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Zuerst spürte sie das Hämmern im Kopf, scharfe, stechende Stöße hinter den Augäpfeln, ein dumpfer, pochender Schmerz in den Rippen. Der Schmerz war so stark, daß sie kaum etwas anderes wahrnahm. Aber das durfte sie nicht zulassen, weil sie leben wollte. Sie konzentrierte sich auf ihre anderen Sinne, zwang sich dazu. Die Vibration des Motors ließ ihren bewegungsunfähigen Körper auf und ab rucken. Nur ein paar Millimeter, aber das reichte, um ihr Stromstöße durch die Wirbelsäule zu jagen. Sie hatte das Gefühl, von innen aufgefressen zu werden, Sehne um Sehne, Knochen um Knochen.

Konzentrier dich!

Allmählich nahm sie auch andere Reize wahr: ihre Hände waren aneinandergefesselt, die Fußknöchel fest verschnürt. Die strammen Stricke schürften ihr die Haut auf und schnitten ihr ins Fleisch. In ihrem Mund steckte etwas Dickes, das leicht medizinisch schmeckte. Ihre Ohren registrierten Hintergrundgeräusche: vorbeizischende Autos, gelegentliches Hupen, die Sirenen eines Krankenwagens. Das Auto, in dem sie sich befand, fuhr schnell, bremste nicht, bog auch nicht scharf ab. Wahrscheinlich waren sie auf dem Freeway. Cindys Augen waren offen, nur gab es nichts zu sehen, bloß Schatten und Dunkelheit. Ein Teil von ihr wollte sich nicht erinnern, wie es zu diesem Verhängnis gekommen war. Aber sie erinnerte sich.

Cindy wußte genau, was passiert war. Nach ihrem vergeblichen Fluchtversuch war sie ohnmächtig geworden. Da mußte er sie gefesselt und geknebelt haben. Überwältigt worden zu sein, war ein schreckliches Gefühl. Sie hatte alles getan, was sie konnte, aber es hatte nicht gereicht.

Ihr Trost war, daß sie immer noch lebte. Wenn er von Anfang an vorgehabt hätte, sie umzubringen, hätte er das längst tun können. Offenbar hatte er noch andere Dinge für sie auf Lager. Unerfreuliche Dinge ...

Der chemische Geruch stieg ihr in die Nase, machte sie duselig, vernebelte ihr aber den Kopf nicht ganz und gar. Sie konnte noch denken. Und wenn sie hier rauskommen wollte, mußte sie nachdenken.

Aus dem Autoradio erklang Countrymusik. Eine Frau sang von der Suche nach Liebe. Der Text und das beschwingte Tempo schienen sich über Cindys erbärmlichen Zustand lustig zu machen. Noch vor einer Woche hatte sie ihr mangelndes Liebesleben für ein unüberwindliches Problem gehalten. Dann war sie, erst vor wenigen Tagen, verfolgt worden und jemand hatte ihre Wohnung verwüstet. Sie hatte gedacht, daß es schlimmer nicht mehr werden könnte. Tja, das war ein Irrtum.

Was würde sie nicht dafür geben, sich über dämliche Sachen aufzuregen wie ihr Liebesleben oder blöde Kollegen oder unbezahlte Rechnungen oder ihr klappriges altes Auto. Wenn Gott ihr doch nur einen weiteren Tag schenken würde, an dem sie sich über ihre lästige Mutter oder ihren überbesorgten Vater ärgern konnte. Nur einen Tag, um zu telefonieren, ein Sandwich zu essen, ihre Uniform anzuziehen oder aufs Klo zu gehen.

Ohne es wahrzunehmen, liefen ihr die Tränen über die Wangen, wurden vom Stoffknebel aufgesogen. Inzwischen spürte sie auch den Knebel, der ihr die Lippen auseinanderzwängte und hinter ihrem Kopf zusammengebunden war. Sie war ihrem Entführer dankbar, daß er ihr nicht das Gesicht verklebt hatte und sie ohne Schwierigkeiten atmen konnte. Und noch etwas machte sie dankbar: ihre Hände waren mit einem Strick gefesselt, nicht mit Handschellen. Das überraschte sie. Sie hätte ihn für einen Handschellenmann gehalten.

