16
Nördliche Toskana,
Mittwoch, 30. September
»… haben wir gerade neue Informationen über das heftige Erdbeben erhalten, das gestern die Stadt Neapel und das umliegende Gebiet erschüttert hat. Aus Neapel und fast allen anderen Städten in einem Umkreis von einhundert Kilometern werden schwere Verwüstungen gemeldet. Die neuesten Opferzahlen sprechen nach amtlichen Angaben von vierhundertachtundsiebzig Toten und mehreren tausend Verletzten. Der Sachschaden ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht zu ermessen, beläuft sich aber mit Sicherheit auf einen dreistelligen Millionenbetrag. In Neapel wurden ganze Straßenzüge dem Erdboden gleichgemacht. Über die Ursache des plötzlichen Erdbebens, für das es keinerlei Vorwarnung gegeben hat, ist noch nichts bekannt. Ein Zusammenhang mit dem ebenfalls unerwarteten Ausbruch des Vesuvs, der zur selben Zeit stattfand, ist jedoch wahrscheinlich. Über das gesamte Gebiet wurde der Ausnahmezustand verhängt. Starke Militäreinheiten sind aus allen Teilen des Landes unterwegs, um bei den Bergungsarbeiten zu helfen und um die öffentliche Sicherheit zu garantieren. Aus mehreren Städten wurden Plünderungen gemeldet. In Caserta kam es zu einem Feuergefecht zwischen der Polizei und einer Bande von Plünderern, bei dem drei Beamte verletzt und fünf Plünderer getötet wurden. Die Polizei weist darauf hin, dass ihren Anordnungen unbedingt Folge zu leisten ist. Außerdem wird vor der Rückkehr in teilweise zerstörte Häuser gewarnt, weil diese ganz einstürzen könnten. Weiterhin ist mit neuen Beben zu rechnen, weshalb die Bevölkerung in den gefährdeten Gebieten gebeten wird, die öffentlichen Notlager aufzusuchen. Wir schalten jetzt zu unserem Reporter in Neapel, der …«
Alexander hörte bloß noch mit halbem Ohr auf das Autoradio. Er hatte schon mehrere Liveberichte aus Neapel gehört, bei denen die Reporter immer nur erzählen konnten, dass sie auch nicht mehr wussten, als allgemein bekannt war. Er konzentrierte sich lieber auf die gewundene Bergstraße. Vor ihm tauchte eine Straßengabelung auf, und er drosselte die Geschwindigkeit des VW Polo, um die verwitterten Schilder entziffern zu können. Links ging es nach Borgo San Pietro, also lenkte er den Wagen in diese Richtung. Leichter Regen setzte ein, und die Scheibenwischer begannen ihre monotone Arbeit.
Alexanders Gedanken wechselten von der Katastrophe in Neapel zu seinen persönlichen Angelegenheiten. Der Tod seines Vaters lag erst vierundzwanzig Stunden zurück. Viel zu wenig Zeit, um ihn auch nur ansatzweise zu verarbeiten. Alexander war erstaunt, wie nachhaltig er getroffen war. Vor ein paar Monaten hatte er geglaubt, mit seinem Vater für alle Zeiten fertig zu sein. Aber das war ein Trugschluss gewesen, geboren aus seinem Zorn und seiner Verzweiflung. Jetzt erst begriff er die verborgene Hoffnung, die er tief in sich vergraben und sich nicht eingestanden hatte. Die Hoffnung, eines Tages doch noch einen Vater zu haben. Eine Hoffnung, die sich jetzt nie mehr erfüllen würde.
Noch immer war unklar, was mit Markus Rosins Leiche geschehen würde. Alexander wollte Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um eine Obduktion durchzusetzen, mochte Generalinspektor Tessari sich auch noch so sehr dagegen sperren. Alexander hatte sogar daran gedacht, den Papst in Neapel anzurufen, aber das Erdbeben und der Ausbruch des Vesuvs waren dazwischengekommen. In der ersten Aufregung hatte es sogar geheißen, Papst Custos sei tot. Dann aber wurde die Meldung korrigiert. Das Kloster San Francesco, in dem Custos sich aufhielt, hatte einige Schäden davongetragen, aber es war nicht eingestürzt, wie es anfangs geheißen hatte. Custos und sein Privatsekretär sollten mit leichteren Verletzungen davongekommen sein. Als diese Nachricht publik wurde, war Alexander ein Stein vom Herzen gefallen.
