7


CARL

 

 

Er unterdrückte ein Lachen. Die entscheidende Phase, das Einschieben der Sonden mit den Kühlfächern in den Kometenkopf, hatte wenig Ähnlichkeit mit dem Höhepunkt einer gefährlichen, fünfjährigen Reise mit dem Segelschiff, einer Glanzleistung moderner Technik. Statt dessen glich es der Vereinigung monströser Genitalien.

Die schlanke Transportsonde glitt vorwärts, die Nase nach unten. Von Antennen und Sonnensegeln befreit, zeigte sie die einförmige rotbraune Farbe, die gewählt worden war, um während des jahrelangen Fluges ein möglichst gutes Wärmegleichgewicht zu erzielen. Die Kühlfächer waren im Vorderteil der Sonde untergebracht, die eine zusätzliche Abschirmung gegen kosmische Strahlung besaß und dadurch etwas dicker war als der übrige Rumpf.

Unter der Sonde lag Schacht 4. Das umgebende Eis war durch die Abtragung und die Kratzspuren der Maschinen von seiner staubig-schmutzigen Oberflächenschicht befreit und leuchtete gelblichweiß im harten Sonnenschein, dem es seit der Zeit, als die Planeten entstanden waren, nicht mehr ausgesetzt gewesen war.

Carl verbarg sein belustigtes Glucksen hinter einem Hüsteln. Durch die Nebengeräusche der offenen Frequenz würde es wahrscheinlich niemandem auffallen. Er zwinkerte, aber die pornographische Illusion wollte nicht weichen. Er mußte viel stärker übermüdet sein als er glaubte.

»Noch drei Grad auf den Azimutalwinkel von sechzig«, sendete Jeffers.

»Verstanden«, erwiderte Carl. Jeffers Daten wurden integriert, während er noch sprach, und Carls in den Helm integrierter Kontrollschirm zeigte ein Diagramm grüner Linien auf schwarzem Grund, das die Position der Sonde und ihre Axialneigung zeigte. Dann kam die gewünschte Berechnung in Gestalt überlagernder orangefarbener Linien, die in zwei Achsen von der anderen Darstellung abwichen. Carl gab die Korrekturen ein.

Er wußte, daß die Abteilungsleiter das Manöver auf dem Fernsehschirm verfolgten, und unten auf der Oberfläche stand Ould-Harrad, die Augen kritisch zusammengekniffen. Wahrscheinlich würden sie eine redigierte Fassung des Vorgangs zur Erde senden. Viele Augen, denen kein Fehler entging. Die vielleicht zu sehen bekämen, wie Carl Osborn siebzig bis achtzig Seelen auf halbem Weg hinein festklemmte.

Er schüttelte die Vorstellung ab. Es kam bloß darauf an, die Ausrichtung zu korrigieren und die Arbeit zu tun. Fing man einmal an, sich von den Nerven ablenken zu lassen, hatte man schon verloren.

Er zündete vier Steuerdüsen hinter dem zentralen Triebwerksgehäuse der Sonde. Sie pulsierten vor dem Schwarz des Raums. Die Flammen erloschen nacheinander, als die orangefarbenen Linien auf dem Kontrollschirm mit den grünen in Deckung kamen. »Alles klar!«

»Achtung – los!« sendete Andy Carroll. Er war kurz zuvor an Bord der Sonde gegangen, saß nun in ihrer kleinen Kabine und hatte nominell die Leitung des Manövers.

Achtern glühte für Sekunden ein blaßblauer Verbrennungsstrahl, und die Sonde glitt langsam in den Schacht, fast ohne mit der gelben Schutzverkleidung in Berührung zu kommen.

»In den Führungsschienen!« sagte Andy.

Die Sonde glitt planmäßig in den Schacht, nun gehalten von den Führungsschienen, die Seitenbewegungen im Innern des Schachts verhinderten. Über die offene Frequenz hörte Carl Hochrufe und sogar etwas Applaus, die aus dem Aufenthaltsraum der Edmund Halley kommen mußten.

Der Kopfteil der Sonde löste sich vom Rest. Die Transportsonden waren so schlank und funktional wie die klassischen Windjammer des neunzehnten Jahrhunderts. Sie beförderten ihre schlafende Ladung, Proviant und Versorgungsgüter sowie eine Besatzung kybernetischer, elektronisch gesteuerter Maschinen. Der röhrenförmige Sondenkörper gab das Rückgrat für die weit ausgreifenden Segel ab, die den Sonnenwind einfingen. Diese Segel waren jetzt eingerollt und erwarteten neue Verwendung als Spiegel für die Oberflächengewächshäuser. Zurück blieb das nackte Rahmenwerk der Segel, das zu einem Skelett zusammengelegt werden konnte.

