8
SAUL
Es war nicht leicht, sich zu vergegenwärtigen, daß die Halle tatsächlich eine riesige Kristallhöhle war, herausgeschnitten aus dem Herzen eines uralten Eisbergs. Nirgends war das dunkle Glitzern gefrorenen Ammoniaks und Kohlenmonoxids zu sehen, das geädert war von glänzenden Schichten gefrorener Hydrate und Gase. Überall war die Urmaterie des Nukleus unter rosa Fibergewebe und aufgesprühter hellgelber Dichtungsmasse verborgen.
Für Saul Lintz hatte das Ganze den Charakter einer Kathedrale des Kitsches.
Die große Halle war das Herz des Zentralkomplexes – eines wahren Ameisenhaufens von Kavernen und Stollen, die hier in Halleys Kern aus dem Eis gehöhlt waren. Stollen und Schächte führten von hier in die sechs Hauptrichtungen. Zur besseren Unterscheidung waren sie bernsteinfarben, gelb, grün, braun, blau und rotorange gekennzeichnet. Diese letztere Farbmarkierung hatte Schacht 1, ein breiter, vertikaler Tunnel von fünfzehn Metern Durchmesser, der in gerader Linie einen knappen Kilometer zum Nordpol des Kometenkerns hinaufführte.
Die Maschinerie der Klimaanlagen hatte die eingepumpte Atemluft gereinigt und erwärmt, und die zur Einweihung in die große Halle strömenden Menschen nahmen nur einen schwachen, an Mandeln erinnernden Geruch war.
Dann und wann, wenn er einen klaren Kopf bekam, konnte sogar Saul das Aroma riechen.
Er schneuzte sich und steckte das Taschentuch schnell ein, bevor jemand aufmerksam würde. Aus diesem Grund saß er auf einem leeren Bretterverschlag an der Rückseite des Saales und nicht näher der Tribüne des Sprechers. Er war wohlversorgt mit Antihistaminen, doch tropfte seine Nase darum unbekümmert weiter, und er fühlte sich immerfort von Niesreiz bedroht.
Zum Henker mit Akio und seinen ›zahmen‹ Viren.
Er blickte zur gewölbten Decke auf. In den zwei Tagen, die er im Untergrund mit der Beaufsichtigung der Überführung und Neuaufstellung des biomedizinischen Laboratoriums in neuen, größeren Räumen verbracht hatte, war es ihm noch nicht gelungen, sich an die seltsamen, fremdartigen Perspektiven hier unten zu gewöhnen.
Auf der anderen Seite der Halle lag der Antriebsteil der Transportsonde Sekanina, wie das gebrechliche Skelett eines zergliederten Tieres. Seine Ladung aus Maschinen, Versorgungsgütern und achtzig schlafenden Männern und Frauen war anderswo untergebracht worden. Daneben lagen die zusammengelegten Teleskopstangen, an denen die riesigen, hauchdünnen Gazesegel zum Auffangen des Sonnenwindes befestigt gewesen waren – offenbar die einzigen beweglichen Teile, die noch nicht ausgeschlachtet oder in den großen Zelten auf der Polarebene gelagert waren.
Die Halle füllte sich langsam, als Männer und Frauen aus allen Richtungen hereinschwebten. Hier, beinahe einen Kilometer tief im Kern des Kometen, war die spürbare Schwerkraft so gering, daß jemand, der durch den vertikalen, orangeroten Schacht fiel, mehrere Minuten brauchte, bis er den Boden erreichte.
Erfahrene Astronauten schätzten keine langen Übergänge; sie stießen sich an der Tunnelöffnung ab und durchmaßen seine ganze Länge in weniger als einer Minute, um erst im letzten Augenblick abzubremsen.
Ein junger Mann – Saul vermutete, daß er hatte angeben wollen – war bereits Opfer seiner Fehlkalkulation geworden. In einem Nebenraum des F-Stollens, wo Akio Matsudo und seine Ärzte die Krankenstation eingerichtet hatten, wurde nun sein gebrochenes Handgelenk behandelt.
Die Leute kamen zu zweit und zu dritt, bildeten kleine Gruppen in der Halle, um zu plaudern, oder machten es sich auf Kisten und herumliegendem Verpackungsmaterial bequem, um ein wenig auszuruhen.