Aber der Tod seines Vaters lastete weiter auf ihm. Er sehnte sich nach Elena, dem einzigen Menschen, der ihm geblieben war. Am Morgen hatte er sich kurzerhand in seinen Mietwagen gesetzt und die Autobahn nach Norden genommen. Er wollte Elena überraschen, aber er selbst war überrascht gewesen, als er das Krankenhaus in Pescia betrat. Eine Ärztin namens Addessi hatte ihm mitgeteilt, dass Elena sich gestern Mittag gegen den Rat der Ärzte selbst entlassen habe. Sie hatte sich gelangweilt und gemeint, gesünder könne sie nicht mehr werden. Sie hatte Dr. Addessi noch gesagt, der Einsiedler, der ihr geholfen habe, interessiere sie brennend. Alexander war zu Elenas Hotel gefahren, wo er hörte, dass sie nur für ungefähr eine Stunde auf dem Zimmer gewesen sei. Dann war sie mit ihrem Mietwagen weggefahren und seitdem im Hotel nicht mehr gesehen worden.
Das Zimmermädchen berichtete, dass Elenas Bett in der Nacht nicht benutzt worden sei. Da Enrico Schreiber im selben Hotel wohnte, erkundigte Alexander sich auch nach ihm. Auch er hatte sein Zimmer in der Nacht augenscheinlich nicht benutzt, und er war gestern zuletzt an der Rezeption gesehen worden.
Alexander war alarmiert gewesen. Auf einmal war die Trauer um den Verlust seines Vaters zweitrangig geworden, verdrängt durch die Sorge um Elena. Nun hoffte er, sie in Borgo San Pietro zu finden. Falls nicht, war er mit seiner Weisheit am Ende. Die Sondersendung im Radio über die Katastrophe am Golf von Neapel erweckte wieder seine Aufmerksamkeit, als der Papst erwähnt wurde. Er drehte den Lautstärkeregler auf und hörte gespannt zu.
»… ist jener Mann, der als Gegenpapst Lucius bekannt wurde und eigentlich Tomás Salvati heißt, in Neapel mit einer Äußerung vor die Presse getreten, die äußerst zwiespältig aufgenommen wurde. Seine Gegner haben ihm prompt vorgeworfen, das Unglück etlicher tausend Menschen für seine eigenen Zwecke auszubeuten und die Opfer des Erdbebens zu verhöhnen. Eine Stellungnahme von Papst Custos, der bei dem Erdbeben leicht verletzt wurde, steht noch aus. Wir bringen Ihnen jetzt die Äußerung von Lucius IV. im Originalton, möchten aber darauf hinweisen, dass wir uns mit dem Inhalt nicht identifizieren …«
Der Regen wurde heftiger und trommelte auf den VW.
Alexander drehte den Lautstärkeregler noch weiter auf, um die Ansprache des Gegenpapstes nicht zu verpassen. Als Lucius zu sprechen begann, schwangen Ernst und Besorgnis in seiner Stimme mit. Es war eine Stimme, die Alexander sofort in den Bann zog.
»Meine Söhne und Töchter, Christen, Mitmenschen, hört meine Worte und nehmt sie euch zu Herzen. Aber fürchtet euch nicht, denn ich spreche zu euch, um Gutes zu bewirken. Ein schreckliches Unheil hat diese Stadt und das Land ringsum verwüstet. Die Wissenschaftler rätseln, was das Unglück ausgelöst haben könnte, aber sie haben noch nichts Greifbares gefunden. Das ist kein Wunder, denn Gott kann man nicht mit wissenschaftlichen Apparaten messen. Gott muss man erfühlen, und man muss an Ihn glauben. Das Einzige, was wir von Ihm sehen und hören können, sind Seine Zeichen. Ein solches Zeichen hat Er uns gestern gesandt. Ganz recht, Gott hat das Verhängnis über uns kommen lassen als Strafe für den Frevel, den die Kirche in Rom unter der Führung des Mannes, der sich Papst Custos nennt, begangen hat. Jetzt ist dieser Custos sogar hierher gekommen, nach Neapel, um sich gegen unsere Heilige Kirche des Wahren Glaubens zu stellen, die noch jung ist und doch die althergebrachten Werte vertritt. Werte, die von Custos und der römischen Kirche mit Füßen getreten werden und die er hier in Neapel vollends ausmerzen will. Gott aber steht auf unserer Seite und wendet sich gegen den falschen Papst. Als Warnung hat Er uns vor zwei Tagen das Unwetter gesandt, gerade zu der Stunde, als Custos hier eingetroffen ist. Der aber hat die Warnung in den Wind geschlagen, und so sandte der Herr eine zweite Warnung. Viele Menschen mussten sterben wegen Gottes Zorn, aber noch immer weilt Custos hier in Neapel. Erst wenn er die Stadt verlassen hat, wird wieder Ruhe und Frieden einkehren. Und erst wenn er seinen Irrweg eingesehen und sein falsches Pontifikat niedergelegt hat, wird Gott ganz und gar mit uns versöhnt sein.«
