8

Als sie auf den Tisch zuging, stand Oliver auf. Er war von der alten Schule, genau wie ihr Vater, hielt Frauen vermutlich die Tür auf und rückte ihnen den Stuhl zurecht. Ganz anders als ihre eigene Generation, wo jeder auf sich gestellt war — gut fürs Selbstvertrauen, schlecht für die Manieren. Scott sah gut aus, viel eleganter als am Abend zuvor. Er trug ein Kamelhaarjackett über einem cremefarbenen Hemd, dazu eine rote Krawatte und schwarze Hosen. Cindy ergriff seine ausgestreckte Hand. Statt ihre zu schütteln, zog er sie an sich und gab ihr einen Kuß auf die Wange, lehnte sich dabei über den Tisch. Er ließ sie los, musterte sie.

»Hübsch siehst du aus.«

»Danke. Du auch.«

»Ich seh hübsch aus?«

»Ah, ich meinte gut. Du siehst gut aus.«

»Gut ist okay. Ich bin sogar mit hübsch einverstanden. Setz dich doch.«

Cindy rutschte auf die rote Lederbank ihm gegenüber. Der Tisch stammte aus einem anderen Zeitalter, hatte eine Linoleumplatte, die wie Marmor aussehen sollte. Er war so klein, daß sich ihre Knie berührten. Cindy zog die Beine an. Falls Scott es bemerkt hatte, äußerte er sich nicht dazu. Das ganze Restaurant erinnerte an vergangene Zeiten, als Hollywoods Ruhm noch das Grauman's Chinese Theater und The Walk of Farne bedeutete statt Piercingläden und Tätowierungssalons. Die Inneneinrichtung erinnerte an eine Art Jagdhütte mit Balkendecke, Deckenfries und Jagdbildern von Hirschen, Hasen und Hunden. Die Stiche hingen an dunkel getäfelten Wänden. Altes Holz ... gutes Holz. Eine Bar mit Spiegelwand zog sich durch den ganzen Raum; die Spezialität waren trockene Martinis mit einer Olive oder — für die Kultivierteren — einer Perlzwiebel. KeHnerlehrlinge, zu erkennen an ihren grünen Westen und dem Lächeln, gössen Wasser ein und brachten Brot. Ein Ober, zu erkennen am roten Jackett und der verdrießlichen Miene, reichte ihnen die Speisekarten und fragte, ob sie etwas trinken wollten. »Wein zum Essen?« fragte Oliver.

»Gerne.« Cindy sah zum Ober hoch. »Irgendwelche Spezialitäten, die nicht auf der Karte stehen?«

Der Ober betrachtete sie mißtrauisch. »Die Karte wird täglich neu geschrieben.«

»Oh.« Cindy überflog die Tageskarte. »Und alles, was da drauf-steht, ist vorrätig?«

»Die Linguine mit Langostinos, das Westernomlett und das Hummerbisque nicht ...«

»Warum stehen sie dann auf der Karte?«

Der Ober funkelte sie an. »Wollen Sie mit dem Besitzer sprechen?«

»Nicht unbedingt.«

»Möchten Sie bestellen, Ma'am?«

Die Karte war reichhaltig und sehr klein gedruckt. »Kann ich mir ein paar Minuten Zeit lassen?«

Der Ober drehte sich um und ging.

»Ob wir den je wiedersehen?« fragte Cindy.

»Wenn du weiter so viel meckerst, wahrscheinlich nicht.«

Sie zuckte die Schultern. »Ich hab nur eine einfache Frage gestellt.«

Oliver sah sie an. »Muß Spaß gemacht haben, dich großzuziehen.«

Cindy lächelte. »Kann mich nicht erinnern, daß mein Vater sich beschwert hätte.«

»Vielleicht nicht bei dir ... «

»Wieso? Hat er was zu dir gesagt?«

Oliver war verblüfft über die Schärfe ihrer Frage. »Nein. Ich mach nur Konversation. Schwerer Tag heute, Decker?«

»Eigentlich nicht ... abgesehen von dem betrunkenen Russen, den ich heute nachmittag verhaftet habe.«

Er sah auf. »Wie ist es gelaufen?«

»Er ist in der Ausnüchterungszelle, und ich bin hier. Was man wohl als Sieg für die Gesellschaft und auch für mich ansehen könnte.« Sie schwieg. »Nee, auf der Arbeit läuft alles gut.« Sie rollte die Schultern. »Alles okay.«

Oliver ließ die Karte sinken und betrachtete sie. »Du wirkst angespannt ... so wie du da sitzt.«

»Bin ich nicht.« Zum Beweis ließ sie die Schultern hängen.