Unweit der Sekanina hatten sich die Leiter der Expedition eingefunden.
Miguel Cruz-Mendoza überragte die anderen fast um einen Kopf. Er war Expeditionsleiter, Kapitän und treibende Kraft hinter den zehnjährigen Vorbereitungen, die zu diesem Tag hingeführt hatten. Die grauen Schläfen des hochgewachsenen, stets höflichen Chilenen verstärkten seine charismatische Erscheinung. Es wurde scherzhaft erzählt, daß er sich so sehr für das Zustandekommen dieser Expedition eingesetzt habe, um einen großen Schritt vorwärts in die Zeit zu tun und dadurch seinen zahlreichen Geliebten und Verehrerinnen zu entkommen.
Der Scherz war nicht so abwegig, wie es scheinen mochte. Saul hatte nie einen Mann gekannt, der sich besser als Cruz auf den Umgang mit der Damenwelt verstanden hätte. Einige seiner Feinde und Neider schrieben Cruzs Erfolg seinen guten Beziehungen zu bestimmten weiblichen Senatoren zu.
Gleichviel, der Kapitän war zugleich eine Führungspersönlichkeit, der man sich gern unterordnete. Viele Leute hatten zusammengewirkt und geholfen, die Halley-Expedition zu ermöglichen, aber kein anderer als Miguel Cruz hätte diesen Tag können Wirklichkeit werden lassen.
Der Kapitän fing Sauls Blick auf und nickte ihm zu. Sie hatten einander während der Entwicklung der Cyanuten und anderer Symbionten gut kennengelernt. Saul nickte zurück und lächelte. Dies war ein großer Tag für seinen Freund.
Dr. Bethany Oakes, die stellvertretende Expeditionsleiterin sagte etwas zu Cruz, und er lachte in fröhlicher Unbekümmertheit.
Saul kannte Oakes weniger gut, aber was er von der energisch aussehenden, brünetten Frau wußte, hatte ihn beeindruckt. Sie nahm dem Kapitän nicht nur einen Großteil der verzweigten und komplexen Verwaltungsarbeit ab, sondern war außerdem noch Leiterin der Hauptabteilung Wissenschaft.
Um die beiden standen die Abteilungsleiter – alle bis auf Matsudo, der vermutlich noch seinen Patienten behandelte. Nikolai Malenkow oder Marguerite van Zoon hätten den kleinen Unfall genausogut verarzten können. Selbst Saul, dessen klinische Fähigkeiten ein wenig eingerostet waren, hätte den Bruch behandeln können.
Aber der Rang hat seine Privilegien, und Akio hatte sich in letzter Zeit gelangweilt. Unfälle, die nicht augenblicklich zum Tode geführt hatten, waren selten gewesen. Und die überdurchschnittlich gesunde Mannschaft gab einem Arzt nicht viel mehr zu tun als die Kühlfächer zu beaufsichtigen und gelegentlich Krankheitserreger freizusetzen, die das Immunsystem der Leute abwehrbereit zu halten hatten. ›Arzt, heile dich selbst‹, dachte Saul. Er hatte sich eigens eine Portion Dexbrompheniramin angefertigt, ein seit langem veraltetes Antihistamin, das aber leicht zu synthetisieren war, so daß er der Notwendigkeit enthoben blieb, sich selbst etwas aus der Expeditionsapotheke zu verschreiben und eine entsprechende Eintragung zu hinterlassen.
Er wußte, daß dieses Verhalten ein wenig unethisch war, da er die Sache vor Akio Matsudo verbarg. Aber er hatte nicht die Absicht, sich wegen eines verdammten Schnupfens in ein Kühlfach schieben zu lassen. Nicht zu einem Zeitpunkt, der zu den erregendsten Augenblicken in der Geschichte der Wissenschaft zählte.
Mehr als einhundert Menschen hatten sich in der Halle versammelt. Bis auf zwei Dutzend, die anderswo Wachdienst taten, war die gesamte Besatzung der Edmund Halley anwesend, dazu ungefähr dreißig zeitweilig geweckte Tiefschläfer, die an ihrer blassen Gesichtsfarbe zu erkennen waren.
Ein paar Leute setzten sich aus alter Gewohnheit nieder, aber die meisten ruhten in einer Art Hockstellung aus, die sich in der Schwerelosigkeit bewährt hatte: auf den Zehen sitzend, die Knie gebeugt und die Arme zu beiden Seiten herabhängend.
