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Nachts hätte es passieren sollen, in der abgelegensten Ecke eines schwach beleuchteten Parkplatzes. Statt dessen geschah es am helllichten Tag, mittags um fünf vor halb zwei. Farin wußte, wie spät es war, sie hatte durchs Autofenster auf die Uhr ihres Volvos geschaut - angeblich eines der sichersten Autos. Farin war eine Sicherheitsfanatikerin. Was ihr jetzt auch nicht viel half.

Es war nicht fair, sie hatte alles richtig gemacht, hatte auf einem offenen Gelände gegenüber vom Kinderspielplatz geparkt, Himmel noch mal! Überall waren Menschen. Zum Beispiel der Mann mit dem Pitbull, das Paar, das den sonnigen Pfad entlangging. Mütter hatten ein Auge auf ihre Kinder. Aber natürlich achtete keiner auf Farin. Viele Menschen, aber keiner würde ihr helfen, weil eine Waffe auf ihren Rücken gerichtet war. Farin sagte: »Bitte, tun Sie meinem Kind ... «

»Halt die Klappe! Kein Wort, sonst bist du tot!« Die Stimme eines Mannes. »Sieh geradeaus!« Farin gehorchte.

Die körperlose Stimme redete weiter. »Dreh dich nicht um, oder es knallt. Sieh mich nicht an. Kapiert?«

Farin nickte, hielt den Blick gesenkt. Seine Stimme war verhältnismäßig hoch. Er sprach abgehackt, vielleicht mit Akzent.

Sofort fing Tara an zu weinen. Mit zitternden Händen drückte Farin ihre Tochter an die Brust, summte ihr leise ins Ohr. Instinktiv schob sie ihre Handtasche über Taras Rücken, zog den Mantel über Tasche und Kind. Falls der Mann schoß, würden ihr Körper und die Handtasche Tara schützen, die Kugel mußte erst etwas anderes durchschlagen, bevor sie ... Die Waffe bohrte sich in ihren Rücken. Farin biß sich auf die Lippe, um nicht aufzuschreien. »Laß die Tasche fallen!« befahl die Stimme.

Farin gehorchte sofort. Sie hörte, wie er die Handtasche durchwühlte, einhändig, die Waffe immer noch auf sie gerichtet.

S

Bitte mach, daß er nur die Handtasche will! Metall klirrte. Ihre Schlüssel? Aus dem Augenwinkel sah sie, daß die Beifahrertür ihres Kombis geöffnet worden war. Wieder spürte sie den Druck der Waffe.

»Steig ein. Auf der Beifahrerseite! Sofort, oder ich erschieß dein Balg!«

Als ihr Kind erwähnt wurde, verlor Farin die Fassung. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie drückte die Kleine an sich, ging um die Motorhaube herum, jeder Gedanke an Flucht unmöglich, weil der Mann jeden Moment schießen konnte. An der offenen Tür blieb sie stehen. »Steig ein!« blaffte er. »Schnell!«

Tara an die Brust gedrückt, bückte sie sich, schwankte, fand ihr Gleichgewicht, schob sich auf den Sitz. »Rutsch rüber!«

Farin wußte nicht recht, wie sie das machen sollte. Der Wagen hatte Schalensitze, dazwischen eine Konsole. Unbeholfen und zögernd, Tara immer noch an sich gepreßt, hob sie ihren Hintern über die ledergepolsterte Konsole in den Fahrersitz. Nun saßen sie beide hinter das Steuer geklemmt. Wieder begann Tara zu weinen. »Sie solls Maul halten!« knurrte er.

Sie ist noch ein Baby! wollte Farin rufen. Sie hat Angst! Statt dessen wiegte sie die Kleine, sang ihr leise ins Ohr. Er saß direkt neben ihr, hatte die Waffe an ihre Rippen gepreßt.

Sieh ihn nicht an, ermahnte sich Farin. Sieh nicht hin, sieh nicht hin, sieh nicht hin!

Sie starrte geradeaus, merkte aber, daß die Waffe jetzt auf Taras Kopf gerichtet war.

Denk nach, Farin! Denk nach!

Doch ihr Kopf war leer, kein rettender Gedanke, nichts. Angst hatte jede Pore ihres Körpers durchdrungen, das Herz hämmerte gegen ihre Rippen. Die Brust wurde ihr eng, ihr Atem ging schwer. Innerhalb von Sekunden fühlte Farin Benommenheit, und ihr wurde schwarz vor Augen.

Sie sah Funken, hatte das schreckliche Gefühl, ins Nichts zu gleiten.