Und irgendwo dort draußen segelt die Newburn weiter, dachte Carl. Ein verirrtes Opfer unerkannter Fehlfunktionen.

Ein weiteres Signal, und Andy Carroll manövrierte den Rumpf der Sonde vorsichtig rückwärts aus dem Schacht. Für den Antriebsteil gab es einen eigenen Schacht, der zur Wartungskammer führte. Das Kühlfach-Modul wurde nun von Jeffers’ Maschinen weiter durch den zwei Kilometer tiefen Schacht in eine vorbereitete Kaverne geleitet.

Carl schaltete das Kassettengerät in seiner Brusttasche ein und aus den Kopfhörern seines Helms drang Beethovens fünfte Violinsonate. Eine Belohnung. Das Bewegen großer Massen war alltäglich, aber es war doch ein anderes Gefühl, wenn neunzig Menschenleben auf dem Spiel standen. Er brauchte Entspannung. Das Hauptspektakel war vorüber, aber er hatte noch Stunden intensiver Arbeit vor sich.

Die anmutigen, flüssigen Melodieführungen der Kammermusik schienen Carl eine natürliche Entsprechung bei der Arbeit im schwerelosen Zustand. Er konnte Jeffers und Sergejow nicht verstehen, die während der Arbeit ständig dieses heisere, monoton rhythmische Zeug hörten. Er steuerte seine Arbeitskapsel abwärts und winkte der entfernten kleinen Gestalt, die Ould-Harrad war.

Über Schacht 6 verlangsamte er, um den Afrikaner zu begleiten, der raumtüchtig aber weniger gewohnt war, sich mit Geschwindigkeit durch Schächte und Stollen zu bewegen. Eine Fehleinschätzung konnte dazu führen, daß man mit betäubender Wucht gegen die Wand prallte. Und manche brauchten eine Weile, bis sie wirklich glaubten, daß Schwerelosigkeit nicht auch das Fehlen des Trägheitsmoments bedeutete.

Sie sausten abwärts. Die glatten Fiberwände rasten vorüber, in regelmäßigen Abständen erhellt von gelben Flecken elektrifizierter Phosphorfarbe. Aus den Augenwinkeln beobachtete Carl das dunkelhäutige Gesicht seines Begleiters, um Zeichen einer Reaktion darin zu sehen, aber der Mann blickte aufmerksam geradeaus und ließ sich nichts anmerken. Carl war ein wenig enttäuscht. Er hatte diesen Schacht selbst ausgekleidet, ohne Maschinen, hatte Vierzehn-Stunden-Tage eingelegt, um den Termin zu halten. Und es war saubere Arbeit. Aber wenn er glaubte, daß jemand ein Wort darüber verlieren würde, sah er sich getäuscht.

Natürlich war Ould-Harrad ein Ortho von kompromißloser Strenge, wenn man Sergejow Glauben schenken wollte. Während der ganzen Reise hatte der Mann auf Distanz gehalten, war förmlich geblieben und hatte sich niemals eine Gefühlsregung anmerken lassen. Offensichtlich erwartete er, daß junge Emporkömmlinge wußten, wo ihr Platz war. Es war unwahrscheinlich, daß er einem gewöhnlichen Percell Komplimente machen würde.

Carl drehte die Violinsonate auf. Erst nach einer Weile wurde ihm wieder bewußt, daß sie schließlich kopfüber in einen Schacht fielen, der sich in der Ferne verlor, wo die Phosphorflecken zu einer dünnen Linie verschmolzen… Selbst unter den Verhältnissen minimaler Schwerkraft mußten inzwischen Ould-Harrads innere Alarmsignale schrillen.

»Abbremsen, die Höhle ist nur noch ein paar hundert Meter voraus«, sendete Carl.