Kapitän Cruz und Dr. Oakes bestiegen eine aus den Resten der Sekanina errichtete Plattform, wo Cruz die Hände erhob. Das leise Gemurmel der Gespräche verstummte.
»Also!« fing er an und rieb die Hände aneinander. »Hat schon jemand kalte Füße?«
Die versammelten Astronauten und Wissenschaftler schmunzelten. Obwohl sie verschiedene Kulturkreise und Religionsgemeinschaften repräsentierten, gab es keinen Zweifel daran, daß sie alle ihren Expeditionsleiter mochten und bewunderten.
Cruz wärmte sie noch ein wenig mehr an.
»Ich möchte Ihnen allen danken, daß Sie diese vielen Millionen Kilometer gekommen sind, an dieser Versammlung teilzunehmen. Ich habe Sie hier zusammengerufen, um Ihnen zu sagen, daß die Expedition leider abgesagt worden ist. Wir sollen alle unsere Sachen packen und noch heute abend umkehren.«
Das riß alle mit. Gelächter und Applaus erfüllten die Halle. Auch Saul lachte mit und klatschte. Cruzs instinktsichere Kunst der Menschenführung zeigte sich auch darin, daß er mühelos die Moral hochhalten und das Beste aus einer Gruppe herausholen konnte.
Selbstverständlich gab es für keinen von ihnen eine Möglichkeit, umzukehren… nicht bevor die ihnen zugemessenen sechsundsiebzig Jahre verstrichen wären. Gegenwärtig flogen sie mit dem Halleyschen Kometen mit einer Geschwindigkeit von dreißig Kilometern pro Sekunde aus dem inneren Sonnensystem. Diese enorme Geschwindigkeit mußte erst wieder aufgezehrt werden und im sonnenfernsten Punkt Null erreichen, bevor der Riesenkomet wieder der Sonne entgegenzufallen begann. Und erst wenn er sich wieder auf Annäherungskurs befand, konnte man an eine Heimkehr denken.
Saul hing seinen Gedanken nach und verpaßte den nächsten Scherz. Aber die Reaktion war die gleiche. Sie lachten gemeinsam und machten den Eindruck einer rundum zufriedenen Mannschaft. Cruz gab sich absichtlich volksverbunden und lockerte die Stimmung auf, während er gleichzeitig seinen Nimbus vollständiger, entspannter Beherrschung aufrechterhielt.
Dennoch konnte selbst Saul die Trennungslinien sehen. Die erfahrenen Astronauten hatten sich zur Linken versammelt. Die Wissenschaftler, Spezialisten verschiedener Fachrichtungen unter Oakes’ Oberleitung, hatten sich vorn zusammengefunden. Hinter ihnen waren Techniker und Ingenieure aus mehr als zwei Dutzend Nationen im Saal ausgebreitet.
Dazu gab es mehrere kleinere Gruppen, deren innerer Zusammenhalt von der Geographie oder ihrer gemeinsamen Muttersprache bestimmt wurde. Und allenthalben war die subtile aber deutliche Trennung zwischen der Mehrheit der Orthos und den stattlichen jungen Percellen zu beobachten.
Selbstverständlich gab es auch Vermischungen, insbesondere unter den Berufsastronauten. So bemerkte Saul, wie Carl Osborn sich zur Seite beugte und Lani Nguyen, die keine Percelle war, etwas zuflüsterte. Sie lachte hell auf, dann schlug sie errötend die Hand vor den Mund. Darauf blickte sie mit leuchtenden Augen zu Carl auf, aber der hatte sich wieder abgewandt und lauschte den Worten seines Kapitäns.
»Warum wir hierhergekommen sind?« fragte Cruz, die Fäuste in die Hüften gestemmt. Nun, da er sie angewärmt hatte, nahm sein Tonfall kaum merklich eine ernstere Färbung an. »Es werden verschiedene Gründe genannt. Philosophen sprechen von reiner wissenschaftlicher Forschung, von der bedeutsamen Frage nach dem Ursprung des Sonnensystems, die ihre Antwort finden könnte, wenn wir die ursprünglichste Materie im Weltraum analysieren.
