31

Wieder sah sie in den Rückspiegel. Nach einer Stunde waren von den Autos, die von Beginn an hinter ihr fuhren, nur noch vier übrig geblieben. Die Fahrzeuge fuhren in gleichmäßigem Tempo, hielten aber gebührend Abstand. Außerdem wechselte keines die Fahrbahn, wenn Cindy das tat. Also fühlte sie sich momentan in Sicherheit.

Ihr Magen knurrte. Sie holte einen Apfel aus der Tasche. Dreißig Minuten später aß sie ein paar Trauben.

Sie fuhr jetzt durch freie Landschaft. Zu beiden Seiten erstreckte sich karges Buschland bis zum Rand der Mojavewüste. Sandige Ebenen drängten sich gegen schneebedeckte Berge. Der Übergang geschah abrupt, aus dem flachen, trockenen Boden erhoben sich unverhofft die Vorberge. Aber die Luft war glasklar. Kein Küstennebel, keine Industrieabgase, die ihr die Sicht nahmen. Cindy war erstaunt, daß eine so kleine Gemeinde wie Belfleur tatsächlich eine eigene Ausfahrt hatte. Auf dem Schild wurde das Städtchen als Antiqutätenhauptstadt der Region bezeichnet. Vom Freeway aus entdeckte Cindy auch wirklich einige Antiquitätengeschäfte. Sie wechselte auf die rechte Spur und bog in die Ausfahrt. Erleichtert stellte sie fest, daß ihr keines der anderen Autos folgte. Gleich darauf erreichte sie die Main Street - eine vierspurige, staubige Asphaltstraße parallel zum Freeway. Da es kein Geschäftszentrum zu geben schien, parkte sie einfach irgendwo und stieg aus.

Der Ort wirkte wie eine Geisterstadt. Keine Fußgänger, wenig Anzeichen von Leben. Belfleur war klein, wollte gerne malerisch sein, doch das gelang nicht ganz. Die Läden befanden sich in rasch errichteten, rauh verputzten Häusern, grau gestreift vom Regen oder schlechter Installation. Cindy kam an einem Imbiß, einem Cafe und einem Lebensmittelladen vorbei — alle geschlossen. Auf der anderen Straßenseite sah sie einen Secondhand-Laden, ebenfalls geschlossen, ein Eisenwarengeschäft und einen Spirituosenladen, die geöffnet hatten. Dreißig Meter weiter war nur noch offenes Gelände, von dem aus man die Berge sehen konnte. Dann noch ein Cafe, diesmal geöffnet und gut besucht. Cindy befragte ihren Magen, beschloß, daß sie im Moment eher neugierig als hungrig war. Sie würde sich auf dem Rückweg etwas zu essen holen.

Kurz danach kam sie zu einer ganzen Reihe von Antiquitätengeschäften. Sie betrat eines und stellte fest, daß es eher ein Ramschladen war. Viele alte Bücher und Kleidungsstücke ... stapelweise Geschirr, das wie Urgroßmutters billiges Porzellan aussah. Ein Regal mit rostigen Büchsen für Mehl und Zucker. Ein weiteres Regal mit angeschlagenen Porzellanfiguren Made in Japan. Cindy entdeckte ein paar Stücke aus schillerndem Buntglas, die aber eigentlich viel zu teuer waren. Weil Mom so was sammelte und Cindy den Laden nicht mit leeren Händen verlassen wollte, nahm sie eine Tasse und Untertasse in die Hand und überprüfte sie auf Fehler. Die Sachen waren einwandfrei, und Cindy trug sie zum Ladentisch.

Eine Frau in den Vierzigern stand an der Kasse. Kurzer Haarschnitt, langes Kinn. Blaue Augen, umgeben von winzigen Fältchen, Runzeln und Krähenfüßen. Das Gesicht ungeschminkt, kein Schmuck. Einfache Kleidung — ein kurzärmeliges Hawaiihemd und ausgebeulte Jeans. Cindy reichte ihr Tasse und Untertasse.