Alexander war angesichts dieser Worte so perplex, dass er fast eine scharfe S-Kurve übersehen hätte, die sich ohne Vorwarnung vor ihm auftat. Im letzten Augenblick bremste er den Polo ab und konnte verhindern, dass der Wagen in das dichte Unterholz rutschte, das die Straße zu beiden Seiten säumte. Was der Gegenpapst über die Katastrophe von Neapel gesagt hatte, klang tatsächlich wie eine Verhöhnung der Erdbebenopfer. Vor allem klang es vollkommen absurd: ein Gott, der Hunderte von Unschuldigen tötete, nur um Custos zur Abreise zu bewegen? Alexander hätte die Ansprache als plumpe, überzogene Propaganda abgetan, wäre nicht jener tiefe Ernst gewesen, der in jedem Satz des Gegenpapstes mitschwang. Salvati schien wirklich zu glauben, was er da sagte, oder aber er war ein begnadeter Schauspieler. Ging man von der ersten Variante aus, stellte sich die Frage, wie der Gegenpapst zu seiner aberwitzigen Theorie über das Erdbeben gekommen war. Im Radio gab inzwischen ein renommierter Theologe aus Bologna einen ausführlichen Kommentar zu der Ansprache ab, konnte aber letztlich auch nur dieselben Mutmaßungen anstellen wie Alexander.
Als Borgo San Pietro vor ihm auftauchte, dachte Alexander an Elenas Erlebnisse in diesem Dorf. Er war sich so gut wie sicher, dass sie nach dem Verlassen des Krankenhauses hierher zurückgekehrt war. Und er fragte sich, ob sie damit einen schlimmen Fehler begangen hatte. Die Mauern des Bergdorfes wirkten so abweisend, wie Elena sie in einem ihrer Telefonate geschildert hatte. Vor dem Dorf lag ein von Buschwerk umgebener Parkplatz, auf dem etwa fünfzehn Autos standen.
Alexander stellte seinen Wagen am Rand des Parkplatzes ab und stieg aus. Regen und ein frischer Wind peitschten ihm ins Gesicht. Er schlug den Kragen seiner Lederjacke hoch und sah sich auf dem Parkplatz um, aber einen Mietwagen konnte er nicht entdecken. Mit schnellen Schritten näherte er sich dem Dorf und sah jetzt, dass es sehr wohl Lücken in dem Mauerwerk gab. Kleine Durchlässe, die man in früheren Jahrhunderten schnell hatte verschließen können, wenn der Verteidigungsfall eingetreten war. Dann konnte niemand mehr ins Dorf hineinkommen – und auch nicht hinaus. Durch eine schmale Gasse gelangte er auf eine menschenleere Piazza. Angesichts des unfreundlichen Wetters war es nicht verwunderlich, dass kein einziger Dorfbewohner sich blicken ließ. Alexander fragte sich, ob sie sich bei besserem Wetter gezeigt hätten. Oder hätte sein Erscheinen sie genauso von der Piazza vertrieben wie Wind und Regen? Nach dem zu urteilen, was er über die Menschen von Borgo San Pietro gehört hatte, zählte Gastfreundschaft nicht zu ihren hervorstechendsten Eigenschaften. Sein Blick fiel auf den Kirchturm, und er dachte an den ermordeten Bürgermeister, mit dem das Unheil für Elena seinen Anfang genommen hatte.
Von der Sorge um Elena angetrieben, umrundete er die Piazza und suchte die alten, halb verrosteten Straßenschilder ab, bis er die betreffende Straße fand. Es war eher eine Gasse, ähnlich schmal wie die, durch die er den Ort betreten hatte. Das Haus mit der Nummer vierzehn erhob sich am Ende der kleinen Gasse, und unter der Klingel stand auf einem fast ausgebleichten Schild der Name Pisano. Alexander presste den Daumen auf die Klingel. Ein unmelodiöser Ton schrillte durch das Haus und war auch draußen deutlich zu hören. Sonst tat sich nichts. Als Alexander zum fünften oder sechsten Mal klingelte, bemerkte er, dass einer der Vorhänge im oberen Stock sich bewegte, obwohl das betreffende Fenster wie alle anderen verschlossen war.