Andere glauben einfach, daß wir auf dem Halleyschen Kometen sind, weil er da ist… oder vielmehr, hier.« Er lächelte. »Und warum sollte nicht anerkannt werden, daß die Faszination des Unternehmens an sich ein Grund zur Teilnahme daran ist? Dieser fliegende Eisberg ist seit Jahrtausenden über den Erdhimmel gezogen und hat so viele unserer Vorfahren bezaubert, hat zu allerlei Deutungen und Legenden Anlaß gegeben und nicht wenige unserer Ahnen in Angst und Schrecken versetzt.«
Sauls Blick fiel auf die Gruppe der Hawaiianer, acht Männer und Frauen von insgesamt dreißig, die ihr zukunftshungriges Land zur Expedition beigesteuert hatte. Sie trugen bunte Hemden mit Blumenmustern über den einteiligen Arbeitsanzügen. Gleichmäßig aufgeteilt zwischen Percellen und Orthos, war die Gruppe eine farbenfrohe Mischung von Typen und Farben. Als hätte sie seinen Blick gefühlt, wandte Virginia Kaninamanu Herbert den Kopf und sah zu ihm herüber. Sie machte ihn aus und lächelte strahlend. Saul zwinkerte zurück.
»… Suche nach neuen chemischen Verbindungen oder vielleicht zur lebensspendenden Erneuerung unseres Nachbarplaneten Mars, der von der Natur weniger freigebig ausgestattet wurde als unsere geliebte Erde.
Vielleicht haben manche von Ihnen sich wegen der versprochenen Lohnfortzahlung freiwillig gemeldet – für fünfundsiebzig Jahre Schlaf am Arbeitsplatz.«
Diesmal gab es Hochrufe und beifällige Pfiffe.
Cruz breitete die Hände aus.
»Aber es gibt zwei besondere Gründe, die uns hierher geführt haben, auf einer Mission, welche die meisten von uns für immer von allen Angehörigen und Bekannten trennen wird.
Zunächst, das sage ich Ihnen ganz offen, wird diese Mission mit ihren vielen Mitgliedern von genetisch veränderter Herkunft zu Hause als eine Probe der Fähigkeit des Menschen gesehen, sich über Vorurteile und Aberglauben zu erheben. Seit hundert Jahren haben Menschen guten Willens sich auf allen Ebenen bemüht, unserer Spezies den am tiefsten sitzenden Gruppeninstinkt auszutreiben – die Furcht vor dem Fremden, dem, der anders ist, die seit undenklichen Zeiten so viel Haß und Schrecken erzeugt hat…«
Seit undenklichen Zeiten… Saul schloß die Augen und sah wieder die Rauchwolken über Jerusalem, als die Salawiten und Leviten die Universität auf dem Herzlberg in Brand gesteckt hatten, unter den Augen der untätigen ›Friedenstruppen‹.
»… werden einen bedeutenden Erfolg erzielen, wenn wir den Beweis erbringen können, daß sogenannte Orthos und sogenannte Percelle, die auf einer langen und gefährlichen Mission zusammenleben und -arbeiten, sich als Mitmenschen aufeinander verlassen können und in gemeinsamer Arbeit neue Erkenntnisse und Entdeckungen in die Heimat zurückbringen können, von denen die ganze Menschheit Nutzen ziehen wird.
Das gleiche gilt für die zahlreichen nationalen und ethnischen Gruppen, die hier vertreten sind. Wir sind Abgesandte des einundzwanzigsten Jahrhunderts in die Zukunft. In den kommenden siebzig und mehr Jahren werden die Menschen daheim wissen, daß wir hier oben sind und zum Wohle der Menschheit zusammenarbeiten.«
Cruz ließ die Worte in das kollektive Bewußtsein eindringen. Saul bemerkte, daß viele der Anwesenden wie in plötzlichem Unbehagen auf ihre Füße blickten, als fühlten sie sich dieses Vertrauens nicht ganz würdig.
»Natürlich gibt es auch die angenehme Seite«, sagte Cruz lächelnd und rieb sich die Hände. »Wir sind hier herausgekommen, um eine Menge technisches Spielzeug zu erproben. Die Umlenkung von Kometen in zugängliche Bahnen mag die Tür zum Raum öffnen. Und die Aussicht auf neuen Wohlstand, die sich der Menschheit nach den Schwierigkeiten und Fehlern der Vergangenheit bietet, wird in Zukunft besser abgesichert sein.