»Hübsch«, sagte die Frau und sah auf den Preis. »Ich hätte mehr dafür verlangen sollen. Pech gehabt. Mein Verlust, Ihr Gewinn.«

Cindy nickte und lächelte. »Hübsches Hemd.«

»Danke«, erwiderte die Frau. »Wir haben links einen ganzen Stapel davon. Haben Sie die gesehen?«

»Ah, nein.«

»Soll ich sie Ihnen zeigen?«

»Ja, warum nicht.«

Die Frau kam hinter dem Ladentisch hervor und führte Cindy durch die vollgestellten Gänge. »Die Hemden stammen aus den Fünfzigern und Sechzigern. Hundert Prozent Rayon. Keine Baumwolle. Die aus Baumwolle fallen nicht so gut. Wir haben auch ein paar Bowlinghemden, wenn Sie daran interessiert sind.«

»Ich geh nicht zum Bowling.«

»Macht nichts. Das tun die meisten Kunden auch nicht. Die Hemden sind momentan der letzte Schrei. Sie wissen schon, was jeder haben muß. Was machen Sie beruflich?«

Die Frage überraschte Cindy. »Ich bin Studentin.«

»University of Redlands?«

»Ah, nein, University of California in San Diego.«

»Netter Ort zum Studieren.« Die Frau wühlte einen Kleiderberg durch und zog ein rosa Hemd mit haiwaiianischen Hulatänzerinnen heraus. »Das dürfte Ihre Größe sein.«

»Hübsch.« Das meinte Cindy sogar ehrlich. »Wieviel?«

»Vierzig.«

»Puh! So viel?«

»Wie gesagt, das sind echte Stücke.«

»Wieviel haben die wohl neu gekostet?«

»Fünf, sechs Dollar. Ich geb es Ihnen für dreißig. Das verlange ich auch von Ron Harrison in West Hollywood. Der schlägt dann hundert Prozent drauf.« Sie lächelte. »Ziehen Sie es einfach über Ihre Bluse. Mal sehen, wie es Ihnen steht.«

Cindy schlüpfte in das Hemd. »Ein bißchen groß.«

»Die müssen groß sein.«

»Ich seh ja aus wie eine Gangsterbraut.«

»Die kaufen hier auch manchmal ein.« Wieder lächelte die Frau. »Okay, ich geh auf fünfundzwanzig runter. Ich hab zwanzig dafür bezahlt. Die fünf Dollar werden Sie mir doch wohl gönnen.«

»Sie wollen mich überreden«, stellte Cindy fest. »Ich brauch das Hemd nicht.«

»Brauchen ist was völlig anderes als wollen. Wollen Sie es haben?«

»Eigentlich schon.«

»Dann kaufen Sie es. Sie werden es nicht bereuen.«

Cindy warf die Hände hoch, gab ihr das Hemd zurück. »Sie haben mich überzeugt. Ich nehm es.«

»Das Hemd steht Ihnen. Und wenn Sie Ihre Meinung ändern, bringen Sie es zu Ron Harrison. Sagen Sie ihm, Elaine hätte Sie geschickt.«

»Ich werd's mir merken.«

»Wollen Sie einen Espresso oder einen Cappuccino? Ich hab hinten eine Maschine.«

»Ach, lassen Sie nur ... «

»Ich mach mir selbst einen.«

»Gut, dann nehme ich einen Cappuccino.«

»Kommen Sie mit nach hinten.«

Cindy folgte Elaine in das Hinterzimmer. Die Maschine war zwischen alte Küchengeräte gequetscht, hauptsächlich Eisboxen. »Werden die immer noch benutzt?«

»Nein, die sind nur zur Dekoration, obwohl die meisten funktionieren. Zu uns kommen eine Menge Innenarchitekten aus L.A. auf der Suche nach solchem Zeug.«

»Ehrlich?«

»Ja, ehrlich. Sie klingen überrascht. Warum sollen die in L.A. fünfzig Prozent mehr zahlen, wenn sie bei uns dasselbe billiger kriegen? Wir haben hier ein paar echte Schätze.«

»Wer ist wir?«

»Wie bitte?«

»Sie sagten wir«, erwiderte Cindy. »Gehört Ihnen der Laden?«

»Mir und meiner Freundin.«

»Oh.«

»Wieso >oh<?« meinte Elaine herausfordernd. »Haben Sie was gegen Lesben?«

»Nicht im geringsten.« Cindy suchte nach den richtigen Worten. »Ich hatte nur nicht erwartet, in einem so kleinen Ort welche zu finden.«

»In Belfleur gibt es eine Menge Homos.«

»Tatsächlich?«

»Ja. Hauptsächlich Lesben. Aber auch ein paar ältere Schwule. Wo es Antiquitäten gibt, gibt es Homos. Klischees basieren nicht auf Fiktion.« Elaine nahm eine Milchtüte aus einer alten Eisbox und schäumte die Milch auf. »Wie heißen Sie?«