»Meine Muskeln sind etwas steif. Kommt vom Tippen. Du weißt schon, über die Tastatur gebeugt, ohne Rückenstütze. Bei der Polizei wird nicht sehr ergonomisch gedacht.«

»Was hast du denn getippt?«

»Berichte. Was ziemlich mühsam ist, weil man sie in einem bestimmten Format tippen muß. Darauf achten muß, daß die Worte nicht über den Rand hinausgehen, weil sie sonst zwischen den Zeilen stehen statt drauf, wenn man das Formular ausdruckt. Ich dachte, eine heiße Dusche würde helfen. Hat sie auch, aber nur kurz.«

»Warum tippst du so viele Berichte?«

Cindy legte die Karte weg. Sofort erschien der Ober. »Haben Sie sich entschieden?«

Für sie klang das wie Haben Sie sich entschieden zu gehen? Bitte? »Ja, danke. Ich nehme die Scholle. Ist die ... ach, schon gut.«

»Wenn Sie eine Frage haben, stellen Sie sie ruhig. Ich mag zwar bellen, aber ich beiße nicht.« Cindy lächelte. »Wie ist sie zubereitet?«

»Leicht paniert und in der Pfanne gebraten«, erwiderte der Ober stoisch. »Als Beilage Salzkartoffeln. Sie können aber auch Pommes frites haben.«

»Ja, lieber das.« Sie reichte ihm die Karte. »Danke.«

»Gern geschehen.« Er wandte sich an Oliver. »Und für Sie, Sir?«

»Ich hätte gern die Garnelen und eine Flasche von Ihrem besten Chardonnay.«

»Einen Caesarsalat für zwei als Entree?«

»Ja, warum nicht?«

Der Ober verschwand ohne weiteres Getue. Cindy flüsterte: »Ob er in unser Essen spuckt?«

»Glaub ich nicht.«

»War ich diesmal höflich genug?«

»Etwas besser.« Er lächelte. »Warum tippst du so viele Berichte?«

»Aus Gefälligkeit.« Cindy sah zur Decke hoch. »Ich vervollständige Sergeant Troppers Berichte - eine Arbeit, die er haßt -, damit ich nicht mehr bei ihm Verschissen hab.«

»Tropper?« Oliver dachte kurz nach. »Muß nach meiner Zeit gekommen sein. Warum hast du bei ihm Verschissen?«

»Du meinst, außer daß ich eine Frau bin und dazu noch eine mit Collegeabschluß? Tja, ich hab es gewagt, eine schwierige Situation kompetent zu lösen. Das hat ihm nicht gefallen.«

Oliver hob die Augenbrauen. »Die Polizei bevorzugt Teamspieler, Cindy.«

»Ich hätte also beiseite treten und ... «

Sie verstummte, als der rotbefrackte Ober mit einer Weinflasche und dem Caesarsalat an den Tisch kam. Er stellte die Teller vor sie hin, entkorkte die Flasche, goß Oliver einen Probeschluck ein. Scott schwenkte den Wein im Glas, roch, probierte. »Ja, der ist gut.«

Sofort schenkte der Ober die beiden Gläser voll und stellte die Flasche in einen Eiskühler. »Pfeffer für den Salat?«

»Gerne«, erwiderte Cindy.

Der Ober holte eine Pfeffermühle und knallte sie vor Cindy auf den Tisch. »Bedienen Sie sich.« Er stapfte davon.

