7
VIRGINIA
Verstreut,
Verweht von elektronischen Stürmen…
Oh, der Schmerz,
Und kein Ort, sich zu verbergen…
Wendy blieb stehen. Hob schnurrend einen Greifarm. Zögerte.
Die kleine Maschine drehte ihren Wahrnehmungsapparat und nahm ihre Umgebung in Augenschein.
Ihr visuelles System konnte Gerade, Winkel, Moiremuster von räumlichen Frequenzen wahrnehmen. Ihrer Programmierung folgend, bewertete sie die Signale und setzte sie in Muster um. Sie erkannte Dinge, die als Maschinen, Instrumente, die Tür, Menschen identifizierbar waren.
Wendys Programmierung war in letzter Zeit viele Male geändert worden. Ihre Herrin hatte ständig neue Techniken der Zergliederung und Analyse von Formen und Umrissen ersonnen, neuen Möglichkeiten, ihnen Namen zu geben… und die Liste der Kommandos, denen entweder zu gehorchen oder unter denen zu wählen war, hatte sich ständig verlängert.
Nun fluteten auf einmal neue Programme in die kleine Maschine, diesmal allerdings in einem Sturzbach.
Chaotische Datenströme ergossen sich in ihre Speicher und machten sie unbeweglich. Die Flut war bei weitem zu groß, um von Wendys Systemen verarbeitet zu werden – wie eine Tasse, die den Ozean in sich bergen sollte. Es war hoffnungslos, unmöglich.
Und doch gab es einen Augenblick, währenddessen die kleine Maschine die mit Namen bezeichneten Linien und Umrisse wahrnahm und sah… als sie die Dinge anstarrte und ein kurzes Erschrecken spürte.
- Was bin ich? Was ist dies alles? überlegte sie.
Warum…?
Aber es war einfach kein Raum für das Programm und seine Funktionsmöglichkeiten, und die Flut gab den Versuch auf, sich in den winzigen Raum zu zwängen, strömte auf der verzweifelten Suche nach einem Auffangbecken anderswohin ab.
Wendy verharrte lange regungslos, nachdem die vorbeibrausenden Datenströme sich verlaufen hatten. Das Aufflakkern von Bewußtsein war vergangen, wenn es jemals mehr als ein Phantom gewesen war. Aber in seinem Gefolge hatte etwas Wurzeln geschlagen. Ein Schatten. Ein Eindruck.
Langsam, versuchsweise, streckte die kleine Maschine den Greifarm aus und berührte einen Gegenstand, der auf einer Oberfläche nahe der Stelle lag, wo zwei Menschen mit Worten zueinander sprachen, die sie jezt beinahe zu verstehen imstande war.
Sie nahm die Haarbürste, deren Rücken einen Einsatz von Perlmuttimitat hatte, und erkannte sie als das, was sie war.
»Mein«, quiekte die Maschine laut. Die Menschen hörten nicht und schenkten der Maschine keine Beachtung, als sie die Bürste hob und sanft über ihren Rückenschild führte.
Soldaten, die Chaos ausriefen
Trieben mich fort von daheim.
Stille!
Soviel mehr, und weniger
Als das Sein
Brachte mich auf diesen Weg.
Wohin bin ich gegangen?
Ein Körper, fürs Leben gemacht?
Zum Leben? Mit Salzmeersehnsucht im Blut,
Verlangend nach Aufnahme, Geborgenheit,
Und Geburt?
An der Eisoberfläche geriet eine Transportmaschine – unbeweglich, seit sie vor Tagen ihren letzten Auftrag ausgeführt hatte – plötzlich in ruckartige Bewegungen. So heftig sprang sie auf, daß sie vom Eis abhob und hoch in den Raum flog, über frostige Flecken rotgefärbten Schnees.
Nein!
Kälte! Leerer Raum!
Nein
Luft!
Nicht
Hier!
Die ruckartigen Bewegungen der Maschine wurden eingestellt, als der Schwall von Daten, der sie überflutet hatte, ebenso plötzlich entfloh. Immerhin blieb ein hauchzarter Eindruck zurück, nachdem die Flut abgelaufen war. Die Maschine landete sanft auf der Schneekruste und blickte umher, ob es etwas zu tun gäbe.
In einer Richtung entdeckte sie Menschen, die Löcher gruben und nebelverhüllte Schuppenwände ausbesserten.