»Cindy.«

»Und was bringt Sie nach Belfleur, Cindy?«

»Eigentlich bin ich auf der Suche nach Informationen.« Elaine unterbrach das Aufschäumen und sah sie an. »Sie sind keine Studentin.«

»Ich studiere das Leben.«

»Kommen Sie mir nicht mit so was. Was für Informationen suchen Sie?«

Cindy entschloß sich, aufrichtig zu sein. »Vor etwa einem Jahr wurde in Los Angeles ein Mann entführt und ermordet ... «

»Armand Crayton.«

»Sie kannten ihn?«

»Natürlich. Jeder kannte Armand. Der muß ein ganzes Dutzend Hawaiihemden bei mir gekauft haben.« Elaine hielt inne. »Ob die Witwe sie wohl noch hat?«

»Mochten Sie ihn?«

Elaine reichte ihr den Cappuccino. »Was sind Sie? Privatdetektivin?«

»Polizistin. Aber ich kaufe das Hemd und die Tasse trotzdem. Erzählen Sie mir von Armand Crayton.«

»Ein echtes Schlitzohr. Zuersr hat er es mit Anmache versucht. Als ich nicht anbiß, wollte er mit mir Geschäfte machen, was auch nicht funktioniert hat. Aber er muß eine Menge Dummköpfe rumgekriegt haben. Ich weiß aus sicherer Quelle, daß Dutzende bei ihm investiert haben. Die meisten waren nicht von hier.«

»In was investiert? Ein Bauprojekt?«

»Sollte ein Erholungsgebiet mit Eigentumswohnungen und Mietwohnungen werden. Desert Bloom Estates. In Armands Büro stand ein komplettes Modell.«

»Armand hatte hier ein Büro?«

»Eine Zeitlang. Nur wegen der Einheimischen, als Beweis dafür, daß er Pläne hatte, damit wir ihn nicht für einen völligen Bauernfänger hielten. War natürlich reine Augenwischerei, aber das Modell war hübsch. Mit kleinen Häuschen, blauem Cellophan für die Swimmingpools, Bäumchen und Kakteen rundherum. Armand hat Belfleur als ein besseres Palm Springs vermarktet, mit der Wüstenwärme, aber ohne die extreme Hitze. Hier gibt es wechselnde Jahreszeiten, wenn man tiefer nach San Berdoo hineinfährt, wo all die Obstplantagen sind. Da oben ist es richtig bewaldet. Natürlich kann es auch kalt werden. Darum wachsen da Kirschen und Äpfel. Im Winter wird es ordentlich kalt. Sind Sie an den Kirschbäumen vorbeigekommen?«

»Nein.«

»Fahren Sie weiter nach Norden, in die Berge. Dieses Jahr gibt es eine gute Ernte. Kommen Sie im Juni wieder. Wir haben Plantagen zum Selberflücken. Kirschen zu einem Bruchteil dessen, was sie im Supermarkt kosten.«

»Gehört Ihnen auch eine Kirschplantage?«

Elaine lächelte. »Da würde ich ja richtigen Unternehmergeist zeigen. Nein, ich hab leider keine Kirschbäume.«

»Was ist mit Armand? War der an Kirschen interessiert?«

»Nur an den menschlichen, jungfräulichen.« Elaine lachte über ihren Witz.

»Das klingt nach Armand.«

»Kannten Sie ihn gut?«

»Nur flüchtig. Aber man mußte Armand nicht allzu gut kennen, um zu wissen, worauf er aus war.«

»Wie wahr.«

»Armand wollte das Gelände also in ein Wüstenerholungsgebiet verwandeln.«

»Ja, und genau da lag das Problem«, erklärte Elaine. »Für einen Wüstenkurort ist Belfleur nicht heiß genug. Und nicht kalt genug für ein Skigebiet. Als die Leute merkten, daß sie nicht in einen Garten Eden investiert hatten, zogen sie sich zurück. Die meisten Investoren stammten von außerhalb, waren nur darauf aus, schnell Geld zu machen. Das funktioniert nie.«

»Da haben Sie recht«, stimmte Cindy zu. »Wissen Sie, wieviel die Grundstücke ursprünglich gekostet haben?«