Cindy verteilte großzügig Pfeffer auf ihrem Salat. »Der Mann mag mich nicht. Vielleicht liegt es an meinen roten Haaren.«

»Vielleicht liegt es an deinem Benehmen.«

»Oh, bitte!« Cindy spießte ein Salatblatt auf, steckte es in den Mund und kaute langsam. »Normalerweise würde mich das ärgern. Aber das Essen ist zu gut. Spannung ist schlecht für die Verdauung.«

»Allerdings.« Oliver hob sein Weinglas.

Sie stießen an. »Auf was trinken wir?« fragte Cindy. »Auf die gute Teamspielerin?«

»Wie wär's damit, dich vor Gefahr zu bewahren?«

Cindy nahm einen Schluck. »Gefahr von den Verbrechern oder meinen Kollegen? Wolltest du mich nicht aufklären?«

»Halt dir den Rücken frei.«

»Fällt schwer, wenn man hinten keine Augen hat, Scott.«

»Ich meine es ernst, Cindy. Du mußt hin und wieder über die Schulter gucken. Du bist viel zu überheblich. Ich weiß nicht, ob es an deiner Unerfahrenheit liegt oder an deiner Bildung, der Stellung deines Vaters oder deiner sprühenden Persönlichkeit. Aber du mußt dir deiner selbst bewußt sein. Wichtiger noch, du mußt wissen, wie dein Verhalten auf deine Kollegen wirkt. Da draußen auf der Straße hängt dein Leben von ihnen ab.«

»Ich kann auf mich selbst aufpassen.«

»Siehst du, das ist ein großer Irrtum. Und ein gefährlicher dazu.« Er senkte die Stimme, beugte sich vor. »Du kannst nicht auf dich aufpassen. Keiner kann das da draußen. Jeder muß den anderen im Auge behalten. Polizeiarbeit ist Teamarbeit, Herzchen. Wenn du was allein machen willst, werde Spion.«

»Tja, das ist eine Idee. Diese schicken Sonnenbrillen!«

»Du bist schlagfertig, das muß man dir lassen.« Er lehnte sich zurück. »Nur hilft dir das nichts gegen eine 375er. Oder selbst eine 22 er.«

»Weißt du was, Oliver, selbst wenn ich Hilfe von meinen Kollegen wollte, würden ich sie nicht bekommen. Warum soll ich also darauf warten?« Sie senkte die Salatgabel. »Die sind doch nur darauf aus, uns Frauen zu schikanieren. Wie gestern. Ich versuche, diese verrückte Latina zu bändigen ... und glaubst du, einer der Kerle hätte einen Finger krumm gemacht, um mir zu helfen?« Sie schüttelte den Kopf. »Mann, ich wünschte, ich hätte eine Partnerin, damit diese ganze Konkurrenzkiste vorbei wäre.«

»Hast du ein Problem mit deinem Partner?«

Cindy trank einen großen Schluck Wein. »Nein, Beaudry ist kein schlechter Kerl.«

»Warum zickst du dann so rum?«

»Ich zicke nicht rum! Ich meine doch nur ... ach, vergiß es.« Sie widmete sich wieder ihrem Salat.

»Ich rede nur über die Arbeit, weil du mich danach gefragt hast. Normalerweise halte ich die Klappe und mach meinen Job. Wenn niemand mir traut, was soll ich machen?«

»Du bist Anfängerin, Cindy. So schnell kannst du es dir doch nicht mit allen verdorben haben.«

»Ich bin seit elf Monaten dabei. Das hat offenbar gereicht.« Sie lächelte, aber es war kein entspanntes Lächeln. »Gut, und jetzt bist du dran.«

»Sag mir erst, warum du meinst, daß die Jungs dir nicht trauen.«

»Dafür gibt's jede Menge Gründe. Angefangen damit, daß sie mir nicht an die Wäsche dürfen.«

»Okay. Das kauf ich dir ab. Alle Kerle versuchen das. Sobald sie kapieren, daß sie bei dir nicht landen können, werden sie's lassen.«

»Hoffentlich hast du recht.«

»Was ist mit den Frauen?«

»Ich war noch bei keinem Polzistinnentreffen. Zu viel zu tun. Vielleicht sollte ich mal hingehn.«