Was sie auf den Gedanken brachte, daß er ihr vielleicht ... nicht allzusehr weh tun wollte. Aber das konnte Wunschdenken sein. Doch er hatte sie nicht umgebracht, als er die Möglichkeit dazu hatte. Und er mußte viele Möglichkeiten gehabt haben, denn sie konnte sich nicht daran erinnern, daß er sie gefesselt hatte ... »Bist du wach, Decker?«

Seine Stimme drang in ihr Bewußtsein, machte sie augenblicklich hellwach. Sie hätte die Zeit nutzen sollen, um Pläne zu schmieden. Statt dessen hatte sie frei assoziiert — toll, wenn sie in Therapie gewesen wäre, aber mehr als schlecht, weil sie entführt worden war und womöglich gefoltert werden würde.

»Ich weiß, daß du wach bist. Ich hör's an deinem Atem. Komm schon Officer Decker. Gib mir ein Lebenszeichen. Ein Grunzen reicht.«

Sie hätte grunzen, hätte ihm irgendein Zeichen geben können. Vielleicht hätte sie das tun sollen.

Ihn ermutigen und zum Reden bringen sollen. Doch sie sagte nichts, tat nichts.

Er wartete. Sie blieb ganz starr, aus Angst, aus Trotz.

»Ich weiß verdammt gut, daß du mich hören kannst, Decker.

Ich will dir was sagen, Officer. Du bist nicht in der Position zu bluffen, also hör auf mit dem Scheiß und antworte mir.«

Wenn sie ihm kein Zeichen gab, tat er ihr wahrscheinlich weh. Er war es gewöhnt, Befehle zu erteilen, denen man gehorchte. Jetzt zahlte sie den Preis dafür, seine absolute Autorität in Frage gestellt zu haben. Als sie nicht reagierte, drehte er sich prompt um und gab ihr eine Ohrfeige. Nicht mal eine feste. Aber weil alles wund war, vermutlich von den Schlägen, die er ihr bereits gegeben hatte, brannte ihr Gesicht wie Feuer. Am liebsten wäre sie wieder ohnmächtig geworden. Statt dessen stöhnte sie.

»Das war doch nicht so schlimm, Decker. Nur ein liebevolles Tätscheln! Reiß dich zusammen!« Dann: »Weißt du was, Decker? Bei deinem Verstand und deinen Verbindungen hättest du es spielend schaffen können, wenn du die Dinge richtig angepackt hättest. Du weißt, was ich meine? Aber du hast ein Problem, Decker. Du mußt dich immer vordrängen. War schlimm genug, daß du dein vorlautes Mundwerk nicht halten konntest und mich blamieren mußtest. Aber als du dann Scheiße gefressen hast, dachte ich, ich könnte ... die Zügel ein bißchen lockerlassen.« Wie gnädig, dachte Cindy. Selbst in Gedanken konnte sie ihren Sarkasmus nicht unterdrücken. Er fuhr fort: »Weil du mich, falls du die goldene Dienstmarke bekämst — oder eher, wenn du sie bekämst — nicht für ein totales Arschloch halten würdest. Kapierst du, was ich sagen will?« Cindy hatte kapiert. Absolut. Sie hatte seinetwegen Scheiße gefressen, und er war bereit gewesen, ihr zu vergeben. Aber was hatte sie falsch gemacht? Hatte ihm das noch nicht gereicht? Was verlangte der Drecksack denn noch? Hätte sie ihm in der Asservatenkammer einen blasen sollen? »Jep, du hast mich echt für dumm verkauft. Ich dachte wirklich, du würdest mir in den Arsch kriechen. Aber ich bin eben dumm und ungebildet. Ich hab nicht gemerkt, daß du mich ausgetrickst hast, dich bei mir eingeschleimt hast und mich gleichzeitig leimen wolltest. Das war wirklich beschissen, Cindy. Macht mich total sauer. Dafür wirst du bezahlten. Und nicht zu knapp. Ich sag dir das, damit du das alles verstehst.«

Aber Cindy verstand überhaupt nichts. Was hatte sie getan, um ihm den Eindruck zu geben, daß sie ihn leimen wollte?

Er schnalzte strafend mit der Zunge. »Du konntest ja keine Ruhe geben und einfach nur mitspielen. Mußtest deine Nase in Sachen stecken, die dich nichts angehen.«

Wovon zum Teufel redete er bloß? Sie hatte nicht gegen ihn intrigiert ... hatte nichts getan, was auch nur im entferntesten mißverstanden werden konnte ...

»Was wolltest du damit beweisen, daß du da runtergefahren bist, hä?«

Wo runter gefahren?

