5

Cindy drehte sich um, merkte, daß ihr die Hitze ins Gesicht schoß. Sie hoffte, die anderen hatten es nicht bemerkt, wußte aber, daß es nicht zu übersehen war. Ihre Haut war sehr hell. Sie errötete immer, wenn sie wütend war, verlegen oder stark erregt. Zumindest hatte man ihr das gesagt.

Er war im Ninjastil gekleidet — schwarzes T-Shirt, schwarze Kordhose, schwarze Lederjacke, geschnitten wie ein Sakko. Sein dunkles Haar war glatt zurückgekämmt und grau an den Schläfen.

In seinen Augen lag der wachsame Polizistenblick, den Cindy von ihrem Vater kannte. Aber seine Haltung war locker und entspannt. Er ging nicht auf sie zu, er schlenderte, als verlieh ihm sein Detective-Status Rechte, die den einfachen Uniformierten nicht zustanden. Er setzte sich Cindy gegenüber, fixierte aber Hayley, was sie nervös zu machen schien.

»Was machst du denn hier?« Hayley hielt seinem Blick stand, goß den restliche Chardonnay runter. »Mischst du dich unters Volk?«

»Ein paar von uns machen tatsächlich Überstunden, Marx.«

»Und woran arbeitest du?« fragte Hayley. »Die neuen Pfadfinder kommen erst im September.«

Er grinste, zeigte blendendweiße Zähne, winkte gleichzeitig der Kellnerin zu, ihm einen Drink zu bringen. »Wie du mit deinen Vorgesetzten redest.«

»Du bist nicht mein Vorgesetzter«, gab Hayley zurück.

»Im Moment nicht, aber das kann ja noch werden.«

Hayley drehte sich nach links, zu Cindy. »Cindy Decker, Scott Oliver.«

»Wir kennen uns.« Oliver klang unbekümmert. »Ich arbeite mit ihrem Daddy. Oder eher für ihren Daddy. Big Decker ist mein Lieutenant.«

»Du arbeitest in Devonshire?« fragte Rhonda.

»Ja«, erwiderte Oliver. »Ich war schon zwei Jahre bei der Mordkommission, bevor Decker an Bord kam - der Einschleimer, den sie uns vor die Nase gesetzt haben.«

»Oh-oh«, sagte Cindy. »Muß ich mir das anhören?«

»Da gibt's nichts zu hören.« Oliver grinste sie an. »Ich hab meinen Frieden damit gemacht.«

Aber sein Blick verriet, daß das letzte Wort noch nicht gesprochen war. »Wie ist er als Boß?« wollte Cindy wissen.

»Kommt drauf an, an welchem Tag man ihn erwischt. Wie ist er als Vater?«

»Kommt drauf an, an welchem Tag ... «

»Ah ja.«

Cindy lachte leise. »Du siehst ihn vermutlich öfter als ich.«

»Vermutlich.« Oliver wandte seine Aufmerksamkeit wieder Hayley Marx zu. »Du siehst gut aus.«

»An den Schleimern da draußen liegt's nicht.«

»Ist das eine Anspielung auf Anwesende?«

Hayley lächelte. »Ich verweigere die Aussage.«

Jasmine brachte ihre Bestellungen. »Hey, Oliver, dich hab ich aber lange nicht gesehen. Kehrst du in deine alten Jagdgründe zurück?«

»Bin leider nicht zum Vergnügen hier«, sagte Oliver. »Ich treff mich mit Osmondson.«

»Also was Berufliches. Soll ich dir die Ecknische reservieren?«

»Danke, das wäre nett.«

Alle schwiegen, während Jasmine das Essen verteilte. Oliver stellte sie ein Bier hin. »Hast du eine Ahnung, was Rolf trinkt?«

»Letztes Mal, als ich ihn sah, war's Stoly, pur«, meinte Oliver.

