5


CARL

 

Mißmutig wandte Carl den Blick vom erlöschenden Bildschirm. Er hatte soeben ein weiteres nutzloses Gespräch mit Major Clay beendet, dem erstaunlichen Mann mit dem Holzgesicht, der alle zur Erde gefunkten Fragen auffing und zurückwarf. Aus der Heimat waren weder Ratschläge noch Informationen oder gar Sympathie zu erwarten, soviel war gewiß. Major Clay wich jeder drängenden direkten Frage aus. Mit jedem Jahr, das ins Land ging, übertünchten sie ihre Furcht durch eine Erhöhung des Anteils an belangloser Unterhaltung in den wöchentlichen Sendungen. Das ließ weniger Zeit für wirkliche Kommunikation.

Diesmal hatte Carl ungeduldig ausgeschaltet, bevor die Sendezeit verstrichen war. Es war doppelt irritierend, daß er Major Clay niemals durch einfaches Auflegen brüskieren konnte, weil die Zeitverzögerung durch die Lichtgeschwindigkeit inzwischen fünf Stunden betrug. Das war für schlagfertige Antworten nicht gerade günstig.

Nun war es Zeit, sich auf die Versammlung vorzubereiten. Er schaltete um auf LAUFENDE ABLESUNG und erwartete den gewohnten Situationsbericht zu sehen, bekam aber nicht die gewohnte fünffarbige Statustabelle. Statt dessen wurde ihm ein Getröpfel von Johnvons momentan enthüllten inneren Strömen überspielt. Es war wieder ein Gedicht. Während er es überflog, begann Carl zu lächeln.

So eilig huschen die Menschen hin,
Ich selber ein Schatten dazwischen bin.
Ob Ortho, ob Percell, es quält die Gedärme,
Verlangen nach Heimat, nach Sonnenwärme!
Der alte Johnvon allein hat die Zeit,
Versteckt ein Geheimnis im blechernen Kleid:
Gold! Als Bergleute, Herr Major,
Behandelt uns bitte, wie zuvor!
Nun wollen sie zum Mars noch fliegen,
Dort Bruch zu machen, statt zu siegen.
So gebt nur auf die Köpfe acht,
Wenn Halley auf dem Mars zerkracht,
Zu düngen ihn mit den Flüssigkeiten
Von tiefgefrorenen Halley-Leuten.
 
Würmer kriechen da und dorten,
Groß sind alle nur mit Worten.
Percell schreit: die Orthos schlachtet!
Wenn sie könnten; doch wer achtet,
Daß hier draußen beim Neptun
Niemand rasten darf noch ruhn?
Der Kurs, er muß geändert werden.
(Oder ihr alle mit euren Beschwerden,
Mit den Läusen und Mikroben,
Müßt zurück zur Erde droben,
Raketenmäßig über die armen Leute
Herzufallen als Seuchenmeute.)

 

Carl lachte. Unglaublich! Dies war nicht der erste Hinweis darauf, daß Johnvon sich in ›Mußestunden‹ mit Gedichten beschäftigte, aber in letzter Zeit hatte sich der bioorganische Fachidiot auf eine unheimliche Weise vervollkommnet. Oder vielleicht bewies es nur, daß das Reimen in Wirklichkeit keine Aktivität auf höherer geistiger Ebene war. Dies waren merkwürdig bittere, ironische Reime, die aneinandergereiht dahinholperten, aber etwas steckte dahinter. Was war das Gold, das Johnvon versteckte? Er fragte sich, ob Johnvon dieses Gedicht schon Virginia gezeigt haben mochte. Sie hatte sich noch nicht völlig vom Aufenthalt im Kühlfach erholt, verbrachte aber jeden Tag ein paar Stunden in Kontakt mit ihrem kybernetischen Freund. Carl lachte wieder. Vielleicht würde es bald Zwietracht zwischen den beiden geben, denn ihm schien, daß die Maschine schon jetzt eine bessere Dichterin war als ihre Herrin.

Und woher hatte Johnvon so genaue Informationen über Pläne und zerstrittene Fraktionen, mit denen er sich herumschlagen mußte? Vielleicht sollte er wichtige Dinge lieber von einem herkömmlichen Computer verarbeiten lassen…

Andy Carroll kam zur Tür herein, abgemagert von den Jahren im Kühlfach und finster blickend. Immer diese Sitzungen und Versammlungen!

»Die Arcisten sind wieder in den Streik getreten!«

»Ist es ein wilder Streik?«

»Nein, Malcolm rief sie dazu auf. Hat mich gerade verständigt.«

»Und warum?«

»Er sagt, ihr Anteil an der Ernte sei diese Woche zu niedrig. Seine Sammler seien gerade ohne Obst und mit wenig Gemüse zurückgekehrt.«

Carl runzelte die Stirn. »Das sollte nicht geschehen sein. Ich habe die Verteilungsdaten überprüft…«

»Ich bin ziemlich sicher, daß Sergejows Leute etwas vom Anteil der Arcisten haben mitgehen lassen.« Carroll ballte eine Faust und schlug sie in seine offene Handfläche.