»Wolltest Daddy anschmieren wie du mich angeschmiert hast?« Anschmieren, dachte Cindy. »Damit angeben, daß du besser bist als Daddy, was? Daß du seine Fälle lösen kannst. Gehst du so mit Vorgesetzten um? Weißt du was, Decker? Daddy hätte dir schon längst den Arsch versohlen sollen. Dann würdest du jetzt nicht in diesem Schlamassel stecken, weil du wüßtest, was sich gehört, statt so verdammt neugierig zu sein! Ich hab versucht, dich zu warnen. Hab dir Notizen geschickt. Hab dich durch die Gegend gejagt. Hab dir Zeichen gegeben — kleine und große. Hat alles nichts genützt. Jetzt hast du's rausgefunden, und das hast du nun davon!« Cindy grunzte.

»Ich versteh kein Wort«, knurrte er.

Dann nimm mir den Knebel ab! Sekunden später wurde ihr Wunsch erfüllt. Mit einer schnellen, groben Bewegung riß er den Knebel runter, bis das Ding ihr wie ein Tuch um den Hals hing. Er hatte so fest daran gezerrt, daß sie befürchtete, gleich noch ein paar Zähne verloren zu haben. »Ich hab keine Ahnung, wovon Sie reden, Sir.«

Es überraschte sie nicht, daß nur Genuschel rauskam. Mund und Lippen waren geschwollen. Erstaunlich, daß er sie verstand. Zumindest glaubte sie das, weil er lachte. Ein häßliches, tiefes Lachen wie das eines Hexenmeisters, wenn es die überhaupt gab. Und vielleicht gab es sie, denn das hier erinnerte sie verdammt an Wells' Vision von der Hölle.

»Bei deiner tollen Schulbildung und dem geschwollenen Gerede, das du sonst von dir gibst, hätte ich dich nicht für so blöd gehalten«, sagte er.

»Aber ich weiß wirklich nicht ... « Sie hielt inne. Wenn das so weiterging, hatten sie sich bald festgefahren. Sie würde dies sagen, er das. Benutz deine tolle Schulbildung!

Sie dachte an ihre Psychologievorlesungen, besonders an Milton Erickson und die Kunst des Unerwarteten. »Danke, daß Sie mir den Knebel abgenommen haben.«

Schweigen.

»Wonach riecht es hier?« fuhr Cindy fort, wehrte sich verzweifelt gegen die Wirkung des einschläfernden Knebels. »Ist das Chloroform? Wo um alles in der Welt haben Sie das her? In Krankenhäusern wird es längst nicht mehr benutzt. Muß Sie ganz schön Mühe gekostet haben, welches aufzutreiben. Aber andererseits halte ich Sie auch für einen sehr einfallsreichen Mann.«

»Woher willst du das wissen?«

»Ich hab einiges auf dem Kasten, erinnern Sie sich?« Erneutes Schweigen.

Sie versuchte es noch mal. »Kann ich was sagen, ohne daß Sie gleich sauer werden?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Kann ich's probieren?«

»Kann ich dich daran hindern?«

»Sie könnten mich wieder knebeln. Inzwischen wissen wir beide, daß Sie mich vollkommen in der Hand haben.«

Er antwortete nicht. Cindy wertete das als Zeichen fortzufahren. »Sie glauben, daß ich Sie reinlegen wollte, Sir. Sagen Sie mir bitte, wie.«

»Red keinen Scheiß!« Er hieb mit solchen Wucht auf das Armaturenbrett, daß ihr schmerzender Körper zusammenzuckte. Jetzt keuchte er ... lauter als sie. »Lüg mich nicht an, verdammt. Was bildest du dir eigentlich ein, Decker? Wir wissen beide ganz genau, warum du nach Belfleur gefahren bist!«

Sie öffnete den Mund, klappte ihn wieder zu. Ihre Gedanken überschlugen sich. Belfleur, Belfleur ... was hatte er mit Belfleur zu tun? Und dann traf es sie wie ein Schlag ins Gesicht.