»Ich glaube, er trinkt keinen Alkohol mehr. Ich bring ihm Mineralwasser. Wenn er was Stärkeres will, soll er's sagen.«

Oliver betrachtete sein Bier. »Weißt du was, Jasmine? Ich muß mich heute abend konzentrieren. Ich nehm auch ein Mineralwasser.«

»Ich tausche mit dir«, sagte Cindy. »Ein Cola light gegen ein Bier.«

Hayley kicherte. »Sie säuft sich einen an.«

»Nee, mir geht's gut ... «

»Berühmte letzte Worte.« Oliver gab Cindy sein Bier. »Das geht auf mich. Und du kannst dein Cola light behalten.« Hayley sah zur Bar hinüber. Andy Lopez und Tim Waters beäugten sie. »Du ziehst die Schmeißfliegen an.«

Oliver lachte. »Ach was, Marx, das sind deine Pheromone ... «

»Nein, das bist du«, unterbrach ihn Hayley. »Seit du hier bist, denkt deine Spezies, sie könnte sich anschleichen.«

»Meine Spezies?« wiederholte Oliver. »Soviel ich in Biologie gelernt habe, gehören wir zur selben Spezies.«

»Alle, mit denen ich je gesprochen habe, sagen was anderes.«

»Gut gegeben.« Oliver sah zur Tür. »Da kommt meine Verabredung.«

Cindy drehte sich um. Rolf Osmondson war groß, kahlköpfig, hatte einen beachtlichen Bauch und trug einen Schnauzbart. Er sah aus, als hätte er die Fjorde erforscht. »Der kommt mir aber gar nicht wie dein Typ vor, Scott.«

Oliver betrachtete sie mit gespielt bestürzter Miene. »Fängst du jetzt auch noch an?«

»Ich zeig nur Solidarität mit meinen Schwestern.«

Oliver drohte ihr mit dem Finger. »Zieh keine Gräben, Decker, wenn du nicht zum Kampf bereit bist.« Er strich mit dem Zeigefinger über Hayleys Schulter. »Bis später, Ladys.« Eine Pause. »Oder auch nicht.«

Cindy sah ihm nach, wie er den Norweger begrüßte, ihm die Hand schüttelte. Sie gingen zu der reservierten Nische in der Ecke. Außer Cindys Sichtweite, was wohl Absicht war: Sie wollten in Ruhe einen Fall besprechen. Aus den Augenwinkeln betrachtete sie Hayley, die sichtlich aufgewühlt war, ihr Sandwich bearbeitete, sich einen Bissen in den Mund schob und langsam kaute. Alle schwiegen.

Schließlich sagte Hayley: »Er ist so ein Idiot!« Dann, flüsternd: »Ich bin eine intelligente Frau. Warum hat er bloß diese Wirkung auf mich?«

Cindy spießte eine Fritte auf. »Du kennst doch den Sheryl-Crow-Song — >My Favorite Mistake<. Solche Fehler machen wir alle.«

»Tja, ich wünschte nur, meiner wäre kein solches Arschloch!« Sie stand auf. »Ich muß mir die Lippen nachziehen.«

Als Hayley weg war, biß Rhonda in ihr Putensandwich. »Armes Ding.«

»Sie hat sich gut gehalten.«

»Außer daß sie ganze Schweißseen unter den Achseln hat.«

»Wie lange waren die beiden zusammen?«

»Ich glaube nicht, daß sie je wirklich zusammen waren. Es war mehr eine zufällige Geschichte.«

»Nicht für sie«, entgegnete Cindy. Sie sah auf ihren Teller, zur Decke, zur Bar. Uberall hin, nur nicht hinter sich. Andy Lopez fing ihren Blick auf. Unwillkürlich nickte sie, was dumm war. Weil Andy Tim anstieß. Beide standen auf.

»O je.« Zur Stärkung nahm Cindy einen großen Schluck Bier. »Da kommen sie.«

Rhonda leckte sich die Finger, die voller Bratensoße waren. »Benimm dich. Du bist viel zu jung, um schon so abgebrüht zu sein. Wie alt bist du? Einundzwanzig?«

»Fünfundzwanzig.«

Rhonda war erstaunt.