Und wenn es uns gelingt, aller Welt vorzuführen, daß Kühlfächer mehr als siebzig Jahre nicht nur arbeitsfähig bleiben, sondern ihren Zweck zur vollsten Zufriedenheit erfüllen können – und alle uns zugänglichen Daten weisen darauf hin, daß sie es tun werden –, werden wir den Beweis geführt haben, daß die Menschheit nicht in das Sonnensystem eingesperrt bleiben muß. Der Weg zu den Sternen wird uns offenstehen.«
Die Worte hingen in der kalten Luft, in der man nun das Summen der Ventilatoren hörte.
Und Saul sah in vielen Gesichtern gläubige Zuversicht. Carl Osborn schob in heroischer Entschlossenheit, das von seinem Kapitän gesteckte Ziel zu erreichen, den Unterkiefer vor. Nun, vielleicht war es auch nur Hartnäckigkeit, dachte Saul ironisch. Wenn Carl Schach spielte, geschah es mit einer methodischen Zähigkeit, die bis zum bitteren Ende keine Niederlage eingestand. Aber nein, dachte Saul, als ihm der Glanz in den Augen des jungen Mannes auffiel, er glaubte an diesen Traum.
Das Gefühl wurde offenbar von vielen geteilt. Es drückte die Leidenschaft jener aus, die sich nach der dritten Ebene sehnten, der Trittleiter zum Himmel.
Immerhin gab es auch andere. Sie verhielten sich still, aber man konnte die Zeichen lesen. Schließlich waren die Mitglieder dieser Expedition nicht ausschließlich aus den Reihen realitätsfremder Idealisten rekrutiert worden. Für nicht wenige, zu denen auch Saul sich zählte, war es eine mehr oder weniger unfreiwillige Entscheidung gewesen.
Marguerite van Zoon, zum Beispiel, die neben Akio Matsudo am Eingang zum F-Stollen stand, wo die neue Krankenstation untergebracht war. Das französische Imperium hatte ihr die Möglichkeit gegeben, sich entweder ›freiwillig‹ zu dieser Expedition zu melden oder mit ihrer ganzen Familie wegen staatsfeindlicher Betätigung in ein Internierungslager zu gehen. Saul hatte zuletzt gehört, daß ihr Mann sich, sobald die Kinder herangewachsen wären, in ein Kühlfach legen wollte, um schlafend ihre Rückkehr abzuwarten. Vielleicht war es ein kleiner Trost für sie.
Ein weiteres Beispiel war Korvettenkapitän Suleiman Ould-Harrad. Verwandtschaftliche Bande zu den Mächtigen hatten ihm eine leitende Funktion in dieser Expedition gesichert und den Aufenthalt in einem mauretanischen Gefängnis erspart. Aber Ould-Harrad schien über diese Wendung der Dinge alles andere als glücklich zu sein. Er stand auf der rechten Seite bei Joao Quiverian und anderen Leuten aus den äquatorialen Ländern des sogenannten Sonnenkreises.
Percelle und Orthos, Menschen aus den Industriestaaten und solche aus der Dritten Welt, Liberale, Gemäßigte und sogar ein paar Fanatiker; Saul war überzeugt, daß es unter denen, die noch im Kälteschlaf lagen, ziemlich gleich aussah. Cruz und Oakes waren Führergestalten, Integrationsfiguren, die das Beste aus den Leuten herausholen konnten, aber nicht einmal sie konnten erwarten, daß diese lange Reise ganz ohne Schwierigkeiten und Reibungen verlaufen würde.
Wo immer Menschen zusammenlebten, gab es Reibungen. Und Exil war nicht das gleiche wie Flucht.
Kapitän Cruz hatte die Ansprache in seinem munteren Ton fortgesetzt und zu Ende gebracht.
»Und nun habe ich für Sie alle eine Überraschung. Hoffnungen, daß es auf dieser Reise große wissenschaftliche Fortschritte geben werde, haben sicherlich viele von uns gehegt, aber wer mag erwartet haben, daß wir innerhalb von Wochen nach unserer Ankunft schon ein neues Kapitel menschlichen Entdeckergeistes schreiben würden?«
Eine Bewegung ging durch die versammelten Zuhörer. Leute sahen einander verdutzt an, zuckten die Achseln und verrieten damit, daß das Geheimnis in den drei letzten Tagen hektischer Erprobungen, Experimente und Nachprüfungen gewahrt worden war.