»Wieder gestohlen?«

Carroll nickte. »Die haben eine Methode ausgeklügelt, wie sie das Zeug beiseiteschaffen können, nachdem es gezählt und eingeteilt worden ist. Ich bin noch nicht darauf gekommen, wie sie es machen.«

Carl sagte nachsichtig: »Das ist Ihre Abteilung.«

Carroll war jung, erst vor kurzem wiederbelebt, aber er hatte die vielschichtige Situation rasch erkannt. Seine dunklen Brauen gingen hoch. »Ich kontrolliere jeden, der ein- und ausgeht. Kein Mensch könnte ungesehen hineinkommen.«

Carl nickte mitfühlend. »Verstehe. Aber wie ist es mit einem halben Menschen?«

»Wie… äh. Sie meinen, Sergejow könnte auf anderen Wegen hineinschlüpfen?«

»Ohne Beine… Überprüfen Sie das.«

Carroll verzog das blasse Gesicht in grüblerischer Sorge. »Ich sehe nicht, wie, aber gut.«

Carl seufzte und reckte die Schultern. »Jetzt wissen Sie, wie dieser Job ist.«

»Ja. Die sind wie die Kinder!«

»Wie lange sind Sie schon draußen? Zwei Monate?«

»Genau. Aber…«

»Es dauert eine Weile, bis man sieht, woher der Haß kommt. Versuchen Sie einfach, das Schlimmste zu ignorieren und in der Arbeit wie im persönlichen Bereich einen Bogen darum zu machen.«

»Ich bin überzeugt, daß Malcolm blockiert.«

»Das tut er öfters. Was sollte er sonst als Druckmittel verwenden? Aber Sie meinen, diesmal ist es etwas Ernstes?«

»Ich glaube schon. Ich habe die Gehäuse der Rückstoßgeräte überprüft, die sie angeblich vor drei Monaten fertigstellten – unten am Südpol. Sie sehen einwandfrei aus, aber ich habe ein paar Verkleidungsteile abgenommen. Im Inneren gibt es fehlende Anschlüsse, unbefestigte Tanks – es sieht schlimm aus.«

»Sind Sie sicher, daß es Malcolms Schuld ist?«

Carroll zuckte die Achseln. »Ich glaube, sie sabotieren die Geräte.«

»Ist etwas zerschlagen?«

»Nein, nur auseinandergenommen oder nicht fertig zusammengebaut.«

»Klug. Bei offensichtlichen Schäden würden wir ein Aufhebens machen. Aber wie die Dinge liegen, hätten sie Malcolm ruhig ins Gesicht sagen können, daß seine Leute sich vor der Arbeit drücken.«

Carroll errötete. »Also, das habe ich getan.«

Eine Pause. »So?«

»Ich weiß, ich hätte zuerst mit Ihnen reden sollen, aber ich war so aufgebracht! Ich rief Malcolm an und fing an, ihm die Meinung zu sagen.« Er brach verlegen ab.

»Und?«

»Er legte auf, bevor ich drei Sätze herausbrachte.«

»Dann glaubt er wahrscheinlich, er habe seinerseits Beschwerden bei uns vorzubringen.« Carl ermahnte sich, daß er nicht allzu gleichgültig wirken dürfe. Andy Carroll brauchte nicht zu wissen, was er längst wußte; daß es sowieso keine Möglichkeit gab, die Rückstoßgeräte rechtzeitig fertigzustellen.

Er sagte: »Wer hat am meisten zu gewinnen, wenn Sie und Malcolm einander an die Gurgel fahren?«

»Na, kaum jemand, denke ich.«

»Es brauchen nicht mehr als ein paar zu sein.«

»Nun… o ja, Quiverian. Der immerfort diese Arcistenpropaganda verbreitet.«

»Und niemand hat ihn seit Monaten gesehen.«

»Ich hörte, daß er sich in neuen Stollen unten beim Südpol verschanzt hat. Ich meine, noch weiter draußen als Ould-Harrads Bande im Höllenpfuhl.«

»Ich lese die Berichte. Johnvon hat einzelne Maschinen mit Kameras eingesetzt, die zuweilen da und dort einen Verrückten erfassen. Auf einem der Videos sah ich Quiverian. Seine Leute arbeiten angestrengt an etwas, was unten beim Südpol vergraben ist.«

»Sie meinen, er versuche die Arbeit an der Bahnveränderung zu verlangsamen?«

»Es leuchtet ein. Die radikalen Arcisten möchten jede Möglichkeit vermeiden, daß Kometenmaterial in die Nähe der Erde gelangt. Keine Umlaufbahnen, die nahe genug heranführen, um ein gutes Rendezvous zu ermöglichen, nichts. Für sie ist die Erhaltung der irdischen Biosphäre alles. Was aus uns wird, ist ihnen gleich, oder zumindest von zweitrangiger Bedeutung.«