Sie hatte sich derart auf Bederman konzentriert, war so überzeugt von seiner Schuld gewesen, daß sie den Rest der Liste gar nicht erst überprüft hatte! Hätte sie das getan, wäre sie zweifellos auch auf seinen Namen gestoßen - und vielleicht noch auf andere. Auf der Liste konnten jede Menge Polizisten stehen. Eigentlich glaubte sie nicht an Konspiratonstheorien, aber im Moment konnte sie an nichts anderes denken. Sie alle! Alle waren sie hinter ihr her, weil sie dachten, sie wisse etwas. Sie wußte tatsächlich etwas. Sie wußte, daß sie mit Craytons Tod zu tun hatten ... und der Entführung von Bartholomews Frau ... und dem Überfall auf Stacy Mills. Cindy wußte etwas, aber sie wußte nicht alles. Gewiß nicht genug, um dafür zu sterben. Aber das wußte er nicht. Er dachte, sie hätte sich das alles zusammengereimt. Er hatte ihre Fähigkeiten überschätzt, so wie sie ihn unterschätzt hatte.

Decker wartete nicht, bis Oliver den Motor abstellte. Scott hatte kaum hinter Cindys Auto gehalten, da sprang Decker schon raus.

Gott segne Hayley Marx und ihr Ortungsgerät, dachte er. Zumindest vorläufig, weil Decker ihr immer noch nicht ganz traute. Er sprintete zur Beifahrertür des Saturn, aber sie war verriegelt. Die Fahrertür war zwar zu, jedoch nicht verschlossen. Er riß sie auf, schaute hinein.

Cindy war nicht da.

Decker öffnete den Kofferraum.

Da war sie auch nicht.

Was ihn gleichzeitig mit Erleichterung und Entsetzen erfüllte. Er hatte keine Leiche gefunden — danke, danke, Gott — aber Cindy war verschwunden. Die Ungewißheit trieb ihn zu hektischer Aktivität. Er durchwühlte ihre Handtasche, fand ihre Waffe und den Geldbeutel. Scheine und Kleingeld. Lippenstift, Kugelschreiber, Kreditkartenquittungen. Decker steckte sie ein. Wo war Cindys Brieftasche mit Ausweis und Dienstmarke? Marge berührte seine Schulter, und er zuckte zusammen.

»Entschuldige«, sagte sie. »Ich wollte dich nicht ... «

»Ihre Waffe ist hier.« Decker drehte sich um, atmete schwer. »Sie hatte nicht mal die Chance, ihre Waffe zu ziehen!«

»Wir finden Sie, Peter.«

»Sag mir wie!« Decker wischte sich über die feuchten Wangen. »Sag mir wie«

Oliver war zu ihnen getreten. »Vielleicht ist sie aus dem Auto gesprungen und hatte keine Zeit, ihre Waffe mitzunehmen.«

»Sie hätte sie mitgenommen.« Decket stieg aus, lief unruhig auf und ab. »Sie hätte ganz automatisch danach gegriffen. Der Kerl hat sie hinter dem Steuer vorgezerrt ... «

»Die Fahrertür war aber zu«, warf Oliver ein. »Was?«

»Wenn du jemanden hinter dem Steuer vorzerrst, packst du ihn um den Hals und schleifst ihn zu deinem Auto. Du nimmst dir nicht die Zeit, die Tür zu schließen.«

»Die stößt du mit dem verdammten Fuß zu!« knurrte Decker.

Marge flüsterte Oliver fast unhörbar »Halt die Klappe« zu und rieb sich die Stirn. »Peter, wir müssen das als Tatort melden.«

»Dann mach das!«

Marge gab die Meldung durch, griff nach der Taschenlampe. »Ich geh die Böschung runter. Seh zu, ob ich was finden kann.«

Eine beunruhigende Bemerkung, weil alle wußten, was sie meinte. Oliver hätte mit Marge gehen und ihr helfen sollen. Aber der Gedanke, daß Cindy vielleicht tot dort unten lag, war ihm unerträglich. Das Bild würde ihn für immer verfolgen. Er verfluchte seinen Egoismus und seine Schwäche, konnte sich aber nicht dagegen wehren. Oliver warf einen Blick zu Decker, der haltsuchend am Saturn lehnte, das Gesicht mit der Hand bedeckt.

»Ich bleib wohl besser hier.« Mit einem Kopfrucken deutete er auf Decker.

»Ja, okay.« Marge machte ein paar Schritte, stolperte. Sie zwang sich, nicht zu weinen, bevor sie außer Sichtweite war. Erst an der Böschung fing sie leise an zu weinen, wischte sich die Tränen ab, begann ihre Suche nach dem, was sie nicht zu finden hoffte.