Saul zog das Taschentuch hervor und schneuzte sich leise die Nase. Es mochte einstweilen die letzte Gelegenheit sein.
Cruz blickte lächelnd über seine Zuhörer hin und kostete die Spannung aus. Dann hob er die Hände, und es wurde wieder still.
»Ich will Sie nicht länger auf die Folter spannen oder jemandem den Platz im Rampenlicht wegnehmen…«
Saul wäre ihm nicht böse gewesen, wenn er es getan hätte. Er hatte Cruz sogar gebeten, auf diesen Rummel zu verzichten.
»… also will ich nun den Mann zu mir aufs Podium rufen, der diese epochale Entdeckung gemacht hat und auf dessen Namen man überall, wo Menschen sind, Hochrufe und Trinksprüche ausbringen wird, ehe die Woche um ist. Kommen Sie hier herauf, Saul Lintz, und erzählen Sie uns, was Sie gefunden haben!«
O Gott!
Zu vereinzeltem Applaus stieß sich Saul von der Lattenkiste ab. Nach dem ersten Stolpern trieb er sekundenlang in geringer Höhe über dem Boden dahin und mußte es ertragen, daß andere, die in annähernder Schwerelosigkeit geübter waren als er, ihn von Hand zu Hand weiterreichten.
Unterwegs sah er, daß der Applaus hauptsächlich von bestimmten Gruppen kam – Matsudo und Malenkow, die ihm bei den Analysen geholfen hatten, von anderen Mitgliedern der medizinisch-biologischen Abteilungen, von einigen Percellen, von einzelnen Hawaiianern…
Andere aber, vornehmlich unter den Kontingenten der Afrikaner, Araber, Asiaten und Lateinamerikaner, ließen die Hände sinken und blickten teilnahmslos, wenn nicht gar enttäuscht. Wie er selbst, konnten auch sie nicht vergessen.
Jemand setzte beide Hände an seinen verlängerten Rücken und stieß kräftig schräg aufwärts. Er segelte ohne die geringste Neigung, sich um die eigene Achse zu drehen, in einem sanften Bogen auf das Podium und landete unmittelbar neben Dr. Bethany Oakes. Gut gezielt, dachte er, als die matronenhafte Frau ihn festhielt und zum Publikum umdrehte.
»Denken Sie sich nichts dabei, Saul«, sagte Cruz mit halblauter Stimme. »Sie werden sich schon noch daran gewöhnen. Ihr Problem ist, daß Sie zuviel Zeit in dem verdammten Gravitationsrad verbracht haben.«
Saul zuckte die Achseln. »Manche von uns sind zu alt, um sich noch zu ändern, Kapitän.«
Cruz lachte und übergab ihm mit einer einladenden Geste den Platz des Redners. Saul schob vorsichtig einen Fuß vor und zog den anderen nach. Dann blickte er über die Versammlung hin.
»Ah, sicherlich werden Sie sich alle erinnern…«
»Lauter, Saul!« rief eine stark akzentbehaftete Stimme aus dem Hintergrund des Saales. »Sie brauchen nicht zu flüstern, um uns zu beweisen, daß Sie kein Schreihals sind!«
Köpfe wandten sich erschrocken um, einige Zuhörer lachten. Saul hatte Malenkows Stimme erkannt und sah ihn vom rückwärtigen Teil der Kaverne winken. Der Mann hatte das Taktgefühl eines Unwetters, aber Saul lächelte.
»Verzeihung, ich werde versuchen, lauter zu sprechen.
Ich war im Begriff zu sagen, daß Sie alle sich der unglaublichen Menge organischer Verbindungen erinnern werden, welche die Expedition zum Kometen Encke vorfand, während sie die für diese gegenwärtige Mission erforderlichen Techniken erprobte. Viele dieser Verbindungen waren bis dahin völlig unbekannt und führten zu revolutionären Neuerungen im Bereich der Industriechemie.