»Ich weiß, dass Sie da sind, Signor Pisano!«, rief Alexander, während er zu dem Fenster hinaufsah. »Machen Sie bitte auf!
Ich muss Sie dringend sprechen.« Als sich nichts tat, schlug er kräftig mit der Faust gegen die Haustür und fügte hinzu: »Wenn es nicht anders geht, trete ich die Tür ein!«
Das wirkte. Er hörte Schritte, das metallische Geräusch eines im Schloss gedrehten Schlüssels, und die Tür öffnete sich einen Spalt. Ein altes, verwittertes Gesicht lugte ängstlich durch den Spalt, und eine heisere Stimme fragte: »Wer sind Sie? Was wollen Sie?«
»Ich heiße Alexander Rosin und bin der Freund von Elena Vida. Darf ich bitte eintreten? Hier draußen im Regen ist es alles andere als gemütlich.«
Zögernd trat der alte Mann zwei Schritte zurück. Alexander schlüpfte ins Haus und schloss die Tür hinter sich.
»Signor Pisano, nehme ich an.«
Der Alte nickte. »Was wollen Sie von mir?«
»Elena hat gestern das Krankenhaus verlassen und ist seitdem verschwunden. Wissen Sie, wo ich sie finden kann?«
Pisanos heftiges Kopfschütteln wirkte etwas übertrieben.
»Nein, Signore, ich habe keine Ahnung. Wieso fragen Sie ausgerechnet mich?«
»Weil Elena mehr über Ihren seltsamen Einsiedler herausfinden wollte, diesen Angelo. Sie haben doch vor einigen Tagen Signor Schreiber zu ihm geführt. Vielleicht hat auch Elena Sie gebeten, sie zu Angelo zu bringen.«
Pisano wirkte verängstigt, vielleicht auch überrascht. Auf jeden Fall war ihm nicht wohl in seiner Haut. Sein unsteter Blick ging immer wieder zur Tür hinter Alexander, als rechne er jeden Augenblick mit dem Eintreten von jemandem, den er lieber nicht in seinem Haus sah – zumindest nicht gerade jetzt, wo Alexander da war.
»Ihre Freundin war nicht bei mir. Tut mir Leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen. Wenn Sie jetzt bitte gehen würden, ich habe einige dringende Angelegenheiten zu regeln.«
»Dringende Angelegenheiten in einem so beschaulichen Ort wie Borgo San Pietro? Darf ich fragen, worum es geht?«
»Das dürfen Sie nicht! Ich muss Sie bitten, mein Haus sofort zu verlassen. Andernfalls werde ich die Polizei zur Hilfe rufen.«
»Bis die aus Pescia hier ist, kann es aber dauern. Was ist mit Ihnen, Signor Pisano? Wovor haben Sie Angst? Können Sie mir wirklich nicht helfen – oder wollen Sie einfach nicht?«
»Ich … kann nicht. Gehen Sie jetzt, bitte!«
»Schade«, seufzte Alexander und wandte sich zur Tür. »Ich weiß nicht, was Sie so eingeschüchtert hat, Signor Pisano, aber hoffentlich können Sie Ihr Schweigen mit Ihrem Gewissen vereinbaren.«
Als Alexander wieder auf der Gasse stand, kam Pisano zur Tür. Bevor er sie schloss, sagte er halblaut, aber eindringlich:
»Seien Sie vorsichtig, Signor Rosin!«
Eine seltsame Warnung, dachte Alexander, als er durch den Regen zum Parkplatz zurückging. Er glaubte nicht, dass Pisano das als allgemeine Ermahnung gemeint hatte. Pisanos ganzes Verhalten deutete auf eine konkrete Gefahr hin, und Alexander zweifelte nicht daran, dass sie mit Elenas Verschwinden zusammenhing. Insofern hatten Pisanos letzte Worte Alexanders Verdacht bestätigt. Dennoch war er nicht zufrieden. Er hatte sich von seinem Besuch in Borgo San Pietro mehr erhofft. Es gab auch nicht einen konkreten Hinweis darauf, was mit Elena geschehen war oder wo er nach ihr suchen sollte.
Der Parkplatz war noch genauso menschenleer wie vor ein paar Minuten. Missmutig startete er den VW und fuhr die enge Bergstraße zurück, während er sich nach beiden Seiten umsah, ob vielleicht Elenas Mietwagen irgendwo im Unterholz stand.