Oliver legte Decker die Hand auf die Schulter. Der drehte sich um und starrte ihn mit glasigem Blick an. »Warum hat sie ihre Waffe nicht mitgenommen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Das ergibt keinen Sinn!« Decker schluckte die Tränen. »Sie hat ihre Dienstmarke mitgenommen, aber nicht die Waffe.«

»Ihre Dienstmarke? «

»Ja. Zumindest ist sie nicht in ihrer Tasche. Das ergibt keinen Sinn.«

»Nichts ergibt hier Sinn, weil wir nicht wissen, was passiert ist.«

»Vielen Dank für diese prägnante Erklärung!« Decker stapfte davon, tigerte wieder auf und ab. Oliver beobachtete ihn wie betäubt, versuchte, das lähmende Gefühl abzuschütteln. Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen, beugte sich hinunter, um Cindys Auto zu durchsuchen. Es roch nach ihr, und das machte ihn verrückt. Aber dann merkte er, daß der Wagen nur nach ihr roch. Der Täter hatte sie nicht rausgezerrt. Sie war freiwillig ausgestiegen.

Oliver zwang sich zur Konzentration. Er durchwühlte Cindys Handtasche. Decker hatte recht. Cindys Waffe lag am Boden der Tasche. Genau wie ihr Geldbeutel. Und wo war die Brieftasche mit Ausweis und Dienstmarke? Vielleicht war sie rausgefallen. Cindys Tasche war mehr ein Beutel, ohne Reißverschluß, so daß leicht etwas rausfallen konnte. Oliver durchsuchte das Auto ... unter den Fußmatten und Sitzpolstern, zwischen den Sitzen und der Konsole, das Handschuhfach und die Innenfächer der Türen.

Nichts.

In der Ferne heulten Sirenen auf. Bald würde es hier vor Cops wimmeln. Sie würden sie finden, wenn sie noch in der Nähe war.

Ohne nachzudenken, wanderte seine Hand zum Zündschloß, um den Motor zu starten, zu überprüfen, ob er lief. Aber im Schloß steckte kein Schlüssel.

Auch in ihrer Handtasche hatte er keine Schlüssel gefunden. Er durchsuchte sie noch mal.

Keine Dienstmarke und kein Schlüssel.

Oliver wartete einen Moment, stieg aus, ging um das Auto herum, den Strahl der Taschenlampe auf den Boden gerichtet. Vielleicht hatte sie den Schlüssel fallen lassen. Aber er fand nichts. Keinen Schlüssel, keine Brieftasche, nicht mal Fußabdrücke, zumindest nicht bei diesem Licht. Nichts, das auf etwas Unheilvolles hindeutete. Er ging einige Meter vom Auto weg und beleuchtete den Boden. Reifenspuren, die nicht bis zu Cindys Saturn führten. Spuren anderer Reifen, aber das mußte nichts bedeuten. Reifenspuren auf dem Randstreifen des Freeway waren ganz normal. Hier hielten Autos an, wenn sie eine Panne hatten. Aber die hier wirkten frisch, als hätte das Auto ... »Hast du was gefunden?«

Oliver schreckte zusammen. »Du hast dich an mich rangeschlichen.« Er betrachtete seinen Boß.

Decker wirkte, als sei er durch die Hölle gegangen. Oliver ließ den Strahl seiner Taschenlampe über den Boden wandern. »Sieh dir das an.«

»Reifenspuren?«

»Frische?«

»Der Kerl hat hinter ihr angehalten«, sagte Decker. »Sah, daß ihr der Wagen verreckt war, und hat sie aus dem Auto gezerrt.«

Oliver zögerte. »Cindy trägt meistens Turnschuhe, oder?«

Decker antwortete nicht, weil er wußte, worauf Oliver hinauswollte. Ihre Schuhe hatten keine Schleifspuren hinterlassen.

»Weißt du, was sonst noch in ihrer Tasche fehlt?« fragte Oliver. »Die Schlüssel.« Decker sah ihn an.

»Wenn du mich fragst«, fuhr Oliver fort, »ich glaube, sie ist freiwillig ausgestiegen, hat Dienstmarke und Schlüssel mitgenommen und ist zu jemandem gegangen. Vielleicht sehen wir das alles falsch. Könnte doch sein, daß jemand auf dem Randstreifen stand, sie ihm helfen wollte und er sich als Psychopath herausstellte ... «

»Sie ist verfolgt worden. Wenn sie sich schon die Mühe gemacht hat, Dienstmarke und Schlüssel mitzunehmen, dann hätte sie auch ihre Waffe mitgenommen, Scott. Sie hätte bestimmt ihre Waffe mitgenommen.« Beide schwiegen.