»Ich weiß, ich sehe jünger aus.«

»Wenn du keinen Alkohol trinken würdest, hätte ich dich für achtzehn gehalten.«

»Hey, Decker.« Tim Waters knallte seinen Scotch auf den Tisch. Er war mittelgroß, hatte hellbraunes Haar, trübe grüne Augen und ein nichtssagendes Gesicht. Cindy kam er wie der typische Durchschnittsamerikaner vor. »Hab gehört, du bist bei Tropper groß rausgekommen.«

»Gute Neuigkeiten verbreiten sich schnell.« Cindy deutete auf die Stühle. »Setzt euch. Aber bringt noch was zu trinken für Hayley mit.«

»Wir dachten, nachdem sie Oliver gesehen hat, war sie abgehauen«, meinte Waters.

Sein Grinsen war häßlich. Cindy starrte ihn durchdringend an. Das schien zu wirken, denn er wurde rot. »Nein, Hayley ist noch da ... sie ist nur kurz aufs Klo gegangen.«

Waters nahm sich einen Stuhl und setzte sich. Andy Lopez rutschte neben Rhonda. Er war klein, schlank, aber Cindy erinnerte sich an die Gewichte, die er im Trainingsraum der Akademie gestemmt hatte.

»Brown hat gesagt, du hättest deine Sache gut gemacht«, sagte Lopez.

Sie sah ihn an. »Gut zu hören.« Mit gerunzelten Brauen fügte sie hinzu: »Warum hab ich das Gefühl, daß noch ein Nachsatz dazu gehört?«

Lopez schien sie nicht zu verstehen.

Sie seufzte. »Was hat Brown noch gesagt?«

»Brown sitzt da drüben.« Waters deutete mit einem Kopfnicken in Richtung Bar. »Warum fragst du ihn nicht?«

»Weil ich gerade esse.« Cindy trank mehr Bier. »Was hat er gesagt, Andy?«

»Nur daß ... « Lopez klaute eine von Cindys Fritten. »Du weißt schon ... « Seine Stimme verklang. »Vielleicht, daß ich mich produziert habe?« Cindy fing Jasmines Blick auf, zeigte auf ihr leeres Bierglas. »Ich hab keine Schau abgezogen.«

»Ich glaub dir ja, Cin ... «

»Die Situation war sehr angespannt. Ich hab getan, was ich konnte, ehrlich.«

»Brown sagt, du hast das gut gemacht«, wiederholte Waters. »Warum zickst du so rum?«

»Weil Tropper sauer ist.«

»Ja, Tropper ist echt sauer«, bestätigte Lopez.

Cindy starrte ihn an. »Und?«

Lopez stibitzte sich noch eine Fritte. »Himmel, Decker, ich sag's ja bloß. Laß deine Wut nicht an mir aus.«

»Vergiß es, Decker. Tropper wird dir nichts tun«, fügte Waters hinzu.

Beinahe Wort für Wort, was Beaudry gesagt hatte. »Woher weißt du das?« fragte Cindy. »Wieso? Weil er Angst vor meinem Vater hat oder was?«

Waters nahm einen Schluck Scotch. »Sagen wir mal so, er hat einen gesunden Respekt vor Autorität.«

Jasmine kam mit einem frisch gezapften Bier, betrachtete Cindy besorgt. »Du weißt, daß das kein Litebier ist, Hon, oder? Vielleicht solltest du was essen. Besser, du hast was im Magen, sonst steigt dir das Zeug zu Kopf.«

Cindy biß von ihrem Sandwich ab. Es schmeckte wie Stroh. Sie spülte es mit Bier runter. »Mir geht's gut. Ehrlich.«

Waters lächelte. »Und wenn nicht, kann ich dich heimfahren.«

»Das wird nicht nötig sein.«

Hayley kam zurück, frisch geschminkt. Cindy fand, sie sah super aus. Offensichtlich fand Waters das auch. Seine Augen blieben ein bißchen zu lange an ihrem Busen hängen. Marx funkelte ihn an. »Wer hat denn dieses Gesindel reingelassen?«

»Ich bekenne mich schuldig.« Cindy hob die Hand. Mutter Jasmine hatte recht gehabt. Nach mehr als vier Bier brummte ihr der Schädel, und sie brauchte unbedingt was im Magen. Sie wollte noch mal abbeißen, knabberte aber nur am Rand herum. Andy beäugte das Sandwich sehnsuchtsvoll.