»Das solltest du.«

Sie seufzte. »Selbst die Frauen, die ich kenne ... die haben diesen bestimmten Blick. Ich glaube, sie mißtrauen mir, weil ich einen Collegeabschluß habe.«

»Soll das heißen, du hast keine Freunde? Gestern abend wirktest du ganz gesellig. Ein bißchen betrunken, aber gesellig. Ist da was passiert, wovon ich nichts weiß?«

»Nein, gestern abend lief s ganz gut. Hayley ist nett. Na ja, ich glaube, daß sie nett ist.« Sie warf Scott einen Blick zu. »Was war mit euch beiden?« Oliver schwieg.

Cindy lächelte breit. »Darauf krieg ich wohl keine Antwort?«

»Gut geraten.« Sie schenkte Wein nach. »Ich warte immer noch auf deine Aufklärung.«

»Hier geht's um allgemeine Ansichten, nicht um spezielle Einschätzungen.«

»Verstehe.«

»Du bist klug ...«

»Das hätte ich dir vorher sagen können.«

»Halt die Klappe, Decker, und hör zu. Du bist klug, fix im Denken und, wichtiger noch, du hast gute Reflexe. Kannst gut mit Menschenmengen umgehen. Ruhig, überzeugend - du läßt dir nichts anmerken, schreckst nicht zurück. Du hast eine gute Körperbeherrschung und viel Kraft, besonders für ein Mädchen ...«

»Muß an den Weizenflocken liegen.«

»Du bist verläßlich, pünktlich und scheinst keine größeren Laster zu haben. So wird es zumindest deinem Dad berichtet.« Er sah sie an. »Mir auch. Aber ich hör auch andere Dinge.« Cindy merkte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Sie wollte etwas Schnippisches sagen, aber es blieb ihr im Hals stecken. »Weiter.«

»Draußen auf der Straße bist du kein Problem, aber auf dem Revier hast du diese >Ich bin was Besseres<-Haltung. Du bist patzig, Decker.«

»Nur zu deiner Information, für jemanden von einem Elitecollege ist mein Verhalten ganz normal.«

»Tja, Decker, dazu kann ich nur sagen, daß du nicht mehr im College bist.« Wieder beugte er sich vor. »Du machst die Leute stinksauer ... genau die, die du vielleicht eines Tages brauchst. Vielleicht solltest du es mal mit Alltagspsychologie versuchen.«

»Ja, ja.«

»Sei nicht so abweisend und hör einfach zu. Weil mir — genau wie deinem Daddy - dein Wohlergehen am Herzen liegt. Leben und Tod, Entscheidungen, die im Bruchteil einer Sekunde getroffen werden, analysiert man nicht, Cindy. Man legt einfach los und hofft das Beste. Und die meisten von uns kommen einem Kollegen zu Hilfe, ohne an das eigene Leben zu denken. Wir handeln instinktiv. Das ist eine Gefühlssache. Ich spring ins Feuer, klar. Aber ich spring sehr viel schneller, wenn ich denjenigen mag. Hör auf, ein Snob zu sein. Vor allem, weil dein Vater keiner ist, und er hätte viel mehr Grund zur Arroganz als du ... «

»Ich bin nicht arrogant!«

Oliver verstummte und sah sie an. Sie war verstört, versuchte aber, es zu verbergen. Er wußte, daß er zu hart war, obwohl alles stimmte, was er sagte. Er hielt ihr Vorträge, genau wie er es mit seinen Söhnen gemacht hatte. Immer war er so darauf bedacht gewesen, die Worte rauszubringen, hatte nie darüber nachgedacht, wie sehr seine brutalen Bemerkungen ihnen zusetzten. Cindy starrte in ihr Weinglas. »Willst du wissen, was die Ironie bei dem Ganzen ist?« Oliver nickte.