Elaine trank ihren Cappuccino, bekam einen Milchbart, den sie mit der Zungenspitze ableckte. »Da sollten Sie besser mit Ray sprechen. Er ist nicht nur ein echter Kavalier alter Schule, sondern hatte auf jeden Fall mehr mit Armand zu tun als ich. Ray ist der örtliche Immobilienmakler.« Elaine deutete zum Eingang des Ladens. »Gehen Sie rechts die Hauptstraße entlang, am Wohnwagenpark und dem großen Einkaufszentrum vorbei, bis Sie fast das Ende von Belfleur erreichen. Sie finden ihn auf der linken Straßenseite.«

»Ist sein Büro heute geöffnet?«

»Sein Büro?« Elaine lächelte. »Klingt komisch ... sein Büro. Auf jeden Fall isr er immer da, außer Sonntagmorgens, da ist et in der Kirche. Ray ist hetero, ein fanatischer Republikaner und dazu Baptist. Aber lassen Sie sich davon nicht abschrecken. Trotz allem ist er ein guter Kerl.« Das »Büro« war ein kleiner Laden mit verschmierten Fenstern. »Ray Harp« stand in Goldbuchstaben auf der Scheibe, darunter »Immobilienmakler«. Cindy öffnete die Glastür und trat ein. Ein Mann lümmelte in einem übergroßen Sessel, die Füße auf einem Kartentisch mit imitierter Holzplatte. Er rauchte eine Zigarre, trug einen weißen Anzug und einen Panamahut, hatte einen weißen Bart. Dazu ein rundes Gesicht, bleiche Haut und sehr dunkle Augen. Er war das Abbild eines ältlichen Plantagenbesitzers oder eines alten, korrupten Richters aus den Südstaaten. Und Cindy lag gar nicht so falsch. Als er sie fragte - ohne sich zu bewegen - ob er ihr helfen könnte, klang das leicht gedehnt. Aber es hörte sich mehr nach Texas an als nach dem tiefen Süden. »Mein Name ist Cindy Decker. Sind Sie Mr. Harp?«

»Nett, Sie kennenzulernen, Cindy Decker.« Der Mann tippte sich an den Hut. »Nein, ich bin nicht Mr. Harp. Ich bin Mr. Harper, wenn Sie es wissen wollen. Das E und R sind schon vor langer Zeit vom Fenster abgekratzt worden. Hab mir nie die Mühe gemacht, die Buchstaben zu ersetzen, weil hier jeder weiß, wer ich bin.«

Cindy nickte und bemühte sich, freundlich zu lächeln, während sie sich umschaute. Der Aktenschrank war uralt; Papier quoll heraus, obwohl er geschlossen war. Der Wasserspender war antik und vermutlich mehr wert als alles, was Elaine in ihrem Laden hatte. »Dann sind Sie also Raymond Harper.«

»Genaugenommen bin ich Elgin Harper. Ray war mein Bruder und ist vor fünfundzwanzig Jahren ausgezogen. Hab mir auch nicht die Mühe gemacht, das zu ändern. Viele nennen mich Ray.« Er lächelte, zeigte braune Zähne, blies einen Rauchring. »Was kann ich für Sie tun, Cindy Decker?«

»Ich hab vor, mir ein Wochenendhaus zu kaufen. Hier soll es billiger sein als in Palm Springs, hab ich gehört.«

Schweigen. Dann sagte Harper: »Sie wollen sich hier einen Zweitwohnsitz kaufen?« Er nahm die Füße vom Kartentisch. »Und was wollen Sie hier mit einem Haus?«

»Ich will einfach nur abschalten.« Cindy spann ihre Geschichte aus. »Vielleicht in die Berge fahren und wandern. Außerdem ist es nicht weit bis Palm Springs, und ich kann in die Stadt fahren, wenn mir mehr nach Trubel ist.«

Harper beäugte sie. »Sind Sie eine Nutte?«

Cindy lachte laut auf. »Nein, Sir, bin ich nicht.«

Harper blieb stumm.

»Ich bin keine Nutte«, wiederholte Cindy. »Ehrlich nicht.«

»Was machen Sie dann?«

»Warum sind Sie so neugierig?« fragte Cindy.