»Verstanden. Gut.«

Sie verlangsamten und gelangten aus dem Schacht in eine geräumige Höhlenkammer, die zum Teil bereits mit grünem Isoliermaterial ausgekleidet war. Der Kopfteil der Transportsonde war durch Schacht 4 herabgekommen und füllte die nicht isolierte Hälfte der Höhle nahezu aus. Überall glänzten die Lichtreflexe der Lampen von Menschen und Maschinen auf dem Eis der Wände. Carl hatte geholfen, die Kaverne mittels großer Industrielaser auszuhöhlen. Die geschmolzenen und wieder gefrorenen Schichten rostiger Konglomerate und kohlenstoffhaltiger Gesteinstrümmer bildeten gekräuselte, geheimnisvolle Muster auf die Flächen schwarzen Eises, wie die Schrift einer unsichtbaren Hand.

Ould-Harrad seufzte, als er zum Stillstand kam. Carl bemerkte, daß der Mann erleichtert aussah. Vielleicht hätten sie langsamer fahren sollen.

»Komm schon!« rief Jeffers auf der offenen Frequenz. »Wir müssen diese Särge begraben.«

Sofort fuhr Ould-Harrads gebieterische Stimme dazwischen: »Ich würde es begrüßen, wenn Sie die Kühlfächer nicht in dieser Art und Weise bezeichnen würden.«

»Jawohl, Sir«, sagte Jeffers. »Ganz gewiß.«

Carl sagte: »Ich werde die blau kodierten Maschinen nehmen«, und tippte den Kode in den Signalgeber. Ein Dutzend der Maschinen hörte nun auf seinen Befehl. Die Kühlfächer und ihre Versorgungseinrichtungen waren von den arbeitenden Maschinen fast verdeckt.

Die Schläfer wurden in drei weit voneinander entfernten Kammern untergebracht, um die Gefahr, daß ein einziger Unfall die Expedition ruinieren würde, so gering wie möglich zu halten. Auch technische Arbeitstrupps, Computer, biologisch-medizinische Einrichtungen und der Maschinenpark waren gleichmäßig verteilt. Die kastenförmigen Kühlfächer waren sternförmig um die Versorgungsleitungen angeordnet. Jedes Kühlfach hatte sein eigenes lebenserhaltendes System, das zur Überwachung und Regelung der Körperfunktionen diente, individuell auf Unregelmäßigkeiten reagieren konnte und wie ein rundlicher Rucksack auf jedem der Särge ruhte – Carl konnte nicht umhin, die Kühlfächer so zu sehen, sowohl von ihrer äußeren Erscheinung her als auch nach dem Zustand der Schläfer, die dem Tode so nahe waren, wie man ihm kommen konnte, ohne ihm ganz anheim zu fallen.

Die Kühlfächer mußten in Kunststoffgehäuse eingepaßt werden, die sie schützten und gleichzeitig einen Wärmeaustausch mit dem benachbarten Eis gestatteten. Ursprünglich hatte man die Schläfer direkt durch das Eis kühlen wollen, aber Carl hatte die Ergebnisse solcher Versuche auf Encke gesehen. Neben gefrorenem Ammoniak und Methan enthielt das Eis eine Menge Kohlendioxid, das bei Erwärmung explosionsartig vom gefrorenen in den gasförmigen Zustand übergehen konnte und die Ventile und Verschlüsse der Särge gefährdete. Es war keine Kleinigkeit, in einem Vakuum mit flüchtigen Elementen umzugehen, und deshalb hatten die Ingenieure Gehäuse entwerfen müssen, um die Schläfer vor Erschütterungen und Stößen und dem jähen Tod durch Gefrieren zu schützen.

»Pack die Orthos eng zusammen, damit sie sich nicht einsam fühlen!« sendete Jeffers auf der Kurzstreckenfrequenz.

Jeffers montierte in der Nähe Schlauchleitungen, und seine Sendung war gegen die anderen abgeschirmt. Carl beendete seine Arbeit und stieß sich ab.

»Nun laß schon gut sein! Es sind auch Percelle darunter.«

»Nicht allzu viele.« Dies kam von Sergejow, der hinter einem silbrigen Wärmeaustauscher hervorkam. Er war ein schneller und sicherer Arbeiter; als Carl zu ihm hinsah, machte er einen Salto zur anderen Seite der Kaverne, nahm dort aus der Bewegung ein Kabelende auf und stieß sich wieder ab, um es an ein Steuerpult anzuschließen. Seine Beweglichkeit war so erstaunlich, daß man ihn fast beneidete. Fast. Percells gentechnische Behandlung hatte die Blutkrankheit eliminiert, die Sergejow von seinen Eltern geerbt hätte, aber sie hatte ihn auch die Beine gekostet.