»Eigentlich bin ich schüchtern«, sagte sie. »Ich versteck das hinter Überlegenheit. In der Welt der Cops ist es besser, egoistisch zu sein als schüchtern.« Sie blickte auf und sah ihm in die Augen. »Wenn du auch nur die geringste Furcht zeigst, kriegst du keinen Partner.«

»Das stimmt.«

»Wenn die Jungs wüßten, wie nervös ich war, würden sie mich in Salzsäure schmeißen.«

»Am Anfang ist jeder nervös.«

»Für Frauen ist das anders.«

»Da hast du sicher recht ... «

»Besser fressen als gefressen werden.« Sie senkte den Blick. »Übrigens, wer hält mich für klug? Oder hast du das erfunden, um mich zu trösten?«

»Nee, hab ich nicht. Zum Beispiel der Detective, mit dem ich mich gestern getroffen habe. Rolf Osmondson. Er sagt, du seist klug.«

Sie blieb skeptisch. »Keine Ahnung, wie er darauf kommt. Ich hab ihn gestern zum ersten Mal gesehen.«

»Offenbar hat er dich schon früher bemerkt.«

»Plötzlich bemerken höherrangige Detectives Anfänger in Uniform?«

»Wenn der höherrangige Detective heterosexuell und der uniformierte Anfänger eine hübsche junge Frau ist, kannst du darauf wetten, daß er sie bemerkt. Craig Barrows hat dich auch erwähnt.«

»Craig Barrows?«

»Den kennst du auch nicht?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Ungefähr meine Größe. Schmales Gesicht. Sandfarbenes, dünnes Haar. Blaue, blutunterlaufene Augen ...«

»Ja, genau. Ist der nicht bei der Mordkommission?«

»Ja.«

»Klar, jetzt erinnere ich mich«, sagte sie. »Etwa drei Monate, nachdem ich in Hollywood angefangen habe, hat einer der Alten eine Party gegeben und uns Anfänger tatsächlich eingeladen. Sogar ein paar Höherrangige waren das. Ich hab vielleicht zehn Minuten mit Detective Barrows geplaudert.« Cindy schob den Salatteller weg. Sofort räumte der Jungkellner ihn ab. »Und aus diesem einen Gespräch schließt er, daß ich klug bin?«

»Du mußt ihn beeindruckt haben.«

»Das war bestimmt mein rotes Haar.«

»Du schiebst sehr viel auf dein Haar, weißt du das?«

Sie kicherte und sah in das mißmutige Gesicht des Obers. Er stellte die Scholle vor sie hin. »Für die Dame.«

»Oh, vielen Dank.« Cindy biß in eine Fritte. »Ausgezeichnet.«

Der Ober lächelte! »Gern geschehen.« Er servierte Olivers Garnelen. »Noch Wein?« Dabei sah er Cindy an. »Der scheint Ihnen zu schmecken.«

»Wem schmeckt Wein nicht?« flüsterte sie ihm zu. »Danke. Ein halbes Glas. Ich muß noch Platz für den Nachtisch lassen.«

Der Ober schenkte ihnen beiden ein. »Wäre sonst noch was?«

»Im Moment nicht.« Cindy sah Oliver an. »Oder?«

»Nein, alles bestens«, erwiderte Oliver. »Vielen Dank.«

»Gern geschehen«, wiederholte der Ober. »Vorsicht mit den Gräten.«

Er verschwand.

»Sieh an, jetzt ist er um uns besorgt«, meinte Cindy. »Er will nicht, daß wir an einer Gräte ersticken. Der Junge taut auf!«

»Entweder das, oder du bist so besäuselt, daß sich deine Wahrnehmung geändert hat.«

»Mag sein, mag sein.« Sie aß noch eine Fritte. »Warum sagst du, ich sei besäuselt?«

»Weil deine vorher blassen Wangen Farbe bekommen haben.«

»Ach so. Das ist nur das Make-up.«

Oliver lachte. »Worüber hast du dich mit Craig unterhalten?«

»Wie bitte?«

»Craig Barrows. Auf der Party. Ihr habt zehn Minuten geplaudert, hast du gesagt.«