»Weil eine hübsche Lady hier reinspaziert und nach einem Ferienhaus fragt. Eine Lady, die Slacks trägt statt Jeans und einen schicken Pullover, der einen hübschen Busen ahnen läßt, verzeihen Sie meine Impertinenz. Wenn Sie hier Ihr Gewerbe ausüben wollen, hab ich nichts dagegen. Ich kann Sie auch weiterempfehlen. Teufel noch mal, ich bin ein heißblütiger Republikaner, vielleicht komme ich sogar selber zu Ihnen. Aber ich geh immer noch zur Kirche. Das bedeutet, daß ich Ihnen nichts verkaufen kann, weil ich dann Ärger kriege. Wobei wir allerdings nicht übermäßig christlich sind. Haben Sie all die Antiquitätenläden gesehen?«

»Ich war bei Elaine.«

»Sie ist eine von vielen. Himmel, wir haben mehr Queens in unsere Stadt, als es in Europa gibt. Aber wir wollen nicht, daß solche wie Sie Abschaum von draußen hier reinschleppen. Wir haben genug eigenen Abschaum. Wenn Sie Kunden wollen, versuchen Sie es in den Indianerreservaten.«

»Ich bin keine Nutte.«

»Tja, vielleicht nicht. Aber Sie sind nicht ehrlich. Was wollen Sie wirklich?« Cindy sah sich um. »Sie sind schon lange hier, nicht wahr, Ray? Oder sollte ich Elgin sagen?«

»Was immer Sie wollen, Herzchen.« Er lachte, mußte aber husten. »Ja, ja, ich bin schon eine ganze Weile hier. Hey, Sie sind ein Kautionssteller. Wer hat sich diesmal aus dem Staub gemacht, ohne die Kaution zurückzuzahlen?«

»Ich bin kein Kautionssteiler. Nicht mal eine Kautionsstellerin.«

»Na ja, auf jeden Fall sind Sie jemand, der Informationen will. Und Sie haben eine Waffe.« Er deutete auf ihre Handtasche. »Ich seh doch, wie das Ding den Boden ausbeult. Wenn Sie mich ausrauben wollen, gehen Sie lieber wieder. Das einzig Wertvolle hier ist der Wasserspender.« Harper stand auf. Sein Hängebauch fiel über den Gürtel und bedeckte fast das Gekröse. Er stemmte die Hände in die Hüften, trat einen Schritt vor. »Also, was wollen Sie, junge Dame?«

»Okay«, sagte Cindy. »Hier ist mein Angebot: Ich erzähl Ihnen alles, was ich über Armand Crayton weiß, und Sie ergänzen den Rest.«

»Was springt dabei für mich raus, Cindy Decker?«

»Wer weiß? Vielleicht stoßen wir auf seinen Mörder.«

»Und was hab ich davon?«

»Sie mochten Armand nicht?«

»Eigentlich fand ich ihn sogar ganz sympathisch. Abet wenn Sie wissen wollen, wer ihn ermordet hat — da gibt es eine lange Kandidatenliste. Armand hat eine Menge Leute verärgert.«

»Erzählen Sie mir davon«, beharrte Cindy.

Harper blies noch einen Rauchring. »Ich glaube, ich setz mich wieder. Das könnte eine Weile dauernd. Nehmen Sie sich auch einen Stuhl.« Er hielt seine Zigarre hoch. »Stört Sie das?«

»Nein, überhaupt nicht. Ich mag den Geruch billiger Zigarren. Erinnert mich an dunkle Kaschemmen und illegales Glücksspiel.«

»Interessanter Gedanke.« Harper sank auf seinen Sessel und legte die Füße hoch. »Würden Sie uns Kaffee kochen?«

»Kann ich machen.« Sie sah sich um. »Wo ist die Kaffeekanne?«

»Im Klo, neben dem Klopapier.«

»Entzückend.«

»Wir sind hier nicht im Ritz, Herzchen.«

Cindy ging in die Toilette, die zwar klein, aber erstaunlich sauber war. Die Kaffeemaschine stand auf einem Regal, zusammen mit dem Kaffee, den sonstigen Zutaten und drei Bechern. Cindy goß Wasser in die Maschine, wartete darauf, daß der Kaffee durchlief. Derweilen versuchte sie, Fragen zu formulieren. Aber es waren so viele, daß sie aufgab.

»Wie trinken Sie Ihren Kaffee?« rief sie.

»Drei Päckchen Kaffeeweißer und drei Stück Zucker.«

Sie reichte ihm den Becher.