Unvorhergesehene Nebenwirkungen.

Diese kühle, distanzierte Wendung hatte Carl schon oft in Wut gebracht. Sergejow war einer der frühen Fehlschläge, und er konnte von Glück sagen, daß er noch lebte. Aber Überlebende wie er hatten bestehende Zweifel an der Gentechnologie verstärkt und zu schlimmen Befürchtungen Anlaß gegeben. Jeder konnte sehen, daß Sergejow keine Beine hatte. Und fast zwangsläufig hatte sich vielen die Frage nach Veränderungen gestellt, die eingetreten sein mochten, aber unsichtbar blieben. Wie war es um den Verstand dieser manipulierten Menschen bestellt, deren Erbanlagen verändert waren? Waren sie normal? Waren sie überhaupt menschlich?

Wenn es normal war, eine halbe Flasche Wodka zu trinken und danach mühelos die leeren Gläser, fünf aufeinander, zu balancieren, dann war Sergejow zweifellos normal.

Besser als normal. Er hatte die Astronautenlaufbahn eingeschlagen, wo Beine eher ein Nachteil waren. All diese kräftigen Muskeln und Knochen waren in der Schwerelosigkeit nutzlos, verlangten Nahrung und Sauerstoff und Zeit zu ihrer Übung. Überbleibsel vom Kampf gegen die Schwerkraft. Sergejow hatte schon als junger Bursche in Orbitalstationen gelebt und als Monteur Spitzenlöhne verdient. Seine Arme sahen wie Baumstämme aus; Carl hatte einmal gesehen, wie er einen glücklosen Inspektor, der zur Station herausgekommen war und Bemerkungen gemacht hatte, die Sergejow als Beleidigung empfunden hatte, wie eine hilflose Puppe jongliert hatte. Aus psychologisch verständlichen Gründen verausgabte Sergejow seine Energien in einer verdeckten, schwelenden Abneigung gegen alle, die von der Erde kamen.

»Macht euch nicht naß«, sagte Carl. »Helft mir lieber mit den Schutzgehäusen!«

»Na gut, vielleicht sind es nicht gar so wenige«, sagte Sergejow. »Und aus gutem Grund, versteht sich. Ein Percell arbeitet gut und hat Verstand, also wird er Astronaut. Und weil er den Orthos sowieso lästig ist, bleibt er draußen im Weltraum.«

»Und chauffiert Orthos hinaus zum Neptun und zurück«, warf Jeffers ein.

Sergejow lachte. Seine Hände, deren ungewöhnliche Größe sogar durch die Schutzhandschuhe auffiel, arbeiteten geschickt an den Kabelanschlüssen, frei vom Gegengewicht baumelnder Beine. »Ja. Aber warum sollten wir den Orthos als Arbeitstier dienen?«

»Ja, warum?« sagte Jeffers. »Wenn wir unsere eigene Arbeit tun könnten.«

»Und die wäre?« fragte Carl.

Jeffers zog sich mit einem Arm herum, während der andere eine Laserpistole an ihrem Kabel heranzog. Er schaltete sie ein, und ein dünner, bläulichweißer Lichtblitz bohrte sich in die einige Meter entfernte Eiswand.

»He!« rief Carl.

Weißer Dampf brodelte an ihnen vorbei und verbreitete sich, dünner werdend, in der weiten Kaverne, aber Ould-Harrad sah ihn. »Was soll das? Ich habe angeordnet, daß hier nicht mit Lasern gearbeitet werden soll!«

Sergejow zwinkerte Jeffers zu und sagte: »War nur eine kleine Stelle. Mußte eine Steckbuchse nacharbeiten.«

»Diese Schläfer sind Menschen!«

»Verzeihung.«

Sergejow grinste, als er es sagte. Ould-Harrad war hundert Meter entfernt und konnte die Zeichnung nicht sehen, die Jeffers mit geübter Geschicklichkeit in die Eiswand geschnitten hatte. Es war das Marszeichen, in dessen Kreis eine stilisierte Blüte eingeschrieben war – die graphische Darstellung eines Traumes. Eine im Aphelium außerhalb Neptuns kunstvoll bewirkte Bahnveränderung des Kometen konnte diesen auf Kollisionskurs mit dem Mars bringen und ihn auf dessen Oberfläche zerschellen lassen.