Nein, er hatte nicht abgedrückt. Sie war nur kurz davor, ohnmächtig zu werden!

]etzt nicht, du Idiotin! Das darfst du nicht tun ... »Gib mir das Gör! Fahr los!«

Tara saß immer noch auf ihrem Schoß, die kleinen Hände in Farins Bluse gekrallt. Wenn sie Tara losließ, waren sie beide hilflos, beide verloren; sie mußte endlich etwas unternehmen.

Ohne Vorwarnung warf sie sich seitwärts, rammte ihre Schulter mit aller Wucht gegen die Hand mit der Waffe. Obwohl er durch die plötzliche Bewegung die Waffe nicht losließ, wurde wenigstens sein Arm weggeschubst. Was Farin eine Sekunde Zeit gab.

Jetzt war die Konsole von Vorteil, denn der Mann mußte sie überwinden, um an Farin ranzukommen. Sie drückte den Griff runter, trat die Tür weit auf, umklammerte Tara, schoß aus dem Fahrersitz und wollte weglaufen. Aber ihr Schuh blieb hängen, sie stolperte, fiel zu Boden. Verdammt!

Im Fallen dachte sie: Fang den Fall mit der Hüfte ab, schütz Tara mit deinem Körper, dann tritt um dich ... Sie drehte sich, landete auf Hüfte und Schulter, schrammte sich die Wange auf. Sofort rollte sie sich über Tara. Sie fand ihre Stimme wieder, stieß einen Schrei aus, der jedem Horrorfilm Ehre gemacht hätte.

Eine tiefe Männerstimme rief: »Was ist denn da drüben los?« Obwohl sie nichts sehen konnte, hatte Farin das Gefühl, daß die Stimme zu dem Mann mit dem Pitbull gehörte. Es knallte mehrmals. O Gott, dachte sie, er schießt auf mich!

Farin machte sich auf das Schlimmste gefaßt — das Stechen, den Schmerz, das Zusammenkrümmen oder was sonst kam ... auf sie war noch nie geschossen worden. Aber nichts durchdrang ihren Körper.

Das Knallen kam vom Motor ihres Wagens. Sekunden später fuhr der Volvo mit kreischenden Reifen los. Einer der Hinterreifen rollte über Farins linken Fuß und Knöchel. Jetzt kam der Schmerz! Er durchflutete ihren Kopf und ließ sie aufschluchzen. Laut, aber Taras durchdringende Schreie waren noch lauter.

O Gott! Mein Kind ist verletzt! »Hilfe!« rief sie. »Warum hilft mir denn keiner?« Fuß und Knöchel waren gequetscht, ihr ganzer Unterkörper brannte vor Schmerz, besonders Beine und Hüften. Farin hob sich der Magen, das Gesicht fühlte sich an, als sei ein Bienenschwarm über sie hergefallen. Sie konnte kaum atmen, meinte, einen Herzanfall zu haben. Wenigstens konnte sie die Zehen ihres rechten Fußes bewegen, gelähmt war sie also nicht.

Während sie gequält stöhnte und schluchzte, sah sie den Mann mit dem braunen Pitbull auf sich zurennen. Er brüllte nach Hilfe, das konnte Farin hören. Der Pitbull bellte wie wild, bedrohlich, zerrte an der Leine. Plötzlich riß er sich los, kam in vollem Galopp auf sie zu! Setzte zum Sprung an! Flog durch die Luft!

Auch das noch! Er würde sie zerfleischen!

Der Hund war nur noch Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt. Sie fiel in Ohnmacht, als der Pitbull ihr das tränenüberströmte Gesicht ableckte.

Der Ehemann war stocksauer, wollte Decker mit bösen Blicken vertreiben. Kein Wunder. Decker, mit seinen 25 Jahren Berufserfahrung, nahm es auch nicht persönlich. Das gehörte eben zum Job. »Sehen Sie sich meine Frau an!« rief der Mann. »Sie hat Schmerzen ...«

»Mir geht es gut, Jason ... «

»Nein, es geht dir nicht gut!« unterbrach Jason. »Du bist völlig erledigt. Das war doch die Hölle für euch!« Er wurde rot vor Wut. Plötzlich zitterte seine Unterlippe. »Du mußt dich ausruhen, Farin.« Er war dem Zusammenbruch nahe. Decker verstand das Gefühl nur allzu gut, diese Hilflosigkeit, die das Gehirn vernebelt und einen rasend macht. Männer mußten ihre Familie beschützen. Wenn ihnen das nicht gelang, überrollten sie Schuldgefühle wie eine Flutwelle. Ehrlich gesagt, sah Farin Henley grauenhaft aus. Die Frau hatte tiefe Schürfwunden an der linken Wange, vermutlich am ganzen Körper. Ihr linkes Bein war bis zur Hüfte eingegipst. Das Bein war zwar nicht gebrochen, wie der Arzt Decker versichert hatte, aber der Knöchel hatte Mehrfachfrakturen. Je weniger sie das Bein bewegte, desto besser würde der Knöchel heilen.