»Gott, das ist schon so lange her.« Sie versuchte sich zu erinnern. »Ich glaube, es ging um Armand Cray... « Hitze schoß ihr ins Gesicht. »Um den Fall Armand Crayton. Mein Partner Graham Beaudry und Slick Rick Bederman waren auch dabei.«

»Wann war das? Vor ungefähr sechs Monaten?«

»Das kann hinkommen. Alle Zeitungen hatten darüber berichtet. Irgendwie unheimlich, daß seine Frau alles mit angesehen hat.« Sie sah zu Scott, der sie intensiv betrachtete. »Nur so Geplauder.«

»Cindy, was verschweigst du mir?«

»Was soll das heißen?«

»Herzchen, du bist rot geworden. Was ist mit Armand Crayton? Hast du den Kerl gekannt?«

»Was geht dich das an?«

Oliver legte die Gabel klirrend ab und lehnte sich zurück. »Was mich das angeht? Der Fall ist nicht abgeschlossen, meine Liebe. Was verschweigst du?«

Cindy wartete kurz, seufzte. »Also gut. Ich hab in Silvers Fitneßstudio trainiert, im Valley, bevor ich in die Stadt gezogen bin. Vielleicht ein Jahr lang. Dort haben wir uns flüchtig kennengelernt.«

»Bist du mit ihm ausgegangen?«

»Ich sagte, flüchtig.«

»Hast du mit ihm geschlafen?«

»Kennst du die Definition des Wortes flüchtig nicht, Oliver?«

»Für viele Leute ist Sex eine flüchtige Angelegenheit.«

»Er war verheiratet, Scott.«

»Und?«

»Ich schlafe nicht mit verheirateten Männern! Nie!«

»Der Kerl war bekannt dafür, daß er in der Gegend herumbumste«, beharrte Oliver. »Hat er dir je erzählt, daß er verheiratet ist?«

»Nein. Aber weil ich nicht von gestern bin, hab ich mich nicht von ihm anmachen lassen.«

»Hat er es versucht?«

»Nicht allzu sehr«, erwiderte Cindy. »Wir haben nur manchmal nach dem Training an der Saftbar noch was getrunken. Zweimal hat er mich gefragt, ob ich noch woanders mit ihm einen Kaffee trinken wollte. Ich habe abgelehnt.«

Oliver zerbiß eine Garnele und versuchte verstohlen, den Schwanz auszuspucken. »Worüber habt ihr euch unterhalten?«

»Über nichts, was Licht auf den Fall werfen könnte.«

»Warum überläßt du mir nicht, das zu beurteilen?« Oliver runzelte die Stirn. »Was ist los, Cindy? Wieso bist du so zurückhaltend? So wie ich dich kenne, bist du doch Feuer und Flamme, wenn es um einen bedeutenden Fall geht. Zumindest würdest du es deinem Vater erzählen ... « Er verstummte.

»Okay, verstehe. Du hast es deinem Dad erzählt. Und der Große Deck hat dir geraten, es für dich zu behalten. Krieg ich die Einzelheiten zu hören? Oder muß ich deinen Vater fragen?« Cindy grinste boshaft. »Und wie willst du ihn darauf ansprechen? >Ah, Deck, ich war zufällig mit deiner Tochter essen und ... <«

»Oh, du miese kleine ... « Oliver warf mit dem Garnelenschwanz nach ihr. »Erzähl's mir, Cindy.

Bitte.«

Cindy zögerte, sagte dann: »Unsere Bekanntschaft war nichts Tolles, Scott. Nur das übliche Blabla, über das Training und so. Gelegentlich erwähnte er einen heißen Geschäftsdeal, an dem er dran war. Ich glaube, er wollte mich beeindrucken.«

»Hörr sich so an.«

»Tja, hat aber nicht funktioniert. Wenn er damit anfing, hab ich mich ausgeklinkt. Aber es waren nicht die Gespräche, die meinen Vater erschreckt haben.«

»Sondern?«

»Es war nur ein besonders dummer Fall von Zur-falschen-Zeit-am-falschen-Ort-sein. Nach einer unserer Plaudereien an der Saftbar gingen wir zusammen zu unseren Autos.« Cindy griff nach ihrem Weinglas, setzte es wieder ab, ohne getrunken zu haben. »Jemand hat auf uns geschossen ... «

