14
Cindy sah dem Auto ihres Vaters nach, dachte, wieviel Mühe er sich gab. Er hatte die Größe besessen, sich zu entschuldigen, keine Kleinigkeit, schließlich war Cindy nicht nur seine Tochter, sondern auch eine Untergebene. Sie dachte darüber nach, als sie zur Wohnung zurückging. Was wohl als nächstes passieren würde?
In den drei Minuten ihrer Abwesenheit hatten Marge und Scott sich ausgebreitet und ihren Couchtisch mit Beschlag belegt. Sie hätte ärgerlich sein können. Statt dessen fand Cindy es cool: eine Möglichkeit zuzuhören und zu lernen. Marge blätterte einen Papierstapel durch. »Ist Dexter Bartholomew wegen des Crayton-Mordes je befragt worden?«
»Wahrscheinlich.«
»Ich kann nichts darüber finden.«
»Ich helf dir«, bot Cindy an.
Beide sahen auf und starrten sie an ... als hätten sie vergessen, daß Cindy hier wohnte. »Ah, danke.« Marge reichte ihr einen Stapel. »Such nach einem Bericht mit dem Namen Dexter Bartholomew. Fang mit den blau markierten an. Das sind Websters Unterlagen.« Einige Minuten vergingen, dann rief Marge triumphierend: »Da ist er. Bert hat etwa einen Monat nach dem Mord mit Bartholomew gesprochen. Ich frag mich nur, warum er so lange damit gewartet hat.«
»Vielleicht war Bartholomew verreist«, erwiderte Oliver. »Er gehörte sowieso nicht zu den Hauptverdächtigen, weil er an Crayton verdient hat.«
»Sieht so aus, als hätte Bartholomew seine Geschäftsbeziehungen zu Crayton etwa zwei Monate vor dessen Tod abgebrochen.«
»Ungefähr zur gleichen Zeit, als auf uns geschossen wurde«, warf Cindy ein. Beide sahen sie an.
»War nur so ein Einfall«, sagte Cindy. »Hat wahrscheinlich nichts zu bedeuten.«
»Nein, gar nicht schlecht«, widersprach Oliver. »Möglicherweise wußte Bartholomew, daß was am Kochen war, daß es mit Crayton bergab ging, und hat sich deswegen zurückgezogen.«
»Wir sollten uns auf jeden Fall Craytons Aktivitäten kurz vor seinem Tod vornehmen«, meinte Marge.
»Okay, wir überprüfen Bartholomews Geschäfte mit Crayton. Dazu Lark und die Versicherung. Was noch?« Er sah zu Cindy. »Du wolltest nicht gerade Kaffee machen, oder?«
Sie stand auf. »Wenn du bitte sagst.«
Er lächelte sie an. »Bitte.«
Cindy senkte den Kopf. »Koffeinfreien?«
»Bitte.«
»Was ist mit dir, Marge?«
»Ich hätte gern ... « Marge zögerte plötzlich. »Wolltest du ins Bett?«
»Marge, ich bin seit zwanzig Jahren nicht mehr um neun ins Bett gegangen.« Cindy ging in die Küche und stellte die Kaffeemaschine an. »Bleibt, so lange ihr wollt. Ihr glaubt also, Elizabeth Tarkum hat tatsächlich irgendwie mit Crayton zu tun?«
»Kann sein«, sagte Oliver.
»Aber in welcher Form?« fragte Marge.
»Da gibt es viele Möglichkeiten.«
»Vielleicht hatte jemand was gegen Dexter Bartholomew wegen seiner früheren Geschäftsverbindungen zu Crayton und hat das an seiner Frau ausgelassen?« schlug Cindy vor. Oliver nickte. »Guter Gedanke.«
Bei dem Kompliment wurde Cindy rot. Um es zu verbergen, widmete sie sich rasch dem Kaffeekochen.