Trotz der Wunden und Kratzer sah Decker, daß Farin eine hübsche Frau war. Ein rundes, mädchenhaftes Gesicht, eingerahmt von kurzem, honigblondem Haar. Große blaue Augen, die jetzt rot gerändert waren. Decker schätzte sie auf Ende zwanzig. Ehemann Jason war vermutlich im selben Alter. Helle Haut, dunkelbraune Augen. Kräftiges braunes, geföhntes Haar. Seine schwarzen Augenbrauen bildeten perfekte Bögen. Weiße, schimmernde Zähne, obwohl er bisher noch nicht gelächelt hatte. Er war mittelgroß, aber gut gebaut. Jason hielt sich fit.

Statt direkt vorzugehen, entschied sich Decker für einen Umweg. Er schaute in das Kinderbett, das neben Farins Krankenhausbett stand, betrachtete das schlafende Kind. Taras Porzellanhaut war voller Kratzer, aber die Wunden schienen nur oberflächlich zu sein. Das Baby nuckelte im Schlaf am Daumen.

»Wie alt ist sie?« fragte Decker. »Etwa achtzehn Monate?« Farin wischte sich die Tränen ab. »Stimmt.«

Jason blieb feindselig. »Was soll das? Wollen Sie sich anbiedernd? Wie rührend!«

»Jason!« wies ihn Farin zurecht.

»Werden Sie das Monster fassen?« Jason verdrehte die Augen. »Vermutlich nicht. Sie haben keine Ahnung ... «

»Doch, die haben wir.« Schweigen. »Und?« fragte Jason erwartungsvoll.

Decker wandte sich an Farin. »Haben Sie das Gesicht Ihres Angreifers gesehen, Mrs. Henley?« Farin leckte sich die aufgesprungenen Lippen und schüttelte den Kopf. »Er hat mir verboten, ihn anzusehen.« Sie schluckte schwer. »Er sagte, sonst würde er mich erschießen.« Jason meinte: »Das scheint Sie nicht zu überraschen, Lieutenant.«

»Wir haben noch weitere Fälle von Autoraub«, sagte Decker. »Die meisten sind tagsüber passiert und betrafen Frauen mit kleinen Kindern. Der Autodieb - oder die Diebe, denn wir glauben, es ist ein Ring — befiehlt den Frauen, ihn nicht anzusehen, sonst erschießt er das Kind.«

»Genau!« rief Farin. »Er sagte, er würde ...« Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Er sagte, er würde sie erschießen.« Sie deutete auf Taras Kinderbett. »Was ist mit den anderen Frauen? Geht es ihnen gut?«

»Ja, es geht ihnen gut.«

»Gott sei Dank.« Farin verstummte. »Hab ich mich richtig verhalten? Als ich versuchte wegzulaufen?«

»Sie haben überlebt, Mrs. Henley. Das bedeutet, Sie haben das Richtige getan.«

»Sind die anderen Frauen auch geflohen?«

Decker fuhr sich durch das rote, mit Grau durchsetzte Haar. Eigentlich mehr Silber als rot. Ach, zum Teufel! Rina liebte ihn, und Hannah wurde nur selten für seine Enkeltochter gehalten. Er sah noch ganz gut aus. Nicht jung, aber auch nicht allzu schlecht für einen älteren Mann. »Sie leben«, antwortete er. »Das sind laufende Fälle. Ich kann Ihnen keine Einzelheiten nennen.« Die Einzelheiten umfaßten Einbruch, Raub, Prügel und Vergewaltigungen. Die Überfälle hatten vor zwei Monaten begonnen und waren immer brutaler geworden. Wenn die Serie ungehindert weiterging, würde als nächstes ein Mord passieren. Decker hatte zehn Detectives auf die Sache angesetzt — eine gemeinsame Aktion der Dezernate für Sexualverbrechen, Raubüberfälle und Autodiebstahl. Mit etwas Glück würden die Verbrechen innerhalb dieser drei Kategorien bleiben und das Morddezernat nicht mit einbeziehen.