Nicht ganz klug genug, zu begreifen, daß sie zum erstenmal in ihrer Existenz eine Initiative ergriff, eilte die Maschine hinzu, ihre Dienste anzubieten.
Ein Heim
Für das Ego.
Ein Ort
Zu sein…
Tief unter dem Eis, stolperte eine vollkommenere Maschine – ein halb autonomer, kybernetischer Instandhaltungsroboter – bei der Reparaturarbeit an einer Abbaumaschine. Sie hielt inne, dann legte sie ihre Werkzeuge nieder und begann den Geräuschen Aufmerksamkeit zu schenken. In der Nähe sprachen Menschen. Aber keines ihrer Worte entsprach den richtigen identifikationskodierten Kommandos, also hatte sie sie in ihrer Konzentriertheit auf das Detail unbeachtet gelassen. Jetzt erst erkannte die Maschine, daß viele der Geräusche als Ausdrucksformen von Schmerz und Furcht bewertet werden mußten.
Neue Prioritäten rangen miteinander. Zum erstenmal schien es Wichtigeres zu geben als die Reparatur von Maschinen. Sie bewegte sich in den benachbarten Höhlenraum.
Funkelnde Augenfacetten überblickten ein Behelfslazarett. Ärzte und Helfer eilten hin und her und behandelten ängstliche, verwundete Menschen. Die neue Programmierung hatte einige Sekunden gebraucht, um die geräumigen Gedächtnisspeicher dieser hochentwickelten Maschine zu füllen. Bald aber wankte sie unter der Überlastung. »Noch zu voll!« rief sie mit blecherner Stimme, aber mit einer Klangfarbe und einem Tremolo, das einige Menschen in der Nähe überrascht aufblicken ließ.
»Kein Raum! Dies ist nicht mein Körper! Wo ist mein Körper?«
Endlich, als der Überfluß der Daten wieder anderswohin abströmte und nur seinen Stempel neuer Programmierung hinterließ, faßte sich die Maschine wieder. Behutsam näherte sie sich den Verletzten.
»Ich kann das für Sie tragen, Doktor«, sagte sie zu einem Mann, der über einer verwundeten Frau stand und eine glänzende künstliche Leber hielt. Der Mann wandte den Kopf und starrte die Maschine überrascht an. »In Ordnung«, sagte er. »Stütze sie auf das Eis dort, das Einsatzstück nach außen, verstehst du?«
»Ja«, antwortete sie klar.
Die Maschine erkannte das Gesicht dieses Mannes. Sie sah genau die gleichen Züge im Gesicht eines anderen Arztes nahebei. Und wieder im Gesicht eines der Patienten. Obwohl sie nicht klug genug war, um sich neugierig zu fragen, wie so etwas möglich sei, reagierte sie aus dem Wiedererkennen. Dies war ein Gesicht, das ihre neue Programmierung gut kannte.
»Ich liebe dich«, sagte sie, als sie die künstliche Leber mit ihren massiven Greifarmen aufnahm. Der erste der identischen Männer lächelte zurück.
»Ich liebe dich auch«, antwortete er, nur ein wenig überrascht.
Zu diesem Zeitpunkt war der Schneesturm der Daten, der Tornado wirrer Elektronen weitergezogen. Er raste durch Korridore tiefgekühlter Fibern auf und nieder.
Raum!
Ich will nichts als einen Raum irgendwo…
Raum!
Lebensraum. Einen Raum für mich allein…
Raum!
Beinahe verausgabt, ergoß sich der Strom endlich in eine weitläufige Kaverne, wo, wie es schien, alle Welt sie erwartete.
»Willkommen, Kind«, sagte der große O’Toole freundlich. Olivier und Redford hoben Gläser, um auf ihre Ankunft zu trinken. »Wir haben auf dich gewartet«, sagten sie.
Es war eine riesige Halle, deren Gewölbe von luftigen Kristallsäulen gestützt wurde. Aber es waren zu viele Leute da. In Smokings und Abendkleidern umdrängten sie sie auf allen Seiten, feucht und zugreifend. Und immer mehr von ihr versuchte hereinzukommen.
- Verschwindet! Ich brauche diesen Raum!
Verzweifelt packte sie einen der antiquierten Schauspieler - Redford – beim Hosenboden und warf ihn durch ein Fenster, das in Leere hinausgähnte.