Zu spät bemerkte er deshalb den Baumstamm, der in einer Kurve quer über der Fahrbahn lag. Er trat sofort auf die Bremse, aber sein Wagen schlitterte gegen den Baum. Ein klirrendes Geräusch verriet, dass einer der Frontscheinwerfer die Kollision nicht heil überstanden hatte. Der Aufprall war nicht besonders stark, und der Sicherheitsgurt bewahrte Alexander vor Schäden.
Fluchend löste er den Gurt und stieß die Tür auf. Vor zwanzig Minuten hatte der Baum noch nicht hier gelegen. Der Wind blies zwar unangenehm stark, aber längst nicht so heftig, um einen Baum zu entwurzeln. Als Alexanders Alarmglocken zu schrillen begannen, war es bereits zu spät. Zu beiden Seiten der Straße sprangen fünfzehn oder zwanzig Männer aus dem Unterholz. Alle trugen Waffen: Äxte oder Eisenstangen, aber auch Gewehre. Alexander war umzingelt und blieb reglos neben dem VW stehen, um die feindselig dreinblickenden Männer nicht zu reizen. Er hätte ein Jahresgehalt darauf verwettet, dass es Bewohner des Bergdorfs waren.
»Jetzt weiß ich, warum es in Borgo San Pietro so leer war«, sagte er, als sie bei ihm anlangten. »Und ich hatte schon gedacht, Sie wollen nicht mit mir sprechen.«
»Halten Sie den Mund!«, fauchte ihn ein rotgesichtiger Mann mit Halbglatze an, der ein Schrotgewehr in seinen grobschlächtigen Händen hielt. »Umdrehen und Hände auf den Rücken halten, schnell!«
Die beiden schwarzen Mäuler, die Mündungen der Waffe, die auf seine Brust zielten, waren für Alexander Anreiz genug, der Aufforderung zu folgen. Jemand packte ihn von hinten und drückte ihn gegen seinen Wagen, während ein anderer Mann Alexanders Hände auf dem Rücken mit Stricken fesselte. Sie gingen nicht gerade zimperlich mit ihm um, die Stricke schnitten schmerzhaft in seine Handgelenke. Sie tasteten ihn nach Waffen ab und fanden die P 225 im Schulterholster. Der Mann mit dem geröteten Gesicht nahm die Pistole und auch Alexanders Handy an sich. Mit geübtem Griff schaltete er das Handy aus, sodass jeder Versuch, Alexander zu orten, vergebens sein musste.
»Lorenzo, kümmere dich um den Wagen!«, sagte der Rotgesichtige, der hier das Kommando zu führen schien. »Bring ihn zu den anderen.« Er wandte sich zu Alexander um. »Und Sie kommen mit!«
Auch dieser Anordnung konnte Alexander sich nicht widersetzen. Zwei Männer nahmen ihn kurzerhand in die Mitte, packten mit festem Griff seine Oberarme und führten ihn ins Unterholz. Der Rotgesichtige und die anderen Dörfler folgten ihnen, jeder Gedanke an Flucht war unsinnig. Außerdem wollte Alexander gar nicht fliehen, jedenfalls nicht jetzt. Er hoffte, dass die Männer ihn zu Elena führten.
Durch dichtes Gestrüpp und über vom Regen aufgeweichten Boden, der zahlreiche tückische Pfützen und Schlammlöcher aufwies, ging es ungefähr zwanzig Minuten lang, bis sich vor ihnen eine Lichtung mit einer Ruine auftat. Das Gebäude musste, der Größe nach zu urteilen, einmal sehr imposant gewesen sein, obwohl jetzt nur noch einige Mauerreste und abgebrochene Säulen zu sehen waren. Auch wenn Alexander kein Archäologe war, erkannte er doch, dass es sich um ein sehr altes Gebäude handelte. Die Mauern und Säulen standen hier wahrscheinlich schon seit Jahrhunderten, wenn nicht seit Jahrtausenden.
»Was ist das?«, fragte er spontan.
»Dein Gefängnis«, sagte der Rotgesichtige nur und stieß ihn vorwärts. Alexander stolperte und fiel hin. Mit den gefesselten Händen konnte er den Sturz nicht abfangen, und so schlug er mit der Stirn gegen eine Mauerkante. Das Resultat waren ein blitzartiger Schmerz in seinem Kopf und ein warmer Blutfaden, der seine rechte Wange hinunterrann.
»Sei nicht so grob, Livio!«, sagte einer der Männer. »Wir wollen ihn doch nicht umbringen.«
»Das wäre vielleicht das Beste«, brummte der Anführer.