Tatsächlich ist es eines unserer Ziele hier, festzustellen, ob die Natur womöglich weitere wertvolle Polymere und Agglutinaten für uns zusammengekocht hat, die vielleicht ebenso nützlich sein werden wie Enkon und andere es inzwischen geworden sind.«
Joao Quiverian, der ganz vorn zu Füßen des Podiums stand, runzelte die Stirn. Er hatte jene Verbindungen auf der Expedition zum Kometen Encke entdeckt, also kam in gewisser Weise ihm das Verdienst an dieser zusätzlichen Motivation zur Erforschung und ›Ausbeutung‹ von Kometen zu.
»Aber eine der aufregendsten Entdeckungen auf Encke war, daß der Kern dieses alten, nahezu ausgegasten und im Zerfall begriffenen Kometen eine Vielzahl von Chemikalien enthielt, die man am besten ›präbiotisch‹ nennen sollte – Ansammlungen von Purinen, Pyrimidinen, Phosphaten und Aminosäuren, die in ihrer Mischung mit jener ›Ursuppe‹, welche nach dem Kenntnisstand der modernen Biologie zur Entstehung des Lebens auf der Erde führte, nahezu identisch waren. Als wir diese Reise antraten, hofften wir durch das Studium eines größeren und jüngeren Kometen Aufschluß darüber zu erhalten, wie die Verhältnisse auf unserer Heimatwelt vor vier Milliarden Jahren waren, als alles anfing.«
Saul räusperte sich und hoffte, das Kratzen in seiner Kehle sei allgemeiner Heiserkeit und der Aufregung zuzuschreiben. Zehn oder fünfzehn Reihen entfernt, unter den farbenfrohen Hawaiianern, sah er Virginia Herberts lächelndes Gesicht. Die Bewunderung in ihren Augen war angenehm, wenn auch ein wenig verwirrend.
Langsam, alter Junge, sagte er sich. Bilde dir nicht mehr ein als da ist! Sicherlich sieht sie dich als eine Art Ersatzvater.
»Nun«, fuhr er fort, »Dr. Malenkow, Dr. Quiverian und ich haben einen der letzten Bohrkerne untersucht, die von Dr. Sergejow gewonnen worden sind…«
»Seien Sie nicht so bescheiden, Saul!« unterbrach ihn Malenkow abermals. »Sie waren es, Sie haben die Schuld!«
Diesmal lachten und applaudierten die Leute wenigstens. Saul lächelte und dankte Nikolai im stillen. Und er fragte sich, ob die Wahl des Wortes ›Schuld‹ sich nicht eines Tages als die richtige erweisen möchte. Betrachtete man das Schicksal Simon Percells, dessen Name neben denen eines Galen und eines Paracelsus in die Geschichte hätte eingehen müssen, so blieb nur der Rückgriff auf die alte Erkenntnis, daß der Ruhm ein wetterwendischer Geselle war.
»… Ah, nun, mit der Hilfe der erwähnten Herren gelang mir die Isolierung eines…«
Er stockte wieder. Wie sollte er es bezeichnen? Und was würde Miriam denken, könnte sie ihn hier stehen und stammeln sehen, wo er die Gelegenheit hatte, eine Erklärung von solcher Bedeutung abzugeben? Saul richtete sich auf, wobei er um ein Haar den Boden unter den Füßen verloren hätte, blickte über das Publikum hin und entlieh eine von Miguel Cruzs Gesten, indem er die Hände ausbreitete.
»Die Zeichen sind eindeutig, die Muster unscheinbar. Keine Verunreinigung könnte erklären, was wir gefunden haben. Eine Woche lang haben wir gearbeitet, um Gewißheit zu erhaften, daß es nichts ist, was wir von daheim mitgebracht haben.
Wie es hierher gekommen ist, entzieht sich vorläufig unserer Kenntnis. Auch haben wir keinen Hinweis, wie es überlebte oder sich entwickelte. Aber was wir heute wissen, ist, daß wir allem Anschein nach auf ein Phänomen gestoßen sind, dem die Menschheit nachgejagt ist, seit unsere ersten Entdecker vor annähernd einem Jahrhundert einen anderen Himmelskörper betraten.«
Er lächelte, mochten sie davon halten, was sie wollten.
»Zum ersten Mal, meine Damen und Herren – zum ersten Mal haben wir eindeutige Zeichen von Leben außerhalb der Erde gefunden.«