»Eine Botschaft für Dex auf dem Umweg über seine Frau«, sagte Marge. »Vielleicht sollten wir mit denen sprechen, die an Crayton verdient haben. Rausfinden, ob sie oder ihre Frauen bedroht worden sind.« Sie warf die Akten auf den Tisch. »Tom und Bert müssen einen Grund für die Reihenfolge ihrer Befragungen gehabt haben. Ich versteh ihn nur nicht.«
Es wurde still, die beiden Detectives blätterten in den Akten. Im Hintergrund gurgelte die Kaffeemaschine. Cindy zog den Vorhang vor dem Küchenfenster weg. Im Bruchteil einer Sekunde erhaschte sie einen flüchtigen Blick auf etwas ... einen verschwommenen Schatten. Sofort schoß ihr Adrenalin durch die Adern. Sie biß sich auf die Lippe, sagte nichts, hoffte, daß die beiden ihre geröteten Wangen und zitternden Hände nicht bemerken würden.
Natürlich merkten sie nichts, waren zu sehr in ihre Arbeit vertieft. So leise wie möglich riß Cindy ein Papiertuch von der Rolle, machte es unter kaltem Wasser naß und wischte sich das Gesicht ab. Das kalte Tuch tat gut. All dieses Gerede über Rache als Motiv regte ihre Phantasie nur übermäßig an. Oder war es nicht die Phantasie?
Natürlich war es das. Vergiß es, Decker. Du bildest dir was ein.
Außerdem, wenn sie sagen würde, was sie gesehen hatte, würde die beiden sofort Fragen stellen, das ganze Gebiet absuchen, die Uniformierten zu Hilfe rufen. Natürlich würden sie nichts finden, weil da längst nichts mehr war. Und was würden sie dann machen? Sie würden sie rund um die Uhr bewachen, ihr folgen, dauernd anrufen. Und es natürlich ihrem Vater sagen. All diese unerwünschte Aufmerksamkeit würde ihr die Arbeit als Polizisten praktisch unmöglich machen. Denn wie sollte sie arbeiten mit drei Top-Detectives im Nacken?
In diesem Augenblick wurde ihr etwas klar. Wenn da tatsächlich was vorging — und das war sehr die Frage — würde sie es selbst rausfinden müssen. Der Gedanke jagte ihr Angst ein, aber er gab ihr auch Kraft. Sie war die Herrin ihres eigenen Geschicks - ohne Hilfe von außen. Nicht von Tropper, nicht von Scott, nicht von Marge, nicht von Dad — vor allem nicht von Dad. Ohne aufzusehen, fragte Oliver: »Wie geht's dem Kaffee?«
Cindy fand ihre Stimme wieder. »Nicht allzu gut, Oliver. Ich glaube, er wird melancholisch.« Oliver lachte, fing ihren Blick auf, runzelte die Stirn. Sofort sah sie weg. »Er ist gleich fertig.« Oliver betrachtete sie weiter, konnte nicht entziffern, was er in ihrem Gesicht las. Er hob die Augenbrauen, wandte sich aber wieder der Arbeit zu. Irgendwas war passiert. Während er noch überlegte, ob er Cindy fragen sollte, sagte Marge: »Ich hab das Gefühl, wir müssen den ganzen Fall neu aufrollen. In den Crayton-Akten steht was von Landerschließung in Belfleur. Wo zum Teufel ist Belfleur?«
»Ungefähr fünfzig Kilometer westlich von Palm Springs«, antwortete Oliver.
»Du kennst den Ort?« fragte Marge.