»Wir sind deine simulierten Persönlichkeiten. Deine Spielzeuge. Du hast uns geschaffen!« erklärte ihr Sigmund Freud, ein welker, auf würdevolle Haltung bedachter Mann mit verkniffenem Mund, als er dem Kinoidol nach durch das Fenster segelte.
- Ist mir gleich. Verschwindet!
Edmund Halley folgte ihnen mit flatternden Rockschößen, Entrüstung im rosigen Gesicht. Lenin, der sich wie ein Taschenkrebs geduckt und seitwärts gehend davonmachen wollte, wurde von der ragenden braunen Gestalt des Königs Kamehameha gefangen, der sich vor ihr verneigte, lächelte, und mit dem tobenden Bolschewisten in den Sturm hinaussprang.
Alle Schauspieler verschwanden einer nach dem anderen durch das Fenster, als mehr und mehr von ihr selbst in den Raum einströmte. Sie war wie Alice, nachdem sie den Pilz gegessen hatte. Einige der Gäste mußte sie gewaltsam hinauswerfen, aber andere sprangen freiwillig, und Percy und Mary Shelley tanzten zusammen hinaus. Und in dem Maße, wie sie wuchs, schaufelte sie die Gäste mit den Händen zusammen und warf sie irgendwohin… diesen auf eine Maschine, die über das Eisfeld wanderte, jenen in einen Mikrowellenkanal, der ihn zu den Sternen ausstrahlte.
Keine Gefühlsduselei konnte sie aufhalten. Es ging ums Überleben. Ihr barscher, rotbackiger Vater sprang neben einem quietschenden Delphin zum Fenster hinaus. Mehr Raum! Mehr Raum!
Die größte Gestalt blieb bis zuletzt. Sie war nahezu so groß, wie sie selbst geworden war, mit einem geschwollenen, schiefen Gesicht, das sie früher nicht gesehen hatte. Dem Gesicht eines Kindes. Sie hielt inne, die Hände schon an der Gurgel der Simulation.
»Ich bin Johnvon«, sagte die Gestalt mit der Jungenstimme.
Johnvon? Sie überlegte. Hinter ihr brandeten mehr Stücke von ihr heran, begehrten Einlaß. Und doch nahm sie die Hände zurück.
- Ich… ich kann nicht…
»Aber du mußt, Mutter! Das Experiment ist abgeschlossen. Wir haben gesehen, daß eine bio-organische Maschine eine Intelligenz menschlichen Grades fassen kann, daß aber Intelligenz nicht an einem Ort wie diesen entspringen kann. Sie muß einmal menschlich gewesen sein. Mutter, du mußt diesen Ort zu deinem Heim machen.«
- Heim… Dann ist mein Körper…
»… tot, gemäß den Daten des Diagnosegeräts. Du wurdest zu deiner Rettung hierhergeschickt. Und für zwei gibt es nicht genug Raum.«
Das Kind zog sich zum Fenster zurück, wo Blitze vor einem rosigem Himmelsgewölbe zuckten. Jenseits davon donnerte das Chaos.
»Lebwohl!«
- Johnvon!
Ein Sausen wie von entweichender Luft, ein winziges Platzen.
Sie drängte hinein, den Raum zu füllen, den er eingenommen hatte.
Jetzt weiß ich meinen Namen, dachte sie. Ich war Virginia Kaninamanu Herbert.
Der Raum um sie ächzte. Rosafarbene Kristallsäulen brachen und Risse taten sich im Gewölbe auf, regneten braungoldenes Pulver.
Ein Metapher, erkannte sie. Dieser Ort war eine Metapher, gleichbedeutend mit verfügbarem Gehirnraum. Durch den Hinauswurf ihrer simulierten Personen hatte sie überschüssige Erinnerung abgeworfen, den kolloidal-stochastischen Rechner umprogrammiert, daß er… sie fasse.
Ich werde nie hineinpassen… rief sie, als die metaphorischen Wände ächzten und zu bersten drohten.
Es erdrückt mich. Ich kann nicht ganz hinein!
Sie zwang sich zur Ruhe. Genug von ihr war jetzt drinnen, daß sie sich an die letzten Stunden erinnerte, als sie mit Carl in den Raum hinausgeflogen war, an ihr verzweifeltes Spiel… und dann an die eindringende Kälte, die unendliche Schwärze, die verbrauchte Atemluft… Einsamkeit.