»Willst du was davon, Lopez?« fragte Cindy. »Ich bin wirklich nicht hungrig.«

»Tja, wenn du es nicht willst.« Lopez brach die Hälfte ab. »Bevor es verkommt ... «

Plötzlich wurde die rauchige Luft drückend, schnürte ihr die Kehle zu. Sie war außer Atem, wollte aber nicht nach Luft schnappen. Die Anspannung war durch den dramatischen Nachmittag noch größer geworden. Dazu der Alkohol. Cindy hatte das Gefühl, gleich aus der Haut zu fahren.

Sie mußte raus, und zwar sofort. Rasch stand sie auf. Ebenso rasch begann der Raum sich zu drehen. Sie stützte sich auf dem Tisch ab, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.

»Alles in Ordnung, Decker?« fragte Hayley. »Setz dich, Mädchen. Du siehst blaß aus.«

»Nein, mir geht's gut.« Ein angestrengtes Lächeln. »Bin nur müde.«

»Komm, ich fahr dich nach Hause«, sagte Andy.

Sie wußte, daß er das aufrichtig meinte. Und es war sinnvoll, weil sie benebelt war. Aber der Gedanke, mit ihm im Auto zu sitzen, gefiel ihr nicht. »Danke, Andy.« Wieder ein Lächeln. »Mir geht's wirklich gut.«

»Ich fahr dich«, bot Rhonda an. »Hayley kann mich nachher abholen ... «

»Das ist nicht nötig!«

Sie klang barscher als gewollt. »Wirklich, Rhonda. Danke, aber ich schaff das schon. Bis später.« Sie warf sich die Tasche über die Schulter. Da sie wußte, daß die anderen sie beobachtete, bemühte sie sich, sehr gerade zu gehen. Aber sobald sie draußen war, brach ihr der Schweiß aus. Ihr Herz klopfte wie wild, ihre Hände zitterten, und alles verschwamm ihr vor den Augen. Schwankend stand sie auf dem Parkplatz, starrte auf das Meer von Autos. Wo, zum Teufel, war ihres? »Bitte, lieber Gott«, betete sie. »Mach, daß ich heil nach Hause finde, und ich werd's nie wieder tun.«

Sie suchte erst die eine Reihe ab, dann die nächste. Die dunstige Nachtluft trug wenig zu ihrer Wiederbelebung bei, kräuselte aber ihr Haar.

Endlich entdeckte sie ihn — ihren Saturn. Sie hätte ihn nie bemerkt, wenn er nicht unter einer Laterne gestanden hätte. Ihr Wagen war in dem glitzernden Neongrün lackiert, daß vor ein paar Jahren so modern war. Jetzt war der Farbton passe, und das Coupe sah aus wie ein alte, angemalte Hure.

Sie schwankte zu ihrem Auto, fummelte mit den Schlüssel herum. Schweiß lief ihr von der Stirn. Mühsam gelang es ihr, die Tür aufzuschließen, aber dann begann sich die Welt zu drehen. Cindy schloß die Augen, doch das Drehen wollte nicht aufhören. Sie lehn-re sich gegen das Metall, drückte den Kopf gegen das dicke, kühle Glas, betete, daß sie nicht kotzen mußte. »Gib mir ...«

Cindy schreckte zusammen, machte einen Satz zurück, stieß beinahe gegen seine Brust. Sie drehte sich um, funkelte ihn an, vergaß ihr verschwitztes Gesicht. »Schleichst du dich immer so an?«

»Nur an Verbrecher«, antwortete Oliver. »Was du auch sein wirst, wenn du in dieser Verfassung fährst. Gib mir die Schlüssel.«

Ihr war zu schlecht zum Streiten. Sie reichte ihm den Schlüsselring.