»Fahr auf dem Weg nach Palm Springs immer daran vorbei. Ist zwei, vielleicht drei Ausfahrten lang. Eine kleine Wüstenstadt.«
»Da gibt es auch Kirschen.« Cindy goß den Kaffee in drei Becher, holte Milch und Zucker, stellte alles auf ein Tablett. »Früher sind wir zum Kirschenpflücken hingefahren.«
»Kirschbäume in der Wüste?« Marge goß ein wenig Milch in den Kaffee und nahm einen Schluck. »Ah, der schmeckt gut.«
»Danke«, sagte Cindy. »Belfleur ist keine reine Wüste. Es bekommt was von dem Klima der San Bernardino Mountains mit. Nicht so trocken wie in Palm Springs. Und viel kälter. Die Kirschen brauchen das. Ich weiß das, weil ich Dad gebeten hatte, Kirschbäume zu pflanzen, als er auf die Ranch gezogen ist. Er sagte, dafür sei es nicht kalt genug.« Eine nachdenkliche Pause. »Komisch, was man aus der Kindheit in Erinnerung behält. Gut, das war vor fünfzehn Jahren. Ich weiß nicht, wie es jetzt in Belfleur aussieht.«
»Nach dem, was man vom Freeway aus sieht, hat sich nicht viel verändert. Wenn ich mich recht erinnere, gibt es da einige Antiquitätengeschäfte. Und da hat Crayton investiert?« Oliver nahm einen großen Schluck.
»Es gab eine Sammelklage wegen Land in Belfleur«, sagte Marge. »Aber sie wurde entweder fallengelassen oder man hat sich zwei Monate vor Craytons Tod außergerichtlich geeinigt.«
»Zur gleichen Zeit, als sich Bartholomew von Crayton distanziert hat«, bemerkte Oliver. »Zur gleichen Zeit, als auf ihn geschossen wurde«, fügte Cindy hinzu. »Wo ist die Verbindung?«
»Wir haben mit Elizabeth Tarkum angefangen«, sagte Marge. »Und wir sind bei Dexter Bartholomew gelandet. Glaubst du, es ist möglich, daß Bartholomews Frau unter dem Namen ihres Mannes in Craytons Projekte investiert hat, ohne daß ihr Mann davon wußte?«
»Kann sein«, antwortete Oliver.
Marge hielt ihren Becher umklammert. »Ich finde, wir sollten noch mal mit Bert und Tom reden. Die ganze Sache wird immer komplexer - ein Mord, zwei Carjackings, zwielichtige Grund - Stücksspekulationen ... wie sind wir da reingeraten? Ach ja, die Überfälle in unserem Bezirk. Wir sind ein bißchen abgeschweift.«
»Vielleicht hängt alles zusammen«, meinte Oliver.
»Ich weiß nicht, Oliver. Kommt mir vor wie ein chinesisches Puzzle - je mehr du ziehst ... Gut, wenn wir uns morgen um zehn mit Decker treffen, sollten wir vorher mit Bert oder Tom reden. Die Arbeit ist einfach zu viel für zwei Leute.«
»Ich helf euch«, warf Cindy ein.
»Wenn du Zeit hast, uns zu helfen, dann nimmt Hollywood dich nicht hart genug ran«, sagte Oliver.
»Ich könnte doch ein oder zwei Akten durchlesen. Notizen für euch machen.«
»Danke, Cindy, aber wir kommen schon zurecht.« Marge wandte sich an Scott. »Sollen wir uns um acht mit denen treffen? Danach dann das Gespräch mit Decker - Decker senior -, um alles durchzukauen und die Arbeit aufzuteilen ... die sich im Moment zu multiplizieren scheint.« Sie sah auf die Uhr. »Es ist schon spät.«
»Erst halb zehn«, protestierte Cindy.
»Ja, aber ich laß Vega nicht gern mehr als zwei Stunden allein.«
»Wie geht es ihr, Marge?« fragte Cindy.
»Nach außen hin prima. Kommt in der Schule bestens mit. Aber wie es ihr gefühlsmäßig geht, weiß ich nicht, weil Vega nicht viel redet. Ich muß auf Nuancen vertrauen, um zu wissen, ob sie glücklich ist oder nicht.«
»Kommt mir wie ein typischer Teenager vor«, brummelte Oliver.