»Stehen Sie schon auf! So schlimm war es doch gar nicht.«
Einer der Männer half Alexander, wieder auf die Beine zu kommen, und sie führten ihn mitten in das Gewirr aus Mauerresten und Steintrümmern. Vor einem kleineren Schutthaufen blieben sie stehen, und ein paar Männer räumten die Trümmer mit anscheinend geübten Handgriffen beiseite. Der Schutt war nur die Tarnung für eine hölzerne Klappe gewesen, unter der eine ebenfalls hölzerne Treppe in dunkle Tiefe führte.
Eine Taschenlampe flammte auf und beleuchtete festes Mauerwerk. Alexander vermutete, dass dieser unterirdische Raum oder Gang aus der Zeit stammte, als die Ruine ein prächtiges Bauwerk gewesen war. Die Bodenklappe und die Holztreppe dagegen waren neueren Ursprungs, wahrscheinlich von den Dorfbewohnern angebracht. War dies der Eingang zu einem unterirdischen Verlies?
Die meisten Dörfler blieben zurück, während der Anführer, den sie Livio nannten, und eine Hand voll Männer ihren Gefangenen in die Tiefe begleiteten. Am unteren Absatz der wackligen Holztreppe begann ein schmaler Gang, der schon nach ungefähr zwanzig Metern vor einer festen Holzbohlentür endeten. Vor der Tür saß ein hagerer Mann auf einem Stuhl und las im Schein einer trübe leuchtenden Funzel eine Autozeitschrift. Neben dem Mann lehnte eine Schrotflinte an der Wand.
»Alles klar hier unten, Ugo?«, fragte Livio. Ugo nickte müde und deutete mit dem rechten Daumen auf die Tür. »Die sind so leise, als wären sie tot.«
»Wen haben Sie da drinnen eingesperrt?«, fragte Alexander besorgt, obwohl er die Antwort zu kennen glaubte.
»Das wirst du gleich sehen«, sagte Livio und zog einen Schlüssel aus der Hosentasche, mit dem er das schwere Vorhängeschloss vor der Holzbohlentür öffnete.
Ein lang gezogenes Quietschen ertönte, als er die Tür aufzog.
In dem Raum dahinter brannte eine ähnliche Lampe wie auf dem Gang, nur schien das gelbe Licht noch trüber zu sein.
Alexander sah mehrere Feldbetten und einen großen, viereckigen Tisch, um den mehrere Stühle und Hocker standen.
Auf einem der Stühle saß eine rothaarige Frau und blickte ihm neugierig entgegen: Dr. Vanessa Falk. Zwei weitere Personen waren aufgesprungen, als die Tür aufging. Enrico Schreiber stand neben der Religionswissenschaftlerin und sah nicht minder gespannt zur Tür. Die dritte Person war Elena. Sie lief Alexander entgegen, umarmte und küsste ihn. Für einen Augenblick schloss er die Augen, vergaß alle widrigen Umstände und genoss es einfach, wieder mit Elena vereint zu sein. Mit einem scharfen Jagdmesser durchtrennte Livio Alexanders Fesseln. Er schlug die Tür hinter sich zu, und die vier Gefangenen hörten, wie der Schlüssel zweimal herumgedreht wurde. Die Männer draußen unterhielten sich noch ein paar Minuten, dann entfernten sich Schritte.
Vermutlich blieb nur der einsame Wächter, Ugo, zurück.
Alexander trat an die Tür und untersuchte sie.
»Vergiss es!«, sagte Enrico. »Wir haben uns die Tür schon angesehen. Mit unseren Mitteln hier unten haben wir keine Chance, sie aufzubrechen. Selbst wenn wir es versuchten, ginge das nicht ohne Lärm, und der Wächter wäre gewarnt. Wir müssen hier unten schmoren, bis die Leute aus Borgo San Pietro es sich anders überlegen.«
»Nicht unbedingt«, sagte Alexander, zog seine Lederjacke aus und dann auch sein Hemd.
»Was tust du?«, fragte Elena irritiert.
»Wusstest du nicht, dass ich ein Anhänger der Freikörperkultur bin?«, erwiderte er augenzwinkernd, während er sein T-Shirt hochschob. Darunter kam eine kleine, verdrahtete Apparatur zum Vorschein, die mit Klebebändern auf seiner Brust befestigt war. »Zum Glück hat unser Freund Livio sich mit meiner Pistole und dem Handy zufrieden gegeben, als er mich durchsuchte. Darauf hatte ich gesetzt. Das hier sollte er nicht finden.«
»Ein Sender?«, staunte Elena.