Der Beschuß des roten Planeten mit Kometenkernen könnte eine dichtere Atmosphäre aufbauen und vielleicht sogar zu erneuertem Vulkanismus führen. Dem allmählichen Verflüchtigungsprozeß der Marsatmosphäre wäre entgegengewirkt, die seit Jahrmilliarden fortschreitende Austrocknung beendet – ein prometheischer Traum. In Glut gehüllte Eisberge würden den Permafrost der Oberfläche aufreißen und das alte Eis im Untergrund freisetzen. Wolken, Nebel, dann Regen – unbekannte Wettererscheinungen, seit die schwache Sonnenwärme in ferner Vorzeit zur Austrocknung der letzten Schlammflächen in den tief eingeschnittenen Flußtälern geführt hatte.

Die Verfechter dieses Traumes glaubten, daß ein entsprechend angepaßter Mensch ein Jahrhundert später in der Lage sein könnte, die Marsatmosphäre an der Oberfläche zu atmen. Die Idee war nicht neu, doch gab es unter den Percellen einige, in denen sie sich zur Vision einer besseren Zukunft verfestigt hatte. Diese Leute sahen Mars als den einzig denkbaren Ort, wo genetisch veränderte Menschen einen Platz finden könnten. Obschon noch trocken und kalt und von gewaltigen Stürmen heimgesucht, sollte der Mars eine Welt werden, wo ihre genetisch noch weiter veränderten Abkömmlinge die Norm sein würden, während Orthos sich innerhalb von Minuten die Lungen aushusten würden.

»Wofür, glaubst du, arbeite ich?« sagte Jeffers.

»Das ist verrückt«, erwiderte Carl. »Die Herstellung erdähnlicher Klima- und Lebensbedingungen würde bestenfalls Jahrhunderte in Anspruch nehmen. Das ist keine Lösung unserer Probleme.«

»Wir könnten es im Kälteschlaf abwarten«, meinte Jeffers.

»Man müßte wissen, wie hoch die Lebenserwartung eines Percells im Raum ist.«

»Spielt keine Rolle«, sagte Jeffers. »Mit ein paar eingeschobenen Schlafpausen könnten wir es alle noch erleben.«

»Wir sind nicht hier, das zu tun«, sagte Carl.

»Jeffers blickt voraus«, entgegnete Sergejow.

»Zu weit voraus.«

»Sei dessen nicht so sicher«, sagte Jeffers ruhig.

Sergejow stieß ihn an. »Du bist auch ein Über? Zwei Ideen, die sich nicht widersprechen, glaube ich.«

Jeffers musterte ihn reserviert. »Vielleicht. Vielleicht nicht.«

Carl runzelte die Stirn. Das Gespräch ging über die Kurzstreckenfrequenz, das war das einzig Gute daran. ›Über‹ stand für den von Friedrich Nietzsche entworfenen Übermenschen, den vorgezeichneten nächsten Schritt der Menschheitsentwicklung. Dieser Schritt aber sollte geplant erfolgen, ohne die langwierigen, ungewissen Versuchsreihen im Laboratorium der Natur. Viele – vielleicht die meisten - Percelle sahen sich als den ersten Schritt auf einem langen, aber unausweichlichen Weg zu gesteuerter Höherentwicklung.

Carl kannte Sergejows Ansichten, aber es erschreckte ihn, daß auch Jeffers mit ihnen liebäugelte.

»Wenn die Orthos zur Umwandlung des Mars nein sagen«, beharrte Sergejow, »sage ich erst recht ja. So einfach ist es.«

»Man kann die Entwicklung in physikalischen und chemischen Simulationsreihen ebenso voraussagen wie durch Computer-Hochrechnungen«, fügte Jeffers hinzu. »Was dabei herauskommt, sieht günstig aus. Freilich wird das Einfangen und Umlenken von Kometen draußen beim Neptun wenigstens ein Jahrhundert in Anspruch nehmen, selbst wenn es weitgehend maschinell geschieht, aber wir könnten die meiste Zeit davon durchschlafen.«

»Manchmal kann man klarer denken, wenn der Mund geschlossen ist«, sagte Carl und machte eine Handbewegung zu Ould-Harrad, der sein Manövriergerät in Betrieb genommen hatte und rasch näherkam.

»Gut, hören wir auf«, sendete Jeffers.

»Aber es ist wahr. Denkt darüber nach! Vielleicht ist es ein erster Schritt zu ungeahnten Möglichkeiten«, schloß Sergejow und machte sich wieder über seine Arbeit her.