»Schaffst du es auf die andere Seite?«

»Wenn ich langsam genug gehe.« Oliver öffnete die Fahrertür. »Rutsch rein.«

»Danke.«

Unbeholfen hievte sie sich auf den Beifahrersitz, legte den Kopf zurück, schloß die Augen. Immer noch drehte sich alles. Sie umklammerte ihre Beine, hoffte, dadurch ihren Magen zur Ruhe zu bringen.

Oliver griff über sie hinweg und schnallte sie an. »Hier. Kau das.« Cindy öffnete die Augen, sah auf die ihr hingehaltene Tasse. »Was ist das?«

»Eiswürfel. Das hilft gegen Übelkeit. Als du gegangen bist, sahst du ein bißchen wackelig aus ... ein bißchen grün um die Nase.«

Sie nahm die Tasse, biß sich auf die Lippen, kämpfte gegen die Übelkeit an. »Hast du mir nachspioniert?« Er ignorierte sie. »Wohin soll ich?«

»Philosophisch gesehen?«

»Cindy!«

»Bieg an der ersten Ampel links ab.«

»Gib mir die Adresse.«

»Von meiner Wohnung?«

»Ja, Cindy, von deiner Wohnung.«

»Die Straße geht von der Bagley ab. Drei Blocks nördlich vom Venice Boulevard. Kennst du dich in der Gegend aus?«

»Das ist in der Nähe von Culver City, oder?«

»Ja. Genau.« Cindy zerkaute einen Eiswürfel und nannte ihm die Hausnummer. »Tut mir leid.«

»Ist schon gut.«

Sie stieß einen tiefen, nach Bier riechenden Seufzer aus. Eigentlich wollte sie noch was sagen, wollte erklären, aber sie bekam die Worte nicht raus.

Die Fahrt verlief schweigend, lange fünfundzwanzig Minuten, die ihr wie Stunden vorkamen. Bei jeder Kurve, jedem Spurwechsel schwappte Magensäure in ihre Speiseröhre hoch. Sie lutschte Eiswürfel und schluckte oft. Mit Papiertüchern wischte sie sich den Schweiß ab, rümpfte die Nase, weil die Tücher nach Bier stanken.

Fünf Halbe, und sie stank. Verstohlen sah sie zu ihrem Fahrer. Falls ihn der Gestank störte, ließ er sich nichts anmerken.

Endlich, endlich parkte er ihr Auto auf vertrautem Gelände. Irgendwie gelang es ihr, ohne Hilfe auszusteigen und die Tasche mit über den Boden schleifenden Schulterriemen hinter sich herzuzerren. Oliver kam auf sie zu, und sie streckte die Hand nach den Schlüsseln aus. »Ich glaube, ab hier schaff ich es allein.«

»Ich muß von dir aus telefonieren.«

Cindy öffnete und schloß den Mund, betrachtete ihn aus mißtrauisch zusammengekniffenen Augen.

»Ich muß mir ein Taxi rufen, Cindy. Mein Auto steht noch bei Bellini's.«

»Oh.« Cindy dachte nach, verarbeitete die Worte. Er muß sich ein Taxi rufen. »Ich kann das für dich machen.«

Oliver ließ sie nicht aus den Augen, lachte leise. »Wahrscheinlich kriegst du das hin. Aber ich würde lieber drinnen warten, als mir hier draußen den Arsch abzufrieren.«

»Oh.« Wieder dachte Cindy nach. Ja, das ergab einen Sinn. »Klar. Komm rein.« Sie nickte, bewegte sich aber nicht.

Oliver nahm sie am Ellbogen, schob sie sanft vorwärts. »Welche Nummer?«

»Dreihundertzwei. Es gibt einen Aufzug ... «

»Wir nehmen die Treppe. Das Laufen wird dir guttun.«

»Mir geht's gut.« Sie blinzelte. »Wirklich.«

Er reagierte nicht, schob sie weiter, die Hand um ihren Oberarm. Sie kam sich vor wie ein ungezogenes Kind, das in sein Zimmer gebracht wird. Vor ihrer Wohnung zog Oliver die Schlüssel heraus und hielt sie hoch. »Welcher ist es?«