Marge widersprach nicht, weil sie keine Ahnung hatte, was typisch war. Als sie die Dreizehnjährige adoptierte, hatte sie gewußt, daß es nicht einfach sein würde. Sie hatte Verhaltensprobleme befürchtet — schwere Probleme. Statt dessen bekam sie den Traum aller Eltern: eine brillante Schülerin voller Arbeitseifer und noch dazu total folgsam. Das perfekte Kind ... was Marge große Sorgen machte. Vega hatte ungewöhnlich hohe Wertmaßstäbe, gekoppelt mit der Angst, Gefühle zu zeigen. Selbst der Psychologe hatte seine Zweifel. Wie weit konnte man eine Dreizehnjährige ändern, die in einer so strengen Atmosphäre aufgewachsen war - wenn auch, körperlich gesehen, ohne Mißhandlungen? Vega bekam jede Menge Lob, Unterstützung und Preise für ihre schulischen Leistungen. Es war, als sei das Mädchen wegen seines überlegenen Intellekts zur Perfektion verdammt.
»Laß uns einpacken und heimgehen«, schlug Marge vor. »Nimmst du dir noch Arbeit mit nach Hause?« fragte Oliver. »Vielleicht les ich im Bett noch ein oder zwei Berichte.«
»Gut, dann nehm ich die von Bert und du die von Tom.«
»Einverstanden.« Marge sortierte die Akten auseinander. Toms waren blau markiert, Berts rot. Alles in der Bürokratie war farbig markiert. Nach fünf Minuten war sie fertig und stand auf. »Danke für alles, Cindy.«
Cindy gelang ein schwaches Lächeln. »Ich wünschte, ich könnte euch mehr helfen. Mir macht es nichts aus, Berichte zu lesen.«
Marge tätschelte ihr den Rücken. »Ich weiß, daß dir das nichts ausmacht, aber es ist keine gute Idee. Du willst zu viel in zu kurzer Zeit, Cindy. Konzentrier dich darauf, wo du bist, und hör auf, daran zu denken, wo du hinwillst. Jeder weiß, daß du verdammt gut bist. Du wirst deine goldene Dienstmarke schon sehr bald bekommen. Bis dahin mußt du alles lernen, was die Straße zu bieten hat.«
Cindy nickte. »Du hast recht. Ich sollte mich auf das Wesentliche konzentrieren.«
»Genau«. Marge küßte sie auf die Wange. »Wiedersehen, Schätzchen. Paß auf dich auf.« Sie wandte sich an Scott. »Kommst du?«
»Geh schon vor«, sagte Oliver. »Ich muß noch schnell aufs Klo.« Er fragte Cindy: »Und dein Badezimmer ist ... wo?« Cindy deutete in die Richtung.
»Ich geh schon mal«, sagte Marge. »Ich möchte so schnell wie möglich nach Hause.« Sie winkte ihnen zu und ging.
Cindy räumte auf, wußte, was kommen würde. Da ihr nichts Besseres einfiel, beschloß sie, Angriff sei die beste Verteidigung. Wenn sie sich richtig abscheulich aufführte, würde er aufhören, sich um sie zu sorgen. Kurz danach kam Oliver aus dem Bad, die Hände in den Hosentaschen. Diesmal fiel ihr das auf. Er hatte sich auch die Haare gekämmt. Einzelheiten, die sie bemerkte. Darauf kam es an.
»Erzählst du's mir freiwillig, oder muß ich dir alles aus der Nase ziehen?« fragte Oliver.
Sie wusch die Becher aus. »Was soll ich dir erzählen?«
»Ah ja, wir spielen also das alte Spiel. Okay, auch recht. Was ist vorhin in der Küche passiert, Cindy?«
»Ich weiß nicht, was du ... «
»Doch, du weißt genau, was ich meine.«
»Alles in Ordnung.« Sie drehte das Wasser ab. »Geh nach Hause.«
Aber er ging nicht. Er trat hinter sie, legte ihr die Hände auf die Schultern, sagte sanft und einschmeichelnd: »Erzähl mir, was passiert ist.«
Sie drehte sich um, sah ihm in die Augen. Ihre Stimme war klar und hart. »Nichts ist passiert. Aber wenn es dir so wichtig ist, kann ich mir ja was ausdenken.«
Er betrachtete sie stumm.
»Geh nach Hause«, wiederholte sie. »Ich bin müde. Ich will ins Bett. Aber das geht nicht, so lange du hier bist.«
»Warum lügst du mich an?« Weil ich dir nicht die Wahrheit sagen will. »Warum vertraust du mir nicht?« Weil du ein Lügner bist.