Aber wie sich herausstellte, hatte der stellvertretende Kapitän nichts von ihrem Gespräch mitgehört; er brachte nur neue Pläne zur Programmierung der Maschinen. Carl nutzte die Gelegenheit, allein auf der anderen Seite der Kühlfächer weiterzuarbeiten. Er war noch nie ein Freund von Politik gewesen. Und ihre abenteuerlichen Reden hatten ihn beunruhigt.

Er tauchte ein in die schwebende, gleitende Anmut von Beethovens Kammermusik, während er sich durch tintenfarbene Schatten und grellgelbes Flutlicht bewegte, zog und stieß, die säuerliche Luft im Anzug roch, die Vibrationen des Druckluft-Schraubenschlüssels im Arm fühlte, das schweißfeuchte Ziehen und Drücken des Anzugs an Schultern und Knien.

Er war mit seinen Eltern die Küstenstraße hinauf nach Norden gefahren.

Hinter ihm hatten vier Jahre am Caltech gelegen, ineinanderfließende Erinnerungen an goldenen Sonnenschein, durchgearbeitete Nächte, Wochenendstreiche und nicht endenwollende Problemstellungen und Vorlesungen und herzlich wenig Sex. Er hatte keine Zeit dafür gehabt. Sergejow war so felsenfest davon überzeugt, daß ein Percell etwas Besonderes sei – nun gut, vielleicht mußte Sergejow so denken, weil er Kompensation brauchte. Aber Carl dachte anders darüber.

Er war vorwärts gekommen, weil er gearbeitet hatte, nicht weil er klüger gewesen war als die anderen. In seiner Studienzeit am Caltech hatte er eine wachsende Verwandtschaft mit all den Männern und Frauen gespürt, die jemals lange Stunden in der Einsamkeit des Studierzimmers verbracht hatten. Anders als griesgrämige Neider oder unerfahrene Jungen glaubte er nicht einen Augenblick lang, daß kreative Menschen ihre Zeit in Müßiggang verbrachten und dann, wenn die Erleuchtung über sie kam, in gewaltsamen, fiebrigen Ausbrüchen von Inspiration brillante Ideen herausschleuderten.

Wollte man irgend etwas gut machen, so waren Ausdauer, Stetigkeit und Sorgfalt ebenso nötig wie Verstand und Inspiration.

Und diese Eigenschaften hatte er, mochte es ihm auch an Brillanz fehlen.

Mit dieser inneren Wahrheit rang er, als er mit den Eltern die Küste entlang nordwärts fuhr. Er hatte sich in Berkeley um einen Studienplatz für Weltraumingenieurwesen beworben und ihn gegen all seine Erwartungen bekommen. Allerdings war ihm weder ein Stipendium noch eine andere Lernbeihilfe bewilligt worden. Das bedeutete, daß er ein Grenzfall war. Sein loyaler Vater sah in der Verweigerung des Stipendiums jedoch ein weiteres Symptom der zunehmenden Vorurteile gegen Menschen mit künstlich veränderten Erbanlagen.

Carl wußte es besser. Universitäten sind schwerfällige Organisationen, die von den Flutwellen öffentlicher Vorurteile, wenn überhaupt, erst spät erfaßt werden. Der Zulassungsausschuß hatte zweifellos seinen Notendurchschnitt von 3,3 gesehen und bemerkt, daß er hauptsächlich auf guten Leistungen in praktischen Fächern wie Labortechnik und Konstruktionsentwurf beruhte. Mathematik und Physik hatten ihn mehr als einmal in die Seile geworfen, groggy von den komplexen variablen Integrationen und der Quantenelektronik.

Das fröhliche Geplapper seiner Stiefmutter war von einem überschäumenden Enthusiasmus, der ihm immer exaltiert und übertrieben vorgekommen war. Er selbst neigte mehr zur Bedächtigkeit. Auch war er niemals imstande gewesen, das langsame Sterben seiner Mutter zu vergessen und sich an diese neue Frau im Leben seines Vaters zu gewöhnen. So hatte er auf dem Rücksitz gesessen, die Landschaft betrachtet und versucht zu überlegen. Nördlich von Ventura blieben die herbstlich gelben Hügel zurück, und die blaue Fläche des Ozeans breitete sich vor ihnen aus. Die Straße folgte nun der Küste, und Carl bemühte sich in wiederholten Anläufen, ihnen seine Zweifel zu erklären. Seine Berichte von den entfernten intellektuellen Schlachtfeldern klangen hohl, setzte man sie der Wirklichkeit draußen entgegen. Silbergrau verwitterte Scheunen, Reihen von Eukalyptusbäumen, üppige Obstgärten an den Hängen, dünnbeinige Bockbrücken, auf denen die Bahnstrecke Schluchten überquerte, Kühe, die unbeweglich wie Statuen in den Schatten immergrüner Eichen standen. All die kostbaren Schönheiten der Erde.