»Daran könnte ich mich gewöhnen«, sagte Harper. »Eine hübsche junge Frau, die mir Kaffee macht.« Kurze Pause. »Irgendeine Frau, die mir Kaffee macht.«

»Ich wette, Sie kommen gut bei den Frauen an.« Cindy zog sich einen Stuhl heran. »Diese Lässigkeit. Darauf fliegen sie doch alle. Also ... « Sie trank einen Schluck Kaffee. »Was können Sie mir über Armand und die Desert Bloom Estates erzählen?«

»Der Gentleman hätte es fast durchgezogen. Ein echtes Meisterstück, Cindy, weil das Land hier wenig zu bieten hat. Aber Armand ging damit um, als hätte König Midas persönlich den Boden geküßt. Mann, konnte der Junge reden. Und er war nett zu den Einheimischen, obwohl alle wußten, daß er nur im eigenen Interesse handelte. Trotzdem, er war sehr höflich. Das muß ich ihm lassen.«

»Wer hat bei ihm investiert?«

»Dummköpfe, würde ich sagen, aber das wäre zu grob. Sie dürfen nicht vergessen, Cindy, daß der Aktienmarkt zur der Zeit blühte, E-Commerce hier und E-Commerce da. Die Leute investierten Geld in Firmen, die noch nie Gewinne gemacht hatten. Vermutlich hat sich Armand gedacht, er könne auf der Welle mitschwimmen. Der Hausbau boomte, und unbebautes Land stand hoch im Kurs — vorausgesetzt, es lag in Silicon Valley oder Seattle. Was ist das erste, was man bei der Maklerausbildung lernt? Grundstückslage, Grundstückslage, Grundstückslage. Tja, in Belfleur gilt ein Taschenrechner als High-Tech. Man braucht kein Genie zu sein, um das rauszufinden. Was soll ich Ihnen sagen? Belfleur hat nie an dem Boom teilgenommen.« Harper drückte sein Zigarre aus und nahm einen Schluck Kaffee.

»Klar, wir hatten hier ein paar Hollywoodtypen mit Pferdeschwanz und zweiter Frau, die sich als Gentleman-Farmer versuchen wollten und Obstplantagen kauften, aber das war's dann auch. Bis Crayton auftauchte. Aber Armand machte keine Geschäfte mit Immobilien. Er machte Geschäfte mit Träumen, verkaufte sie an alle, die bereit waren, ihm zu glauben.«

Er wedelte mit der Hand, deutete ein Spruchband an. »Desert Bloom Estates. Das Erholungsgebiet Ihrer Träume. Swimmingpools und Sauna und Fitneßcenter und Schlammpackungen und Salzbäder. Wellness total. Himmel, ich werd richtig aufgeregt, wenn eine hübsche junge Dame mir Kaffee macht.« Er zwinkerte ihr zu.

»Sie sind schon ganz rot im Gesicht, Mr. Harper. Wie hoch ist Ihr Blutdruck?«

»Keine Ahnung, weil er jede Minute steigt.«

»Passen Sie bloß auf«, riet ihm Cindy. »Meine Wiederbelebungskenntnisse sind ziemlich eingerostet.«

»Es könnte der Mühe wert sein.«

»Wem gehörte das Land für Desert Bloom?«

»Armand.«

»Er verkaufte also tatsächlich Land, das ihm gehörte.«

»Na ja, technisch gesehen gehörte es der Bank. Aber Armand besaß die Grundbucheinträge. Mr. Crayton war der Besitzer der Grundstücke und, noch wichtiger, der Baugenehmigungen.«

»Wer waren seine Kunden?«

»Hauptsächlich einfache Leute aus Los Angeles. Arbeiterschicht. Und eine Weile sah es so aus, als würde Armand die Sache durchziehen. Die Einheimischen waren begeistert.«

»Hat er auch an Einheimische verkauft?«

»Nur an wenige. Ich glaube, sie haben Armand nicht ganz vertraut, und sie hatten recht damit. Aber das ist nebensächlich. Ein Projekt wie Desert Bloom hätte den Ort neu beleben können. Die örtliche Bauaufsichtsbehörde konnte es kaum erwarten, die Pläne zu genehmigen. Auf so was hatten alle gewartet. Kam uns wie eine Art Vitaminspritze vor. Und es sah zunächst auch sehr vielversprechend aus. Armand hatte die Anzahlung geleistet. Woher ich das weiß? Weil er seine Geschäftskonten bei einer hiesigen Bank hatte. Und auf den Konten war Geld. Viel Geld. Wir dachten alle, es könnte nichts schiefgehen.«

»Was ist dann passiert?«

»Sie verfolgen den Markt nicht genau, nehme ich an.«

»Wenn ich Geld hätte, würde ich das tun.«

»Touche«, sagte Harper. »Das kenn ich. Tja, Cindy, der Markt brach ein ... ziemlich stark sogar.«

»Und Armand zog sich zurück.«

»Nein, er nicht. Aber sein Partner, der eigentliche Geldgeber. Als Dex den Stöpsel zog, brach alles zusammen.«

»Mit Dex meinen Sie Dexter Bartholomew«, sagte Cindy.