»Irgendwas geht hier vor«, sagte er. »Bilder sind verstellt, in deinem Streifenwagen tauchen merkwürdige Zettel auf ...«
»Der Zettel war von der Werkstatt.«
»Mit den Worten Nicht vergessen?« Oliver verzog das Gesicht. »Was sollst du nicht vergessen?«
»Die Schlacht um Alamo?«
»Sehr witzig, Cindy. Gut, noch mal von vorne. Heute abend ist was passiert. Wenn du es mir nicht sagst, kann ich dir nicht helfen.«
»Nichts ist passiert.« Und ich brauch deine Hilfe nicht, Junge. Sie drehte ihm den Rücken zu, machte sich mit dem Geschirr zu schaffen. »Du findest allein raus, ja?«
Keine Antwort. Trotzdem wußte sie, daß er noch da war. Sie hörte seinen Atem, langsam, gleichmäßig. »Hast du nicht gehört ...«
»Ja, ich hab verstanden. Ich finde allein raus. In Ordnung. Ich gehe. Und eins will ich dir sagen, Decker. Ich komme erst wieder, wenn die Hölle zufriert.«
Einen Becher Kaffee in der Hand, kam Martinez in den Raum, in dem sie normalerweise Verhöre durchführten. Marge und Oliver waren bereits da. Der Tisch war zu zwei Dritteln mit Papieren bedeckt. Weiß Gott, wie lange sie schon da waren, denn er kam pünktlich. »Hey, Bert«, sagte Marge. »Setz dich.«
Martinez stellte den Becher ab, hängte sein Jackett über einen freien Stuhl. »Möchte jemand Kaffee? Ich hab frischen gemacht.«
»Na, ist er nicht toll?« Oliver warf Marge einen finsteren Blick zu. »Sie hat sich geweigert, Kaffee zu kochen.«
»Ich hab mich nicht geweigert«, protestierte Marge. »Ich hab nur gesagt, daß du dran bist.«
»Ich mach keinen Kaffee«, sagte Oliver. »Ich bin kein Schwein, aber meiner sieht immer wie Schlamm aus und schmeckt auch so.«
»Weil du dich weigerst, es zu lernen.«
»Was regt ihr euch so auf?« meinte Martinez. »Der Kaffee ist fertig. Ich hol euch welchen.« Er klang genervt. »Bin gleich wieder da.«
Oliver schaute auf die Uhr. »Wir haben's geschafft, ihn in knapp achtundzwanzig Sekunden auf die Palme zu bringen. Ein echter Rekord. Besonders bei einem so ausgeglichenen Burschen wie Mar-tinez.«
»Ich versteh nicht, warum du keinen Kaffee machst.« Jetzt war Marge sauer. »Du nimmst den Meßlöffel ...«
»Ich will's nicht wissen.«
»Gießt Wasser in die Maschine ...«
»Gib's auf.«
»Wie hat deine Ehe einundzwanzig Jahre gehalten?«
»Dreiundzwanzig.« Oliver klopfte mit dem Bleistift auf den Notizblock. »Keine Ahnung, Marge. Weil auch Heilige ihre Grenzen haben?«
Er klang trübsinnig. Marge hatte ein schlechtes Gewissen. Offenbar hatte sie einen Nerv getroffen. Um ihre Verlegenheit zu verbergen, vertiefte sie sich in die Unterlagen, bis Martinez zurückkam. Er reichte ihnen beiden einen Becher Kaffee und setzte sich. »Tom kommt später - wenn er es überhaupt schafft. Er mußte seine Frau letzte Nacht in die Notaufnahme bringen. Ihr Blutdruck war wieder viel zu hoch.«
»Wie weit ist sie?« fragte Marge. »Im achten Monat.«
»Die sollten die Geburt einleiten.«
»Das haben sie wohl auch vor«, sagte Martinez. »Oder vielleicht ein Kaiserschnitt. Denn so kann es nicht weitergehen. Weder für sie noch für Tom. Der Mann hat seit zwei Monaten keine Nacht mehr durchgeschlafen. Und das, noch bevor das Baby geboren ist.«
»Wer kümmert sich um das andere Kind?« fragte Marge. »Wie alt ist sein Sohn?«
»Sechs.« Martinez strich sich über den Schnäuzer. »Ihre Mutter wohnt zur Zeit bei ihnen.«
»Tom ist bestimmt begeistert.«
»Nein, er ist ihr sehr dankbar. Außerdem hilft meine Frau aus, wenn Grandma nicht mehr weiterweiß. James ist im gleichen Alter wie einer meiner Enkel.«
»Erst arbeitet man hart, um Kinder zu kriegen und sie großzuziehen. Dann dreht man sich eines Tages um, und sie sind weg, zusammen mit der eigenen Jugend«, grummelte Oliver. »Hör nicht auf ihn«, riet Marge. »Er hat schlechte Laune.«
»Warum?«
»Brauch ich einen Grund?« fragte Oliver.