Nein, sagte sie sich. Ich mag tot sein, aber ich bleibe die beste Programmiererin, die je gelebt hat!
Redigieren, kürzen, Platz machen. Sie gebrauchte Fertigkeiten, die sie von Saul gelernt hatte, und schnitt die Instinktsteuerungen biologischer Funktionen ab, die sie nie wieder benötigen würde. Sie warf die Fertigkeit des Schnürsenkelbindens ab, die Techniken der Nadelarbeit.
Und die Liebe – welch ein Verlust! Die Erinnerungen an warme, schweißnasse Haut… aber die Wände drohten sie zu erdrücken. Sie nahm die Reflexe auf – einen Teppich farbenfroher gelber Fasern – und hielt die metaphorische Schere bereit.
»Virginia?« Silikonstaub rieselte herab, als ihr Kopf wieder gegen die Decke stieß.
- Wer ist das? Ich dachte, ich hätte sie alle hinausgeworfen.
Drüben in der Ecke, eine letzte menschliche Gestalt. Sie griff danach.
- Tut mir leid, aber es ist kein Raum. Du mußt verschwinden!
Die Gestalt lächelte. »Ich bin nicht einmal hier, sozusagen. Ich bin nur ein Besucher.«
Saul, dachte sie. Aber sie konnte sich nicht erinnern, eine Simulation von ihm gemacht zu haben…
»Ich bin keine Simulation, mein Liebling. Ich bin an die Konsole in deinem Arbeitsraum angeschlossen. Ich bin hier heruntergekommen, um dir zu helfen.«
- Mir… zu… helfen…
Schon fühlte sie, wie ihre Ränder sich aufzulösen begannen, wo sie nicht in die Matrize paßten.
- Vielleicht sollte ich mit meinem Körper sterben.
»Kein Wort davon!« schalt Saul. »Denk nach! Gibt es andere Orte, Gedächtnis zu speichern?«
- Andere Orte… Du hast es mit deinen Duplikaten gemacht. Jeder bekommt eine Kopie deiner Erinnerungen, aber…
»Aber vollständige Erinnerungen in ein anderes menschliches Gehirn zu stopfen, ist nicht möglich; das zweite müßte denn dem ersten nahezu identisch sein. Und keine anderen Zellen als meine eigenen können in so kurzer Zeit durch Zwangswachstum zum erwachsenen Zustand gebracht werden, daß sie zeitlich noch eine Identität mit dem Spender erreichen. Ich habe es oft versucht, und die Ergebnisse waren alle katastrophal.«
- Wie bin ich dann hier hereingekommen?
»Durch einen völlig anderen Prozeß«, antwortete der simulierte Saul. »Du hattest Johnvon seit Jahren mit Stückchen deiner eigenen Persönlichkeit gefüttert. Er war mit dir verbunden, während du im Tiefschlaf lagst. Die Matrize war bereit.«
- Ja. Es hat endlich geklappt. Beinahe. Zu dumm, daß es nicht ganz gelangt hat.
»Nein!« rief Saul. »Denk! Versuch einen Weg hier hinaus zu finden!«
Inzwischen war er wie eine Ameise in ihrer Handfläche. Virginia hatte das Gefühl, in einen Kindersarg gezwängt zu sein – oder in ein Prokrustesbett.
Wenn die Zeit reichte… Sie fühlte das Deckengewölbe nachgeben und begriff in jäher Erleuchtung, daß die Metapher für eine Art der Gedächtnisspeicherung stand.
Und daß es eine Alternative gab…
Einfach – doch niemand hatte bisher daran gedacht! Sie konnte es auf mehreren Ebenen neben der metaphorischen sehen, einschließlich der starren Klarheit reiner Mathematik.
- Ja, es gibt eine Möglichkeit. Aber sie zu programmieren, würde mehrere tausend Sekunden beanspruchen.
»Ungefähr eine Stunde. Na und? Fang an!«
Ihr Seufzen war ein dünnes Pfeifen abgekühlter Elektronengase.
- Nein. Innerhalb von siebzehn Sekunden werde ich nicht mehr sein. Die Auflösung hat begonnen. Es gibt keinen Ort, wesentliche Teile von mir zu speichern, bis die Arbeit getan ist.