»Ja, ein Peilsender. Siehst du diesen kleinen Hebel an der Seite? Sobald ich ihn umlege, wird die Polizei in Pescia ihre Suche nach uns beginnen.«
»Funktioniert das Ding auch hier, unter der Erde?«, fragte Vanessa Falk.
»Das sollte es, zumal wir nach meinem Eindruck nicht besonders tief sind«, antwortete Alexander. »Dieser Commissario in Pescia, Massi, hat mir zugesichert, dass es ein sehr leistungsstarker Sender ist. Er wird normalerweise benutzt, um erpresstes Geld aufzuspüren.«
»Mich wundert, dass die Polizei in Pescia so etwas überhaupt im Arsenal hat«, sagte Enrico.
»Ich weiß nicht, wo sie den Sender herhaben. Ich habe mit Rom telefoniert, und Commissario Donati hat seine Verbindungen spielen lassen. Danach hatte ich keine Schwierigkeiten, von der hiesigen Polizei die gewünschte Unterstützung zu bekommen.« Alexanders Daumen schwebte über dem Einschalthebel. »Soll ich?«
»Nur zu!«, kam es von Vanessa Falk. »Ich bin nicht scharf auf eine weitere Nacht hier unten.«
Alexander legte den Hebel um – und fluchte.
»Was hast du?«, fragte Elena.
»Dieses grüne Lämpchen hier sollte aufblinken, wenn der Sender arbeitet.«
»Und warum blinkt es nicht?«
Statt zu antworten, bewegte Alexander den Hebel mehrmals hin und her, aber nichts geschah. Der Peilsender war tot.
Wütend riss er die Klebestreifen von seiner Brust und legte den Apparat auf den Tisch. »Ich bin vorhin schwer gestürzt. Dabei muss der Sender kaputtgegangen sein. Wir haben nicht zufällig einen Feinmechaniker unter uns, oder?«
Alle schwiegen betreten, bis Vanessa Falk fragte: »Was machen wir jetzt?«
Alexander blickte sie an. »Dasselbe, was Sie drei hier unten bisher auch getan haben, Frau Dr. Falk: abwarten.«
Sie nickte. »Sagen Sie einfach Vanessa zu mir. Unter diesen Umständen sind Förmlichkeiten wenig angebracht.«
Sie setzten sich an den Tisch und schilderten einander ihre Erlebnisse.
Mit Bestürzung reagierten Elena, Vanessa und Enrico auf die Nachricht über das schwere Erdbeben im Golf von Neapel, und als Alexander vom Tod seines Vaters erzählte, drückte Elena fest seine Hand. Es tat ihm gut, ihre Nähe zu spüren. Aber die Sorge um ihrer aller Leben dämpfte seine Freude über das Wiedersehen.
»Haben Livio und seine Leute euch gesagt, was sie mit uns vorhaben?«, fragte er.
»Nein, wir wissen nichts Konkretes«, sagte Elena. »Die Männer haben uns beschimpft, weil wir herumgeschnüffelt hätten. Als sie mich gefangen nahmen, hat einer von ihnen zu mir gesagt, jetzt hätte die Schnüffelei ein für alle Mal ein Ende.«
»Ich glaube, sie haben gar keinen konkreten Plan«, meinte Enrico. »Vielleicht reden Sie sich gerade die Köpfe heiß darüber, was sie mit uns anstellen.«
Vanessa machte ein düsteres Gesicht. »Wenn sie unsere Schnüffelei, wie sie es nennen, ein für alle Mal unterbinden wollen, müssen sie uns umbringen.«
»Oder sie sperren uns lebenslänglich hier unten ein«, meinte Elena.
»Beides sind wenig rosige Aussichten, aber auch wenig wahrscheinliche«, fand Alexander. »Die Männer aus Borgo San Pietro sind nicht gerade zartfühlende Geschöpfe, aber wie eiskalte Mörder wirken sie auch nicht. Ich schätze, sie sind in einer ähnlichen Lage wie Professor Marcus und seine Kumpane.«
»Wie wer?«, fragte Vanessa.