»Was macht ihr hier eigentlich?« wollte Martinez wissen. »Versucht ihr, die neuen Carjackings mit Armand Crayton in Verbindung zu bringen? Wir haben's versucht. Hat nichts gebracht. Was hab ich übersehen?«
»Gar nichts. Wir glauben nicht, daß der Crayton-Fall was mit den neuen Überfällen auf Mütter mit Kindern zu tun hat.« Marge gab ihm die Tarkum-Akte. »Aber vielleicht mit dem hier: Elizabeth Tarkum, sechsundzwanzig, wurde vor zehn Monaten in ihrem Auto überfallen. Ihr Mann Dexter Bartholomew war ein ehemaliger Geschäftspartner von Armand Crayton.«
»Klar, an Bartholomew erinnere ich mich — den Mann vergißt man nicht.« Martinez blätterte die Berichte durch. »Und seine Frau wurde überfallen? Wo kommt der Fall her?«
»Aus Hollywood«, antwortete Oliver. »Detective Rolf Osmondson hat ihn bearbeitet. Sowohl im Fall Crayton wie auch im Fall Tarkum ging es um teure rote Autos. Und wir haben noch einen ... Stacy Mills. Ihr roter BMW wurde vor zwei Tagen geraubt.«
»Teure rote Autos«, sinnierte Martinez. »Sieht nach einem Muster aus. Was ist mit der Tarkum passiert?«
»Sie wurde dreißig Kilometer vom Ort des Überfalls entfernt gefunden. Offenbar betäubt.«
»Also wurde sie nicht ermordet wie Crayton«, stellte Martinez fest. »Wir haben überlegt, ob Crayton vielleicht gar nicht sterben sollte«, meinte Marge. »Kann sein, kann auch nicht sein. Im Moment ist das alles reine Spekulation.«
»Gut, dann spekulieren wir doch mal«, sagte Marge. »Angenommen, die Entführung war ein Racheakt, weil jemand durch Crayton Geld verloren hatte, und die Kidnapper waren nur angeheuert. Der Plan war, Crayton zu entführen und Lösegeld zu verlangen. Auf diese Weise wollte sich der betrogene Investor wenigstens einen Teil seines Geldes zurückholen. Aber dann ging was schief. Vielleicht sollte Lark Crayton an dem Tag nicht zu Hause sein. Aber sie war da, wurde Zeugin der Entführung und rief die Polizei. Plötzlich wurden die Entführer von der Polizei verfolgt. Die Corniche versuchte, den Verfolgern zu entkommen. Die Jagd wurde wilder und wilder, bis das Auto den Abhang hinunterstürzte. Crayton starb, und mit ihm die Hoffnung, das Geld zurückzubekommen. Der rachsüchtige Investor konnte nicht mehr an Crayton ran, also hielt er sich an einen von Craytons Partnern.«
»Interessantes Szenario, Margie, aber die haben nicht Bartholomew entführt, sondern seine Frau überfallen und ihr Auto geraubt. Außerdem ist ihr nichts passiert, und Lösegeld war offensichtlich auch nicht im Spiel.«
»Vielleicht haben die statt dessen das Auto genommen.«
Martinez blieb skeptisch. Marge beschloß, den Spieß umzudrehen. Sollte er doch ein Szenario vorschlagen. »Wenn Rache als Motiv ausgeschlossen ist, was habt ihr dann vermutet?«
»Natürlich haben wir an Rache gedacht, aber auch an andere Möglichkeiten.« Martinez' Becher war leer. »Ich hol mir noch welchen. Sonst noch jemand?«
Oliver stand auf. »Ich mach das schon.«
Marge sah ihn erstaunt an.
