre Wiederbelebung nimmt den normalen Verlauf. Sie werden bald wieder auf den Beinen sein.«
Sauls Kehle und seine Stimmbänder waren ausgetrocknet und wie staubig. Jeder Laut schmerzte. »Gibt… gibt es jetzt Frieden?«
Carl sah ihn verwundert an, dann schüttelte er den Kopf. »Die meisten Erwachsenen fragen nach dem Datum. Oder, wenn sie schon einmal draußen gewesen sind, fragen sie, ob wir die Algen und das einheimische Zeug besiegt haben. Aber Sie nicht. Saul Lintz fängt gleich mit den schwierigen Fragen an.«
In der Bemerkung war keine Feindseligkeit, und es gelang Saul, das schiefe Lächeln des anderen mit einem eigenen zu beantworten. »Gut, also… welches Datum haben wir?«
Carl nickte. »Acht Jahre vor dem neuen Jahrhundert.«
So, dachte Saul. Dreißig Jahre. Das war ein langes Nickerchen.
»Sonnenferne…«, murmelte er.
»Nicht mehr weit davon«, sagte Carl. »Wir sind jetzt dreißig A.E. draußen. Sie sollten die Sonne sehen. Nicht viel heller als der Mond in einer Wüstennacht.«
Wo noch kein Mensch je gewesen ist.
»Die Rückstoßgeräte zur Kursbeeinflussung?« fragte Saul. »Sind sie…«
Carls Miene verfinsterte sich. »Wir werden sie bauen.«
Saul konnte aus diesem Ausdruck viel herauslesen; er beantwortete seine erste Frage. Kein Friede. Aber sie waren noch da, also konnte es nicht allzu schlecht sein.
Sein Körper fühlte sich an, als ob er aus Blei gemacht wäre, aber er konnte den Kopf ein wenig zur Seite drehen. »Wer hat jetzt die Leitung? Kuyamato? Trugdorff? Johannson?«
Carl schüttelte den Kopf. »Alle tot oder tot im Kühlfach.«
»Wer dann?«
Carl zuckte die Achseln. »Ich bin Offizier vom Dienst. Wenn jemand die Leitung hat, dann bin ich es.«
Saul versuchte, die Neuigkeit zu verdauen.
Osborn war älter, härter geworden. Saul fragte sich, wie viele weitere Jahre Carl wachend verbracht hatte, während er selbst im Nirwana gewesen war.
»Sie brauchen also einen Arzt?« Wenn er es recht bedachte, war seine Wiederbelebung keine Selbstverständlichkeit, nicht, wenn die Entscheidung bei Carl lag.
»Ja, so ist es. Wir brauchen einen Arzt. Und die Kontrollstation zu Hause meinte, es könnte der geeignete Zeitpunkt sein, Sie einen weiteren Blick auf die Krankheiten tun zu lassen. Einige zeigen veränderte Symptome, offenbar durch Mutationen der Erreger.«
Carl blieb noch einen Augenblick länger über ihn gebeugt, die Lippen zusammengepreßt. Dann sagte er: »Ich sollte ehrlich mit Ihnen sein, Saul. Der Hauptgrund, daß ich Sie vom Eis genommen habe, ist der, daß wir Virginia brauchen.«
»Virginia«, hauchte Saul. Erinnerte sich.
Carl nickte. »Ruhen Sie sich aus! Sie werden nicht viel zu tun haben. Nicht sofort. Ich werde später noch mal hereinschauen.«
Saul sagte nichts, als Carl aus seinem peripheren Gesichtsfeld verschwand. Die Jahre mußten noch sortiert werden. Träume, die er nicht richtig erlebt hatte, waren wie Wasser hinter einem unter dem Druck ächzenden Staudamm. Gesichter flackerten wie Spielkarten beim Mischen.
Gesichter von Frauen – Miriam, Virginia, Lani Nguyen. Gesichter von Kameraden wie Nikolai Malenkow, die vor seinen Augen gestorben waren.
Und der Geist Simon Percells. Durch das Fibergewebe und die Isolation der Wände, durch den Eisberg, der ihn umgab, glaubte Saul beinahe ein leises, ironisches Lachen zu hören, das bei ihm blieb, als er in tiefen, natürlichen Schlaf sank.
Zweimal wurde er geweckt, um kurz darauf wieder einzuschlafen. Das erste Mal, als eine Assistentin, die er als Besatzungsmitglied der Edmund Halley wiedererkannte – jetzt eine Frau mittleren Alters mit einem seltsam grünlichen Flecken auf einer Gesichtshälfte –, ihn freundlich begrüßte und ihm etwas zu trinken anbot. Er mußte sie bitten, langsam zu sprechen, weil sie einen komischen Akzent angenommen zu haben schien.
Beim nächsten Mal war ein eigentümlich stattlicher, aber völlig haarloser Mann sein Fürsorger. Eine Brandnarbe auf einer Wange glich eher einem Brandzeichen als den Spuren einer Unfallverletzung. Saul hielt es für klüger, keine Fragen zu stellen.
Abwarten! Augen und Ohren offenhalten! Lernen!
Die mit der Wartung der Kühlfächer beauftragten Techniker waren nicht so geschäftig wie in früheren Zeiten. Das Arbeitstempo war gemächlich, doch glaubte er darunter eine Spannung auszumachen. In den gedämpft geführten Gesprächen, die er bruchstückhaft mithörte, kamen Worte und Wendungen vor, mit denen er nichts anzufangen wußte. Beim nächsten Schichtwechsel durfte er aufsitzen und sah, daß die neuen Techniker ihren Arbeitsbeginn mit einer Art Zeremonie einleiteten.
Nein, es gab keinen Frieden.
An der Schalttafel leuchteten zwei Signallampen, die Erholung anzeigten. Eine für ihn, eine für Virginia. Sie hatte ihr Versprechen gehalten und war ihm den Strom der Zeit hinab gefolgt.
Ein kluges Mädchen, dachte Saul. Ich wußte, daß sie es schaffen würde.
Und er konnte nicht erwarten, ihr zu sagen, wie sehr er sie liebte… wie alt sie inzwischen auch sein mochte.
Mit diesem Gedanken schlief Saul wieder ein, wissend, daß er beim nächsten Erwachen kräftiger sein würde.