Jason wand sich. »Das Arschloch hat die Tasche meiner Frau. Ich habe bereits die Schlösser ausgewechselt und die Kreditkarten sperren lassen.«

»Sehr klug von Ihnen.«

»Ist ... « Jason schloß kurz die Augen. »Bei den anderen Fällen, ist da einer ... von diesen Männern später in das Haus des Opfers gekommen?«

»Nein«, erwiderte Decker. Noch nicht, dachte er.

Erleichterung zeigte sich in Jasons Blick. Er sah zu seiner Frau. »Ich hab's dir doch gesagt, der Kerl ist ein Feigling. Ganoven, die sich an Frauen ranmachen, sind Feiglinge. Der kommt nicht wieder, Farin. Und falls doch, werde ich mit dem Hurensohn schon fertig!«

Fertig werden bedeutete eine Waffe. Eine schlechte Idee, es sei denn, Jason wußte unter Druck mit einer Waffe umzugehen. Nur wenige Waffenbesitzer wissen das. Decker konnte den Mann nicht davon abhalten, sich etwas zu seinem Schutz zu besorgen. Und er verstand die Gründe. Er hoffte nur, daß Henley klug genug war, die Waffe kindersicher aufzubewahren. Er würde sich Henley allein vorknöpfen und ihm den sicheren Umgang mit Waffen erklären. »Ich denke immer noch, daß ich etwas hätte tun sollen ... etwas bemerken müssen.« Decker schüttelte den Kopf. »Die Kerle sind Profis, Mrs. Henley. Sie haben Ihre Sache sehr gut gemacht.«

»Und was tun Sie, um die Gangster zu schnappen?« wollte Jason wissen. »Ich rede mit Leuten wie Ihrer Frau ... hoffe, daß sie uns wichtige Details mitteilen können.«

»Sie haben gerade gesagt, daß die Dreckskerle den Frauen verbieten, sie anzusehen.«

»Vielleicht ist es einer gelungen, heimlich einen Blick zu riskieren.«

»Sie haben also nichts. Im Grunde sitzen Sie nur auf Ihrem Hintern und warten, daß andere die Arbeit für Sie machen.«

»Jason!« schimpfte Farin. »Entschuldigen Sie, Lieutenant ... «

»Du brauchst dich nicht für mich zu entschuldigen«, unterbrach Jason. Er wandte sich wieder an Decker: »Was gedenken Sie zu tun?«

Fünf Frauen arbeiten undercover, dachte Decker. Und das ist nicht leicht, Junge, weil wir keine Babys als Lockvögel einsetzen können. Wir müssen Puppen verwenden oder Hunde oder andere Beamte, die als ältere II

Leute verkleidet sind. Irgendwas, damit diese Scheißkerle denken, sie hätten eine leichte Beute vor sich. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen mehr sagen, Mr. Henley.« Decker blieb ganz ruhig. »Aber das kann ich nicht.«

»Vermutlich tun Sie gar nichts.«

Decker antwortete nicht. An Farin gewandt, sagte er: »Sind Sie bereit, die Sache Schritt für Schritt mit mir durchzugehen?«

»Ja.«

»Bist du sicher?« fragte Jason. »Ja.«

Decker schaute Jason an. »Wollen Sie dabei sein?«

»Klar.«

»Sie regen sich nur noch mehr auf.«

»Tu ich sowieso!« blaffte Jason. »Ich bin außer mir! Ich bin ... ich bin ... « Er verstummte, rieb sich die Stirn. »Haben Sie ein Aspirin dabei? Ich habe die Schwester gefragt, aber die verlangen hier fünf Dollar pro Tablette.«

Decker zog das Fläschchen Advil aus der Manteltasche, das er stets bei sich trug, und warf es ihm zu. »Gehen die auch?«

Jason nahm zwei Tabletten und warf das Fläschchen zurück. »Danke.«

»Keine Ursache.« Den Notizblock in der Hand, sagte Decker zu Farin: »Nehmen Sie sich Zeit.« Farin nickte.

»Schießen Sie los, wenn Sie soweit sind.« Er verzog das Gesicht. »Tut mir leid. Keine gute Wortwahl.« Farin lächelte. »Schon gut.«

Dieselben Worte hatte Decker bei den anderen fünf Opfern der Carjacker gebraucht. Alle hatten darüber gelächelt, genau wie Farin. Volltreffer, was das Lächeln anging. Zu dumm, daß seine Aufklärungsrate nicht annähernd so beeindruckend war.