»Großer Gott!«

»Ja, es war beängstigend.« Sie sah weg. »Das war ein paar Monate, bevor er ermordet wurde. Da war ich schon auf der Polizeiakademie und hatte meine Waffe dabei. Aber ich habe sie nicht benutzt.«

»Das war sehr klug.«

»Ja, das hat Dad auch gesagt, aber ich ... « Sie atmete aus. »Ich finde, ich hätte etwas tun müssen.«

Sie flüsterte nur noch. »Ich hätte mir fast vor Angst in die Hose gemacht, Oliver.« Ihre Augen wurden feucht. »Nicht wegen der Schüsse, die waren beängstigend genug. Aber weil ich erstarrt bin.«

»Wieso? Was hast du gemacht? Bist du einfach stehengeblieben?«

»Nein, ich hab mich hinter ein Auto geduckt.«

»Das war vollkommen richtig.« Oliver nahm einen Schluck Wein. »Ich hätte genauso gehandelt.« Sie schwieg.

»Cindy, was hättest du denn sonst tun sollen? Dir mit dem Kerl einen Schußwechsel liefern?« Sie wischte sich übers Gesicht. »Ich weiß nicht. Ich denk nur immer, wenn das auf der Straße passiert wäre, im Dienst ... «

Oliver unterbrach sie. »Wenn so was, Gott behüte, auf der Straße passiert, weißt du, was du zu tun hast. Du hast dein Funkgerät, du hast deine Waffe und, um auf unser Gespräch zurückzukommen, du hast Verstärkung. Die aufs Geratewohl abgefeuerten Schüsse haben dich überrascht. Mach dir deswegen keine Gedanken.«

»Wird man von Schüssen nicht immer überrascht?«

»Klar«, erwiderte Oliver. »Aber im Dienst bist du eher auf so was gefaßt.« Sie sah weg. »Vielleicht.«

»Du hast deinem Dad also von den Schüssen erzählt?«

»Ja.« Sie hielt inne. »Aber erst, nachdem Armand Crayton tot war.«

»Nicht gleich?«

»Nein. Ich wollte nicht, daß er sich aufregt. Außerdem wollte ich nicht zugeben, daß ich erstarrt bin. Das war mir peinlich.«

»Cindy, du bist nicht erstarrt, du hast dich geduckt! Das ist was völlig anderes.« Er aß die nächste Garnele. »Gut, du hast deinem Vater von den Schüssen erzählt, nachdem Armand Crayton entführt und ermordet worden war. Und dein Dad hat gesagt, du sollst mit niemandem darüber reden.«

»Ja.«

»Hat der Schütze dich gesehen, Cindy?«

»Ich ... weiß nicht. Als es passierte, hatte ich wirklich Angst. Zuerst dachte ich, seine Frau hätte auf uns geschossen, weil sie annahm, Armand und ich hätten ein Verhältnis. Aber als er ermordet wurde und all die Sachen über ihn rauskamen, hab ich aufgehört, mir Sorgen zu machen. Armand hatte eine Menge Gegner. Die Schüsse galten nicht mir. Sie waren vermutlich das Geschenk eines verärgerten Investors.«

»Das hast du alles deinem Vater erzählt?«

»Ja. Und ich bin sicher, daß Dad meine Rolle dabei nicht für wichtig hielt, sonst hätte er dich und Marge und die anderen informiert.«

»Mir gegenüber hat er nie was erwähnt.«

»Also hielt er es nicht für wichtig.«

»Wahrscheinlicher ist, daß er sich Sorgen um deine Sicherheit gemacht hat.«

»Er würde nie einen Fall gefährden, Scott. Auch für mich nicht.«

Scott lachte. »Na klar doch!«

»Das ist mein Ernst. Dad hat Prinzipien!«

»Und Dad liebt seine Familie. Wenn er zwischen der Arbeit und deiner Sicherheit wählen müßte, würde er keine Sekunde zögern.« Er winkte ab. Ein Kellnerlehrling hielt das für die Aufforderung, sofort die Teller abzuräumen. »Möchtest du ein Dessert?« fragte Oliver.