»Der aus Metall.«

»Cindy!«

»Gold ...«, sagte Cindy. »Der goldene. Ein Sicherheitsschlüssel. Genauer krieg ich das im Moment nicht hin.«

Nach mehreren Versuchen gelang es ihm aufzuschließen. Er stieß die Tür weit auf. »Nach dir.«

»Ein echter Gentleman.« Cindy lächelte. »Das Telefon steht irgendwo. Du entschuldigst mich?« Sie wartete nicht auf eine Antwort, verschwand schnurstracks im Schlafzimmer, schälte sich aus ihrem verschwitzten, nach Bier und Rauch stinkenden Hosenanzug, fluchte, weil die Reinigung ein Vermögen kosten würde. Dann warf sie sich in der Unterwäsche aufs Bett, starrte zur Deckenlampe hinauf, die sich drehte und drehte und drehte ... « Oliver rief aus dem anderen Zimmer. »Was?« brüllte sie.

»Die Taxifirma will die Telefonnummer wissen«, rief er zurück.

»Acht, fünf ... «

»Was?«

»Warte mal eben.« Langsam erhob sie sich vom Bett, öffnete die Tür einen Spalt breit und nannte ihm die Nummer. Sie hörte, wie er sie wiederholte, vermutlich für die Taxifirma. Fast hatte sie das Bett erreicht, da revoltierte ihr Magen. Sie versuchte gar nicht erst, ihn zu beruhigen, rannte ins Badezimmer, hoffte, leise zu würgen. Doch nach dem ersten Mal war ihr auch das egal. Als sie fertig war, kroch sie zum Waschbecken und wusch sich, immer noch kniend, Mund und Gesicht.

Schließlich konnte sie aufstehen, ohne daß ihr gleich wieder schwindelig wurde. Rasch schaute sie sich im Spiegel an. Sie sah genau so aus, wie sie sich fühlte — wie aufgewärmte Scheiße.

Cindy überlegte, ob sie sich in der Küche eine Tasse Kaffee machen sollte, aber er war da draußen.

Tja, sein Pech! Wessen Wohnung war das denn? Sie warf sich ihren rosa Bademantel über, schaute noch ein letztes Mal in den Spiegel. Nichts hatte sich verändert - rote Nase, fahle Haut, wässerige Augen und, dank des Nebels, knallrote, gekräuselte Haare. Sie sah aus, als stände sie in Flammen.

Trotzdem, mit einem Mann zu reden (selbst mit Scott Oliver, der im Alter ihres Vaters war), wenn man wie der letzte Dreck aussah, hatte was. Das zeigte Selbstvertrauen.

Sie öffnete die Schlafzimmertür und kam heraus, ein stolzes, rosafarbenes, bleichgesichtiges Bündel. Oliver schaute aus dem Fenster. Er drehte sich um, Hände in den Hosentaschen, und unterdrückte ein Lächeln, als er sie sah. »Schwerer Tag, Decker?«

»Ich würd nicht im Traum dran denken, dich mit meiner jämmerlichen kleine Geschichte zu langweilen.« Sie ging in die Küche, ließ Wasser in die Kaffeekanne laufen. »Ich mach Koffeinfreien. Willst du welchen?«

»Nein danke.« Er schaute durch die Jalousie. »Ein guter Rat. Versuch's mit Orangensaft. Vitamin C ist gut gegen Kater.«

Cindy betrachtete die Kaffeekanne. »Okay.« Sie goß das Wasser weg, nahm eine Tüte Orangensaft aus dem Kühlschrank, schenkte sich ein Glas voll ein. »Auf ex.«

»Was ist passiert, Cindy?«

»Die Sache ist wirklich nicht interessant, Scott.«

Er zuckte die Schultern. »Erzähl schon.«

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»Ich hab jemand gegen den Strich gebürstet. Keine große Sache. Das krieg ich schon wieder hin.«

»Man kann nicht früh genug lernen.« Er nickte. »Das wird dir nur guttun.«

»Danke«, sagte Cindy. »Aber warum so herablassend?«

Oliver trat wieder ans Fenster, spielte an der Jalousie herum. »War nicht herablassend gemeint.« Sie trank den Orangensaft. Er brannte ihr in der Kehle. »Dann irre ich mich also in der Annahme, daß deine harmlos hingeworfene Bemerkung über meinen Vater nicht böse gemeint war?« Schweigen senkte sich über den Raum. Hielt ein paar Minuten an.