»Wenn ich Verbrennungen dritten Grades bekomme, bist du schuld!« Oliver nahm ihre Becher und ging raus.
»Scott ist kein schlechter Kerl«, meinte Martinez.
»Du brauchst ihn mir nicht anzupreisen. Ich hab die Besuche im Krankenhaus nicht vergessen.«
Marge lächelte ihn an. »Deine auch nicht.«
»Wirklich?«
»Ja, ich war nicht so weggetreten, wie ihr dachtet. Ich konnte nicht sprechen, aber ich hab alles gehört.«
Martinez zupfte an seinem Schnäuzer. »Du bist bestimmt froh, das alles hinter dir zu haben.«
»Allerdings.«
Gleich darauf kam Oliver zurück. »Was ist los? Ihr guckt so komisch.«
»Wir haben deine Vorzüge gerühmt«, sagte Marge.
»Vorzüge?« Oliver verteilte die Becher und setzte sich. »Du meinst, ich hab nicht nur einen Vorzug, sondern mehrere?«
»Na ja, bis jetzt sind wir nur auf dein volles Haar gekommen. Aber wir arbeiten noch daran.« Oliver lächelte, wandte sich an Martinez. »Welche Motive habt ihr außer Rache noch in Betracht gezogen, Bert?«
»Ein einfacher Diebstahl, der schiefging. Der Kerl fuhr schließlich einen Rolls Corniche.«
»Crayton hatte Geld dabei, als er starb«, informierte ihn Oliver. »Darum sag ich ja, ein schiefgegangener Diebstahl.«
»Warum nicht einfach das Auto klauen?« fragte Marge. »Den Fahrer zu kidnappen, machte die Sache viel komplizierter.«
»Ihr geht davon aus, daß die Sache geplant war«, sagte Martinez. »So wie Lark Crayton den Verlauf beschrieb, klang das mehr nach ein paar impulsiven Rabauken.«
»Und du glaubst, daß Lark die Wahrheit gesagt hat?«
»Wir haben sie damals gleich befragt. Es gab keinen Grund, ihre Geschichte anzuzweifeln. Sie hat sofort angerufen, har gesehen, wie Crayton mit Waffengewalt gezwungen wurde, in den Kofferraum zu klettern. Wir haben das Band vom Notruf abgehört. Ihre Panik wirkte echt. Mindestens fünf Streifenwagen haben den Rolls verfolgt, bis er abstürzte. Das Gelände ist dicht bewaldet. Die Täter konnten entkommen.«
»Sie konnten entkommen, obwohl sie von fünf Streifenwagen verfolgt wurden?« fragte Oliver ungläubig.
»Scott, du weißt, wie schnell so was passiert«, sagte Martinez.
Oliver nickte. »Können sie aus dem Auto gesprungen sein, be-. vor es den Abhang hinunterstürzte?« '
»Klar, möglich ist alles.«
»Und ihr habt Rache nicht ausgeschlossen?«
»Nein, weil Crayton schwer verschuldet war.«
»Außerdem hatte er eine Lebensversicherung«, warf Marge ein.
»Ja, über zwei Millionen«, bestätigte Martinez. »Er hat sie abgeschlossen, und Lark ist die Nutznießerin. Die Versicherung war mißtrauisch, genau wie wir. Aber wir konnten Lark nichts nachweisen. Ihre Geschichte war vage und einfach ... beinahe, als wäre sie eingeübt. Je unbestimmter und einfacher, desto schwerer ist es, einen Schwachpunkt zu finden. Wir haben sie total durchleuchtet. Sie ist keine Nonne, hat aber keine Vorstrafen. Hat die Versicherung je gezahlt?«
»Vor drei Wochen«, sagte Oliver.