Harper sah sie an. »Jep, Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht. Der gute alte Knabe aus Oklahoma hielt uns alle eine Weile auf Trab. Aber dann ... « Er schnippte mit den Fingern. »Alles futsch. Dex weigerte sich plötzlich, weiteres Geld in Desert Bloom zu stecken, behauptete, mit den wenigen Erstkäufern, die Armand hatte, ließe sich ein Projekt von dem Ausmaß nicht in Angriff nehmen.

Himmel, Armand hätte wesentlich mehr Geld gebraucht, um die Sache überhaupt auf den Weg zu bringen. Die ganze Versorgung - Wasser, Abwasser, Strom, Telefonleitungen. Aber alle wußten, was wirklich dahintersteckte. Dex hatte an der Börse Verluste gemacht und einfach nicht mehr genug Spielgeld.«

»Aber Armand hatte die Anzahlung geleistet.«

»Ja, Ma'am.«

»Also zahlte er sie an die Investoren zurück.«

»Nein, Ma'am. Ich sagte, er hätte das Geld eingezahlt. Ich hab nie gesagt, daß es auch auf der Bank blieb.«

»Er hat es ausgegeben.«

»Allerdings. Nicht für Wein, Weib und Gesang — obwohl das sicher auch dabei war. Hauptsächlich hatte er damit weiteres Land gekauft. Als der Börsenkrach kam und Dex sich zurückzog, stand Armand mit einer Menge wütender Investoren da.«

»Können Sie sich erinnern, ob einer ganz besonders wütend war?«

»Nope.« Harper seufzte. »War alles sehr mitleiderregend. Dex ließ Armand mit wertlosem Land sitzen, und der arme Junge hatte eine Menge zu erklären. Schließlich war er gezwungen, Konkurs anzumelden. Die Bank nahm das Land zurück, und der Traum verpuffte. Allerdings gehörten die Grundstücke immer noch denen, die sie gekauft hatten. Aber die waren jetzt wertlos. Es gab eine Sammelklage, doch die führte zu nichts, weil Crayton nichts hatte. Natürlich hielt ihn das nicht davon ab, in einem schicken Haus zu wohnen und ein schickes Auto zu fahren. Was manche erst richtig sauer gemacht hat.«

»Man darf nie zeigen, daß es einem dreckig geht, Mr. Harper.«

»Mag sein, aber es hätte nicht geschadet, wenn er ein bißchen rücksichtsvoller gewesen wäre.« Cindy trank ihren Kaffee, dachte an Crayton. Er war ein Angeber und ein Träumer, genauso substanzlos wie ein Hollywoodslogan. »Bartholomew soll angeblich an Armand verdient haben. Aber das kann doch nicht stimmen.«

Harper lachte leise. »Dex braucht Ihnen nicht leid zu tun. Als Armand bankrott war, erbot sich Dex - mit der Höflichkeit des Gentleman für die armen ruinierte Seelen - das Land zurückzukaufen. Seine Großzügigkeit wurde nur von der Tatsache getrübt, daß er einen viel niedrigeren Preis bot. Trotzdem waren zwanzig Prozent pro Dollar besser als gar nichts. Dex hat einen guten Schnitt gemacht.«

»Wie das, wo das Land wertlos war?«

»Wertlos als Bauland, aber nicht wertlos als Land an sich. Da gibt es viel Stein, Cindy Decker. Guten, soliden Stein. Aber man braucht Kapital, um ihn abzubauen. Und Dex hatte das Kapital aus dem Pipelinegeschäft. Wenn Sie weiter nach Nordosten fahren, stoßen Sie auf die Steinbrüche. Nun sind wir in Belfleur nicht nachtragend, also werfen wir ihm nichts vor. Außerdem hat er hier einige Arbeitsplätze geschaffen. Dex hat seinen Reibach gemacht, weiß Gott.«

»Und alle haben an ihn verkauft?«

»Fast alle.« Harper grinste breit. »Schauen Sie, ich glaube nicht an Landverkauf zu Niedrigpreisen, wenn es um mein Geld geht. Ich behalt's lieber.«