»Wir machen einen Deal, ja?« Oliver drehte sich um, sah sie an. »Ich erzähle deinem Vater nichts von heute abend, wenn du vergißt, was ich gesagt habe.«

»Daß mein Dad ein Einschleimer ist?«

»Genau das.«

»Einverstanden.«

Oliver fuhr sich durch die Haare. »Dein Dad ist ein guter Mann, Cindy. Ein guter Mann und ein mehr als anständiger Boß.«

»Du brauchst ihn mir nicht anzupreisen.« Wieder Schweigen. Dann fragte sie: »Was wolltest du von Osmondson?«

»Wir haben Fälle verglichen.«

»Hat das was mit den Carjackings in Devonshire zu tun?«

Oliver antwortete nicht gleich. Ach, zum Teufel, dachte er dann, sie redet wahrscheinlich sowieso mit ihrem Vater darüber. »Kann sein.«

»Inwiefern?«

»Das weiß ich noch nicht, Cindy. Ich hab mir nur die Unterlagen geben lassen.«

»Entschuldige. Ich wollte nicht neugierig sein.« Sie trank den Orangensaft aus. »Eigentlich bin ich stinkneugierig, aber ich merke schon, daß ich aus dir nichts rauskriege.« Sie hob den Finger. »Doch das wird mich nicht abhalten. Mir bleibt immer noch Marge.«

»Dir geht's offensichtlich besser.«

»Ein bißchen. Obwohl mein Kopf immer noch dröhnt und ich wie eine ganze Brauerei stinke.«

»Leg dich schlafen.«

Draußen hupte es, gleichzeitig läutete das Telefon laut und schrill. Oliver nahm ab. »Ja ... danke.« Er legte auf. »Mein Taxi ist da.«

»Warte!« Cindy lief ins Schlafzimmer, zog einen Zwanziger aus ihrem Geldbeutel. Nach dem Zehner, den sie Jasmine gegeben hatte, und diesen zwanzig blieben ihr gerade noch fünf Dollar plus Kleingeld. Zumindest konnte sie dann kein Geld mehr für Bier verschwenden. Den Schein in der Hand, ging sie ins Wohnzimmer zurück und hielt ihn Oliver hin »Für deine Bemühungen ... und die Taxifahrt.«

Oliver betrachtete den zerknitterten Schein, feucht von ihrem Schweiß. Dann sah er ihr ins Gesicht. »Du spinnst wohl.« Er lachte leise, zerzauste ihr das Haar, schloß die Wohnungstür hinter sich.

Cindy blieb stehen, sah ins Leere. Sie hörte seine Schritte auf der Treppe, hörte, wie die Autotür zufiel. Ein Motor sprang an, brummte laut und verlor sich allmählich, bis nur noch Stille blieb. Die totale Stille ihrer Wohnung.

Doch nach wenigen Augenblicken nahm sie wieder die üblichen Hintergrundgeräusche wahr — das Surren des Kühlschranks, das Summen der batteriebetriebenen Wanduhr. Sie schaute sich im Wohnzimmer um. Ihre Möbel kamen ihr fremd vor, große, unfreundliche Kleckse mit cremefarbenen Bezügen. Sogar die Kissen. Statt dekorativ zu sein, wirkten sie wie böse rote Augen, starrten sie feindselig an. In der Glasplatte ihres Couchtisches spiegelte sich das unheimliche grüne Licht ihres Videorecorders.

Ein lautes Rumsen von draußen ließ sie zusammenschrecken. Beruhige dich.

Nur ein Autoradio, dessen Bässe auf Maximum eingestellt sind. Warum stand sie hier? Was sollte das? Nichts, entschied sie. Sie blinzelte mehrmals. Dann verriegelte sie die Tür und ging ins Bett.