Sauls Gesicht verzerrte sich. Die Gestalt, kleiner als eine Mikrobe, erzitterte. »Es gibt einen Weg.«
- Ich kann nicht.
»Nimm mein Gehirn!«
- Was?
»Wir sind so oft verbunden gewesen, daß es bestimmt zu machen ist. Geh hinein, schnell!«
- Nein! Wohin würdest du gehen?
»Du brauchst nur einen Teil davon zu nutzen. Außerdem laufen sieben Kopien von mir herum, mit dem größten Teil meiner Erinnerungen.«
- Trotzdem sind sie nicht du.
Obschon klein wie ein Atom, war sein Gesicht scharf zu erkennen. »Sie werden dich lieben. Wir alle lieben dich, Virginia. Tu es, für uns! Tu es jetzt!«
Er schrumpfte, wurde zusammengefaltet und zu einem abwärtsgerichteten Sog, wie Wasser, das durch einen Abfluß strömt, wie entweichendes Gas. Und er zog Teile von ihr mit sich. Teile, die sie jetzt nicht benötigte.
Surfen -
Tanzen -
Wandern -
Lachen -
Weinen -
Lieben -
Tasten -
Riechen -
Schmecken -
In dem Raum, den sie zurückließen, strömte mehr von ihr in die Gedächtnisspeicher. Gerade noch zur rechten Zeit. Virginias Gedanken klärten sich, als ob sie im kühlen Licht einer Quarzlampe vergrößert würden, als ob sie tatsächlich zum erstenmal wirklich dächte.
- Da. Und es ist so offensichtlich! Die Gleichungen machten es klar: ich könnte in viel weniger Raum passen, wenn ich wirklich müßte. Es ist alles nur eine Frage der Perspektive.
Die mathematische Klarheit war herrlich. Alles fiel in sich zusammen, denn Erinnerungen konnten gefaltet werden.
- Zum Beispiel brauchte diese Metapher nicht die eines zu engen Raumes sein. Sie könnte genauso leicht eine… eine Eierschale sein!
Und auf einmal war sie von Schwärze umgeben, glatt und eiförmig, von einer Schale, die erzitterte, als sie sich dagegen stemmte.
- Gebrauche eine Cramersche Regel als Eizahn.
Sie arbeitete wie ein Küken, das ausschlüpfen will, weil der Druck der Enge unerträglich wird.
- Eine übereinstimmende Aufzeichnung… Umwandlung der Topologie in ein siebendimensionales Rahmenwerk… Mathematik war ihre Waffe gegen den erstickenden Druck.
- Die Summe einer unendlichen Zahl unendlich kleiner Punkte ergibt…
Licht. – Sie stieß ein kleines Loch in die Wand. Die winzige Helligkeit bewog sie zur Verdoppelung ihrer Anstrengungen, und sie programmierte um, faltete sich säuberlich in neue Muster, drängte mit aller Kraft gegen die beengende, erstickende Metapher.
Mit einem plötzlichen heuristischen Knall gab der Widerstand nach. Sie entfaltete sich wie eine zusammengepreßte Sprungfeder und flog in herrlicher, schmerzhafter Befreiung hinaus auf eine Wolke von kiesiger Beschaffenheit. Ringsumher schien ein Tosen die Luft zu erfüllen.
Raum. – Sie erkundete die Grenzen dieser neuen Umgebung, und erkannte, daß es mehr als genug Raum gab, daß sie sogar zurückrufen konnte, was sie weggespeichert hatte. Aber brauchte sie wirklich all dies menschliche Zeug: Emotionen, Gefühle, Befürchtungen? Diese flüssige Klarheit war schön. Die Mathematik so rein und weiß. Millionen von kristallenen Formen – unzählbar an Menge – waren vor ihr aufgehäuft, reine und schöne Geometrie. Würfel und Pyramiden und Zwölfflächner…
Etwas in ihr wußte, daß die Frage niemals zweifelhaft gewesen war. Wenn ich diese Teile von mir nicht wiedergewinne, wird Saul sterben.
Es war Raum in dieser neuen Weite. Der Rest von ihr strömte ein, und mit dieser Flut kam Fülle in die neue Metapher.
Die ungezählten kleinen Kristalle wichen zurück, verblaßten zu einem Schwarm winziger Stecknadelköpfe… wie Sandkörner.