»Sie waren einer der Erstkäufer von Desert Bloom, Mr. Harper?«

Harper ließ den Kopf in vorgetäuschter Beschämung hängen. »Leider muß ich zugeben, daß ich mich hab mitreißen lassen. Manchmal bin ich eben ein verrückter alter Narr.«

Eher ein schlauer alter Fuchs, dachte Cindy. »Sehr betrübt wirken Sie nicht.«

»Bin ich auch nicht. Mein kleines Grundstück liegt mitten in Dex' Steinbruch. Macht es ihm schwer, ohne unbefugtes Betreten von Punkt A nach Punkt B zu kommen.«

»Daraufhin hat er Ihnen den Höchstpreis geboten.«

»Mehr als einmal, Cindy, mehr als einmal. Aber ich will den Mann ja nicht ausnehmen. Ich berechne ihm nur eine winzige Summe für jede Durchfahrt.«

»Nur eine winzige Summe?«

»Eine ganz winzige.«

»Wie oft fährt er über Ihr Grundstück?«

»So an die zweihundertmal pro Tag.« Harper rülpste. »Das läppert sich zusammen.«

»Nehmen Ihnen die anderen das nicht übel?«

»Manche vielleicht. Die meisten sind beeindruckt.« Er nahm die Füße vom Tisch. »Sind Sie beeindruckt?«

»Allerdings.« Cindy schaute zur Decke. »Sie haben nicht zufällig eine Liste von Craytons Investoren?«

»Wenn ich eine hätte, wäre die vertraulich, junge Dame.« Cindy sah Harper schweigend an.

»Natürlich könnten wir über einen Preis verhandeln.« Harpers Lächeln wurde breiter. »Und es muß kein Geld sein.«

»Was schwebt Ihnen vor?«

»Ich könnte meine untadeligen Maßstäbe senken ... wenn Sie mir rasch einen blasen.«

Cindy zog ihre Dienstmarke heraus. »Sie haben gerade einer Polizistin einen unsittlichen Antrag gemacht.«

Harper grinste weiter, aber nicht mehr so lüstern. »Ach, kommen Sie, Cindy Decker. Wir wissen beide, daß Ihnen die Marke hier nicht viel nützt.«

»Ich könnte Sie trotzdem in Schwierigkeiten bringen, Elgin.«

»Nee, Sie wissen nicht, wie das läuft.« Harper stand auf. »Ich hab Freunde bei der Polizei.« Cindy glaubte ihm. Sie gab ihm einen Kuß auf die Wange, flüsterte: »Bitte.«

»Geben Sie mir einen Zungenkuß, dann könnte ich meine Meinung ändern.«

»Ich möchte nicht für Ihren Herzinfarkt verantwortlich sein, Elgin.« Sie strahlte ihn an. »Seien Sie ein Schatz und helfen Sie mir.«

Harper schnaubte. »Na gut. Meinetwegen können Sie einen kurzen Blick darauf werfen.«

»Danke, Sir.«

»Wir sind also wieder beim >Sir<? Elgin hat mir besser gefallen. Wissen Sie, warum ich das tue? Sie haben Ihre Nase nicht wegen meiner Zigarre gerümpft. Die Stadtleute stopfen sich pfundweise Kokain in die Nase, aber ein bißchen Tabakrauch macht sie hysterisch. Sie sind in Ordnung, Cindy Decker. Sie wissen, wie man die Leute rumkriegt.«

»Danke, Elgin. Nett, daß Sie das sagen.«

Quietschend zog Harper eine Schublade des uralten Aktenschranks auf. »Eines Tages muß ich hier Ordnung machen.«

»Wozu denn?« fragte Cindy. »Sie scheinen doch auch so alles zu finden.«

»Mehr oder weniger.« Harper blätterte die vielfarbigen Papiere durch — gelb, weiß, blau liniert, Millimeterpapier, sogar Zeitungspapier. Ein totales Durcheinander. Aber eine Minute später hatte er das Gesuchte gefunden. »Hier.« Er reichte ihr die Liste, sah auf die Wanduhr. »Ich geb Ihnen dreißig Sekunden, junge Dame. Okay?«

»Okay, Elgin.« Rasch überflog Cindy die Liste. Sie brauchte die dreißig Sekunden nicht. Da die Namen alphabetisch geordnet waren, stand Rick Bederman fast am Anfang.