Als sie am Abend in Moro Bay Station machten, war das Wasser der Bucht von gläserner Klarheit. Seine Stiefmutter konnte sich nicht genug tun, eine schnittige, alabasterfarbene Yacht zu bewundern, die draußen vor der schützenden Sandbank vorbeizog. Hübsch war sie, ja. Aber Carl gefielen die an der Landungsbrücke vertäuten Fischkutter besser – ölig und rostig, nach Fisch und Salzwasser riechend und überhäuft mit Netzen, Tauwerk, Ankerketten und Gerät. In einem Hafenrestaurant diskutierten sie über einem Fischgericht, und sein Vater kam so in Fahrt, daß er den Chardonnay fast allein austrank und mit rotem Gesicht eine zweite Flasche bestellte.

Als Carl am nächsten Morgen erwachte, wußte er, was er zu tun hatte. Die Fahrt ging durch das grasbedeckte Hügelland der Vorberge landeinwärts nach San Luis Obispo, das zwischen niedrigen, felsigen Bergen lag. Dort sagte er seinem Vater, wozu er sich durchgerungen hatte, und auf einmal gelang es ihm, sich klar auszudrücken. Rückblickend begriff er, daß es brutal gewesen war.

Sein Vater hatte mit einer ausholenden Armbewegung gerufen: »Du willst dies alles aufgeben?« Damit hatte er Berkeley und die wissenschaftliche Fachausbildung gemeint, aber Carl war über Nacht klargeworden, daß er sich in die Bücher würde vergraben müssen und nie mehr lebendig zum Vorschein kommen würde. Vielleicht würde er einen akademischen Grad erlangen und einen gutbezahlten Schreibtischjob bekommen, mit sehr viel Glück sogar einen Doktortitel.

Aber er war in der Theorie nie eine Leuchte gewesen und wäre immer zweite Wahl geblieben. Und er hätte Jahre verloren.

Er dachte zurück an die empörte Armbewegung des Vaters über Tal und Hügel hin, und sah, wie recht der alte Herr damals gehabt hatte: er hatte das alles wirklich aufgegeben, sogar die Erde selbst.

Er erinnerte sich bis ins kleinste Detail, obwohl inzwischen elf ereignisreiche Jahre vergangen waren. Jahre, in denen er gelernt hatte, wie die Verhältnisse im Raum wirklich waren – nicht die geometrische Gewißheit mathematischer und physikalischer Aufgaben, wo jedes Problem eine klare Lösung in einem geordneten Universum hatte. Er hatte gelernt, wie es wirklich war – schmutzig, anstrengend, mit vielen Problemen, für die es keine Lösung gab.

Es war wohl eine zwangsläufige Entwicklung, daß vielen Percellen diese Laufbahn reizvoll erschienen war, hoch über den zusammengedrängten, gärenden Massen, die sie fürchteten und verabscheuten. Sicherlich traf es zu, daß der Weltraum seine Schönheit hatte, aber die Orte, die der Mensch dort für sich bereitet hatte, glichen mehr den rostigen Fischkuttern in der Moro Bay, abgenutzt und erfüllt von Gerüchen, verbeult und behelfsmäßig, funktionell, aber häßlich und fern von aller Ästhetik.

Ringsum wurden ungefüge Massen bewegt, Scheinwerfer durchbohrten das frostige Halbdunkel. Särge in Isoliergehäusen wurden in schwarzglänzende Eisnischen geschoben. Beethovens Violine sang zu plätschernder Klavierbegleitung und überbrückte mühelos die gähnende Stille von eineinhalb Jahrhunderten. Carl mühte sich weiter, dachte an seine langen, im Raum verbrachten Jahre, weit von den Verwirrungen der Erde, aber auch von ihren Schönheiten.

Im Herzen des Kometen
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