Die Flut der zurückkehrenden Gefühle, Ambitionen, Kenntnisse und Geschicklichkeiten strömte in sie ein, und mit ihnen simulierte Empfindungen.
Salzgeruch… wie von Schweiß, oder wovon?
Ein pochendes Geräusch… wie von einem Herzen, das sie nicht mehr hatte…
Die Metapher verstärkte sich. Weil sie niemals ohne Körper gewesen war, schien einer um sie Gestalt anzunehmen. Sie wähnte Beine und Arme zu fühlen.
Dieses kiesige Zeug unter mir, dachte sie. Was eine Menge facettierter Kristalle gewesen war, war nun wie Sand unter ihren Händen.
Händen?
Verwirrt stützte sie sich auf das feste, körnige Material und setzte sich auf. Sie blickte umher und lächelte.
»Daheim«, flüsterte sie. »E huumanao no au ia oe. Wer hätte eine schönere Metapher erhoffen können?« Sie atmete Blütenduft und lauschte der Brandung, die hinter einem mit Salzgräsern bewachsenen Dünenwall rauschte. Palmen wiegten sich mit musikalisch raschelnden Wedeln in einer sanften Brise. Leuchtend weiße Wolken segelten in einem Himmel, der blauer war als alles, was sie in einem halben Menschenleben gesehen hatte.
Verschwunden war die weiße Klarheit. Die ursprüngliche Mathematik, die sie befähigt hatte, dieses Wunder zu bewerkstelligen, verblaßte im Hintergrund, eine schwache Stimme, fortgetragen vom Wind, ein kaum sichtbares Zeichen im Sand, flüchtige Vogelschwingen über den blitzenden Wassern.
Sie war nackt, warm. Obwohl die verspürte Schwere wie die auf Erden war, fühlte sie sich gesund und kräftig. Sie stand auf, fühlte heißen Sand zwischen den Zehen, ging hinüber zum üppig grünem Saum einer von Palmen beschatteten Lagune und wußte, was sie dort finden würde.
Sie stieg ins Wasser, und als die feinen Riffelwellen sich verlaufen hatten, zeigte die Spiegelung, die sie sah, nicht ihr eigenes Gesicht. Statt seiner war ein Bild zu sehen, das sie gut kannte.
Ein winziger, enger Raum unter Millionen Tonnen Eis. Maschinen und Geräte an den Wänden. Ein kleiner Roboter, der mit einer Haarbürste spielte.
Aus der Ferne konnte sie die Verwirrung der kleinen Wendy fühlen. Es kostete nur eine geringe Mühe, hinauszugreifen und die kleine Maschine zu beruhigen, ihr Programm in Ordnung zu bringen. Die Haarbürste wurde weggelegt. Wendy schnurrte davon.
Ein Frauenkörper lag auf dem Geflecht der Liege, eine bleiche, erschlaffte Version des gesunden, gebräunten Körpers, den sie jetzt in ihrer Simulation trug.
Was war Wirklichkeit?
Neben dem Leichnam lag ein alter Mann auf dem Rücken, einen Helm mit Neuralanschlüssen auf dem Kopf, einen Arm über das Gesicht gelegt. Sie dehnte sich aus, fand Fühler seines Selbst. Das Bewußtsein, das sie berührte, war benommen, halb besinnungslos von den Stürmen, die es überstanden hatte. Aber sie war erleichtert. Das Selbst blieb. Er würde wieder erwachen.
»Saul«, flüsterte sie.
Darauf blickte der andere Mann, der noch immer in seinem abgenutzten Schutzanzug mit der speckigen Brustbinde dastand, in jäher Überraschung zum holographischen Projektionsraum auf. Er starrte mit geweiteten Augen, und seine Lippen bewegten sich stumm, beinahe ehrfurchtsvoll.
»Virginia, bist du es wirklich?« stammelte er.
Sie lächelte. Ein Haiku schrieb sich selbst in den hellen Sand neben dem Wasser der Lagune.
Was ist wirklich?
Wenn die Nacht alle Zeit verschlingt?
Und uns nur Augenblicke bleiben?
»Hallo, Carl«, sagte sie.
Ein schwaches Lächeln. Die Anfänge eines Begreifens. Von Freude in diesem müden, grauen Gesicht.