»Aber sie nahm ihre Schlüssel mit.« Decker dachte laut. »Sie ist ausgestiegen und hat die Schlüssel mitgenommen, damit sie sich nicht versehentlich ausschließt ... sie nahm die Dienstmarke mit, aber nicht die Waffe ... « Denk nach! Denk nach! Aber es kam nichts.

»Hast du was von Marx gehört?« fragte Decker. »Sie hat Bederman und Tropper immer noch nicht gefunden.«

»Dreckskerle! Ruf sie noch mal an!« blaffte Decker. »Vielleicht lügt sie.«

Oliver zog sein Handy raus und begann zu wählen. Plötzlich schoß Decker ein Gedanke durch den Kopf. Was hatten Bederman und Tropper und Marx und all die anderen gemeinsam? Sie waren Cops.

»Warte mal!« rief Decker. »Was?«

»Wie wär's damit: Ihr Auto ist verreckt, Scott! Es ist verreckt, weil irgendein verdammter Psychopath von ihrem Revier daran rumgefummelt hat. Sie saß also hier auf dem Freeway fest, und plötzlich hält jemand hinter ihr, um ihr zu helfen. Wenn es ein Unbekannter gewesen wäre, hätte sie die Waffe mitgenommen. Aber es war kein Fremder. Es war jemand, vor dem sie keine Angst hatte.«

»Jemand, den sie kennt.«

»Nein, das hätte sie noch mißtrauischer gemacht ... wenn jemand, den sie kennt, sie zufällig mit Motorproblemen hier auf dem Freeway gefunden hätte.« Decker hatte natürlich recht. »Weiter«, sagte Oliver. »Und wenn es ein Streifenwagen war?«

Oliver schlug sich an die Stirn. »Natürlich. Sie sieht, wie ein Polizist hinter ihr hält und weiß, daß sie sich ihm nicht mit gezogener Waffe nähern kann.«

»Und darum hat sie ihre Dienstmarke mitgenommen. Um sich zu identifizieren ... «

»Pete!« rief Marge.

»O Gott!« Deckers Knie gaben nach. Oliver fing ihn auf, bevor er fallen konnte. Marge kam auf sie zugerannt. »Ich hab nichts gefunden ... ich meine, ich hab sie nicht gefunden.« Marge brach in Tränen aus. »Ich meine, ihre Leiche.«

»Was hast du dann gefunden?« fragte Oliver. Die Sirenen wurden lauter.

»Das ganze Gebüsch da unten ist zerdrückt«, antwortete Marge. »Ich glaube, da hat ein Kampf stattgefunden.«

»Blut?« fragte Decker. »Ich hab keins gesehen.«

Aber Decker spürte, daß sie nur die halbe Wahrheit sagte. Ihm wurde schwindelig. »Ich muß mich setzen.«

Marge half ihm auf den Fahrersitz von Cindys Auto. Tränen stiegen ihm in die Augen. Er blinzelte, schaute weg.

»Marge, ruf in Hollywood an«, bat Oliver. »Frag, ob Tropper oder Bederman im Dienst sind. Wenn nicht, krieg raus, ob einer von ihnen mit einem Streifenwagen unterwegs ist oder ob ein Streifenwagen fehlt.«

»Warum?«

Oliver erklärte ihr Deckers Theorie. »Ich mach's sofort.« Marge griff nach dem Handy. »Ruf ... « Decker räusperte sich. »Ruf außerdem die Highway Patrol an.«

»Wieso?«

»Weil ... « Wieder räusperte er sich, atmete tief durch. Er hatte das Gefühl zu ersticken, obwohl die Nachtluft klar und frisch war. »Frag, ob von ihren Streifenwagen einer fehlt.« Marge sah ihn an.

Decker erklärte: »Wenn ich Cindy wäre ... nicht wüßte, wer für mich und wer gegen mich ist ... würde ein normaler Streifenwagen mich mißtrauisch machen. Es könnte Bederman sein ... oder Tropper.« Wieder ein tiefer Atemzug. »Aber ein Wagen von der Highway Patrol ... wenn ich festsäße und einen von denen sehen würde ... war ich sehr froh. Ich würde ohne Waffe aus dem Wagen steigen ... aber mit meiner Dienstmarke ... und sagen ... und sagen >Hey, könnt ihr mir helfen?<«