»Nein, ich kann nicht mehr. Vielen Dank, das Essen war köstlich.«

»Gern geschehen.« Oliver kratzte sich am Kinn. »Du hast dich mit Craig Barrows über den Crayton-Fall unterhalten?«

»Nur ganz allgemein.«

»Wie allgemein?«

»Wir haben über diese Carjackings geredet.« Sie wurde munterer. »Barrows hat mir erzählt, daß er mit Osmondson an einem Fall arbeitet, der Ähnlichkeiten mit dem Crayton-Fall hat.«

Am liebsten hätte Oliver seinen Notizblock rausgezogen, aber er beherrschte sich. Hier war es zu voll. Er mußte Cindy in einer ruhigeren Umgebung ausfragen. Die Sache systematisch mit ihr durchgehen. »Erinnerst du dich an Einzelheiten des Falles?«

Cindy trommelte leise auf den Tisch. »Aus irgendeinem Grund muß ich an einen roten Ferrari denken.«

Elizabeth Tarkum. »Du weißt, woran wir momentan in Devon-shire arbeiten, oder?« fragte Oliver. »Natürlich. An den Carjackings. Glaubst du, der Crayton-Fall könnte was damit zu tun haben?«

»Wäre möglich.«

»Du willst mich verhören, stimmt's?«

»Wir nennen das befragen.«

»Okay«, sagte Cindy. »Und wenn ich zustimme? Willst du das hinter dem Rücken meines Vaters machen?«

»Könnte einfacher sein.« Oliver fühlte sich unbehaglich. »Wie wär's, wenn ich morgen abend in deine Wohnung komme? Du erzählst mir alles über Armand Crayton und dein Gespräch mit Craig Barrows. Wenn ich das Gefühl habe, daß deine Beziehung zu Crayton wichtig ist für den Fall — oder für die laufenden Ermittlungen zu den Carjackings — erzähle ich deinem Vater von heute abend ... was ein ziemlicher Tanz werden wird! Aber wenn du irgendwie Licht auf diese schrecklichen Überfälle werfen kannst, bleibt mir nichts anderes übrig.«

»Du verhältst dich sehr professionell.« Sie grinste. »Ich bin beeindruckt.«

»Nein, ganz und gar nicht.« Er rieb sich die Stirn. »Ich benehme mich wie ein Idiot, weil ich dich zum Essen eingeladen habe.«

Cindys Stimme wurde weicher. »Du warst einfach nur nett. Weil ich dir gestern abend leid getan habe. Ich weiß das zu schätzen, Scott.«

Er lächelte, legte die Kreditkarte auf den Tisch, um die Rechnung zu bezahlen. »Du bist ein nettes Mädchen.«

»Danke«, sagte Cindy. »Sollen wir uns die Rechnung teilen?« Oliver lachte. »Die geht auf mich. Beim nächsten Mal bist du dran.«

»Gibt es denn ein nächstes Mal?«

Diesmal wurde Scott rot. Rasch wechselte Cindy das Thema. »Wann willst du morgen kommen?« Er starrte sie an.

»Um mich zu befragen ... erinnerst du dich?« Wieder lachte er. »Ah, ja, ich erinnere mich. Ganz so senil bin ich noch nicht. Gegen sieben?«

»Ist mir recht.«

Cindy senkte den Blick. Sie wollte Scott wegen Hannahs Foto fragen: warum es auf dem Couchtisch gestanden hatte statt auf dem Kaminsims. Sie fand sich paranoid, besonders nach dieser merkwürdigen Unterhaltung. Aber es hätte mißtrauisch und unhöflich geklungen. Also beschloß sie, ihn morgen zu fragen. Das war logischer: Er vernahm sie, sie vernahm ihn. »Fertig?« fragte er.

»Ja.« Sie stand auf. »Bringst du mich zu meinem Auto?«

»Natürlich«, erwiderte Oliver. »Und wenn wir Glück haben, schießt keiner auf uns.«