»Aber es gibt dennoch Möglichkeiten, die für die Erde nicht mit einer Bedrohung verbunden sind. Angenommen, wir bringen den Kometen in eine verkürzte Umlaufbahn, stecken alle in Kühlfächer…«

»Und hoffen, daß die entscheidenden Leute daheim zehn oder zwanzig Jahre später wesentlich nüchterner urteilen werden?«

Andy Carrolls Gesicht war so offen, daß es Carl beinahe schmerzte, darin zu lesen. »Es ist… wir brauchen eine Hoffnung, nicht wahr?«

»Gewiß«, sagte Carl und versuchte etwas herzhaften Optimismus in seinen Tonfall zu legen. »Gewiß.«

Carroll schürzte die Lippen, beschäftigt mit seinen Wachträumen. Vielleicht ist es kein einfältiger Optimismus, dachte Carl. Vielleicht werden wir eine Chance bekommen. Ich bin bloß des Wünschens müde geworden.

Er dachte daran, Carroll das Gedicht zu zeigen, ließ es aber sein. Der Junge mochte die Mischung von Galle und Galgenhumor beunruhigend finden. Besser, man ließ ihn vorher noch ein Jahr oder so marinieren.

Und wer weiß? überlegte er. Vielleicht wird ein Archäologe einmal dieses Gedicht finden und es als das große Werk unserer traurigen, glücklosen Expedition verbreiten. Vielleicht werden sie es auf einer Bronzetafel neben der äußeren Hauptschleuse anbringen, zur Einstimmung von Besuchern des Eisbergmuseums, das seine Bahn durch ihren Himmel zieht und eine große, gescheiterte Idee kennzeichnet. Mit uns, die für allezeit in unseren schleimigen Kühlfachflüssigkeiten schwimmen, als den interessantesten Ausstellungsstücken.

Es war keine absurde Vorstellung.

Im Herzen des Kometen
titlepage.xhtml
HerzenKometen_split_000.html
HerzenKometen_split_001.html
HerzenKometen_split_002.html
HerzenKometen_split_003.html
HerzenKometen_split_004.html
HerzenKometen_split_005.html
HerzenKometen_split_006.html
HerzenKometen_split_007.html
HerzenKometen_split_008.html
HerzenKometen_split_009.html
HerzenKometen_split_010.html
HerzenKometen_split_011.html
HerzenKometen_split_012.html
HerzenKometen_split_013.html
HerzenKometen_split_014.html
HerzenKometen_split_015.html
HerzenKometen_split_016.html
HerzenKometen_split_017.html
HerzenKometen_split_018.html
HerzenKometen_split_019.html
HerzenKometen_split_020.html
HerzenKometen_split_021.html
HerzenKometen_split_022.html
HerzenKometen_split_023.html
HerzenKometen_split_024.html
HerzenKometen_split_025.html
HerzenKometen_split_026.html
HerzenKometen_split_027.html
HerzenKometen_split_028.html
HerzenKometen_split_029.html
HerzenKometen_split_030.html
HerzenKometen_split_031.html
HerzenKometen_split_032.html
HerzenKometen_split_033.html
HerzenKometen_split_034.html
HerzenKometen_split_035.html
HerzenKometen_split_036.html
HerzenKometen_split_037.html
HerzenKometen_split_038.html
HerzenKometen_split_039.html
HerzenKometen_split_040.html
HerzenKometen_split_041.html
HerzenKometen_split_042.html
HerzenKometen_split_043.html
HerzenKometen_split_044.html
HerzenKometen_split_045.html
HerzenKometen_split_046.html
HerzenKometen_split_047.html
HerzenKometen_split_048.html
HerzenKometen_split_049.html
HerzenKometen_split_050.html
HerzenKometen_split_051.html
HerzenKometen_split_052.html
HerzenKometen_split_053.html
HerzenKometen_split_054.html
HerzenKometen_split_055.html
HerzenKometen_split_056.html
HerzenKometen_split_057.html
HerzenKometen_split_058.html
HerzenKometen_split_059.html
HerzenKometen_split_060.html
HerzenKometen_split_061.html
HerzenKometen_split_062.html
HerzenKometen_split_063.html
HerzenKometen_split_064.html
HerzenKometen_split_065.html
HerzenKometen_split_066.html
HerzenKometen_split_067.html
HerzenKometen_split_068.html
HerzenKometen_split_069.html
HerzenKometen_split_070.html
HerzenKometen_split_071.html
HerzenKometen_split_072.html
HerzenKometen_split_073.html
HerzenKometen_split_074.html
HerzenKometen_split_075.html
HerzenKometen_split_076.html
HerzenKometen_split_077.html
HerzenKometen_split_078.html
HerzenKometen_split_079.html