»Also haben die auch nichts rausgefunden.«
»Ja, wir wollen mit denen reden. Das Versicherungsbüro macht um neun auf. Mal sehen, was sie haben.« Marge wärmte ihre Hände am Kaffeebecher. »Glaubst du wirklich, daß die Entführer irgendwelche Rabauken waren?«
»Zuerst nicht. Tom und ich waren überzeugt, daß ein verärgerter Investor dahintersteckte. Aber nach den endlosen Befragungen ... na ja, ihr habt die Berichte gelesen. Wir konnten nichts finden. Wir hofften, daß die Versicherung Lark Crayton was anhängen könnte. Aber wenn sie gezahlt hat ...«
»Was ist mit Dexter Bartholomew?« fragte Marge.
»Was soll mit dem sein?«
»Kam er euch irgendwie merkwürdig vor?«
»Total. Der Kerl ist ein absoluter Exzentriker. Aber wir konnten ihn nicht mit Craytons Tod in Verbindung bringen.« Martinez schaute auf die Tarkum-Akte. »Da war das hier noch nicht passiert. Wir müssen mindestens hundert Leute befragt haben. Die Sache sah so einfach aus. Der Mann hatte Schulden, also mußte jemand Zorn auf ihn haben. Aber damit kamen wir nicht weiter. Gut, dann eben kein Zorn. Die Frau ist Nutznießerin einer Lebensversicherung über zwei Millionen Dollar. Also nimmt man sich den Aspekt vor. Und kommt auch nicht weiter. Nach einer Weile denkt man, na gut, vielleicht war es wirklich bloß Pech. Crayton war zur falschen Zeit am falschen Ort.« Er hob die Tarkum-Akte hoch. »Möglich, daß das was bewegt. Ich nehme an, jemand hat Bartholomew wegen des Überfalls auf seine Frau befragt?«
»Osmondson«, sagte Oliver. »Hat er Crayton erwähnt?«
Oliver schüttelte den Kopf. »Ich glaube, der Zusammenhang mit Crayton war ihm nicht klar, bevor ich ihm davon erzählt habe. Bartholomew muß noch mal befragt werden. Du hast das damals gemacht. Willst du es übernehmen?«
»Da die Tarkum-Sache euer Baby ist, solltet ihr die beiden vernehmen«, meinte Martinez.
Marge wandte sich an ihren Partner. »Rede du mit Elizabeth Tarkum. Ich nehme Dex.« Sie lächelte.
»Dex nehmen klingt wie eine Droge, was?«
»Wunschdenken.« Wieder klopfte Oliver mit dem Bleistift. »Gibt's einen Grund für diese Mann/Frau-Aufteilung? Wenn die Tarkum eine Affäre mit Crayton hatte, würde sie es dir gegenüber leichter zugeben.«
Marge war verblüfft. »Wieso sollte sie eine Affäre mit Crayton gehabt haben?«
»Sie ist jung und mit einem alten Mann verheiratet. Crayton läuft ihr über den Weg, wirft mit Geld um sich wie mit Kaugummipapier. Er schmeißt Riesenpartys und gilt als Playboy.« Oliver zuckte die Schultern. »Du kannst es eine Ahnung nennen.«
»Okay. Ich nehme trotzdem Dexter Bartholomew. Der Kerl ist zwar Ölmillionär und ein Macho, aber bei mir — einer Frau — wird er sich wahrscheinlich nicht so in Pose werfen.«
»Das mag sein«, meinte Oliver. »Mit den Schwanz zu wedeln, macht wenig Spaß bei einem schwanzlosen Gegner.«
»Schwanzlosigkeit ist ein rein physischer Aspekt«, entgegnete Marge. »Ich kann genausogut aufschneiden wie jeder andere.«