»Kennen Sie nicht den hübschen alten englischen Film
›Ladykillers‹? Professor Marcus und seine Kumpane haben die alte Mrs. Wilberforce ohne deren Wissen zur Komplizin bei einem Geldraub gemacht. Als die Lady ihnen auf die Schliche kommt, müssten sie die Mitwisserin eigentlich umbringen, aber keiner der rauen Burschen bringt es übers Herz. Livio und seine Leute würden uns wahrscheinlich auch am liebsten loswerden, wissen aber nicht, wie.«
»Wir könnten ihnen versprechen, über den Vorfall hier zu schweigen«, schlug Enrico vor. »Dann würde man sie nicht wegen Entführung belangen.«
»Versuchen können wir es, sobald wir eine Gelegenheit dazu haben«, stimmte Alexander zu.
Er sah sich in dem Raum um und bemerkte erstaunt die bunten Wandmalereien, die Szenen aus dem antiken Alltag zeigten. Männer und Frauen beim Essen; eine Frau, die einen Krug Wasser vom Brunnen holte; zwei auf der Flöte spielende Knaben und ein paar mit Speeren bewaffnete Männer auf der Wildschweinjagd.
»Alte römische Malereien?«, wunderte er sich.
»Eher etruskische«, sagte Elena. »Nach allem, was Fabius Lorenz Schreiber hier erlebt hat, befinden wir uns vermutlich in den Überresten eines etruskischen Bauwerks.«
Alexander sah sie perplex an. »Wer ist Fabius Lorenz Schreiber?«
»Ein Mann, der schon vor zweihundert Jahren aufregende Erlebnisse in Borgo San Pietro hatte und sie in einem interessanten Tagebuch aufgezeichnet hat. Aber das sollte dir besser Enrico erzählen. Er hat sich intensiver mit dem Tagebuch auseinander gesetzt.«
Staunend lauschte Alexander Enricos Bericht über die Erlebnisse von Fabius Lorenz Schreiber und über die heilenden Kräfte der Menschen von Borgo San Pietro.
» Ist es das, was sie vor uns verheimlichen wollen?«, fragte Alexander, als Enrico alles erzählt hatte. »Wollen die Menschen hier vermeiden, dass man sie der Weltöffentlichkeit als Wunderwesen vorführt?«
»Möglich«, sagte Enrico nachdenklich. »Vielleicht steckt auch noch mehr dahinter. Fabius Lorenz Schreiber spricht von einer großen Machtquelle, die hier verborgen sein soll. Eine Macht, die einst zum Untergang dieser etruskischen Stadt geführt hat.«
»Aber was für eine Macht kann das sein?«
»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Enrico. »Ich weiß zu wenig von den Etruskern.«
»Die Etrusker sind ja auch ein geheimnisvolles Volk«, sagte Vanessa. »Niemand kann mit Sicherheit sagen, woher sie gekommen sind. Der Ursprung ihrer Kultur ist ebenso mysteriös wie die Zugehörigkeit ihrer Rasse und ihrer Sprache. Es gibt darüber verschiedene Theorien, aber die sind unter den Altertums- und Sprachkundlern heftigst umstritten.
Interessanterweise hat man schon in der Antike die Ansicht vertreten, dass die Sprache der Etrusker mit keiner anderen verwandt sei. Dieses Gebiet hier, die Toskana, wird allgemein als ihr Stammland bezeichnet. Aber wo ihr eigentlicher Ursprung liegt, ist noch nicht geklärt. Sie haben sich bis nach Süditalien ausgebreitet, wurden dann aber von den aggressiven Römern verdrängt. Ihre Kultur wurde fast vollständig von der römischen assimiliert.«
»Bemerkenswert«, fand Alexander. »Was wissen Sie noch über die Etrusker?«
»Bedaure, damit hat es sich auch schon. Ich wollte damit nur sagen, wenn es ein antikes Volk gibt, das über uns unbekannte Kräfte verfügt hat, kommt keins dafür so sehr in Frage wie das der Etrusker.«
»Was die heilenden Kräfte betrifft, verfügen auch Papst Custos und die Auserwählten über sie«, sagte Elena. »Es scheint sich hier also nicht um eine spezifisch etruskische Errungenschaft zu handeln.«
»Vielleicht war Jesus ein Etrusker«, schlug Enrico vor und erntete halbherziges Gelächter. »Im Ernst, vielleicht gehen die Kräfte des historischen Jesus und die der Etrusker auf einen gemeinsamen Ursprung zurück.«
Vanessa nickte ihm anerkennend zu. »Das ist ein guter Gedanke, aber bei unserem Kenntnisstand muss er leider Spekulation bleiben.«
Sie diskutierten noch eine ganze Weile weiter, bis Schritte und Stimmen auf dem Gang sie verstummen ließen.
»Unerwarteter Besuch?«, fragte Elena halblaut.
Alexander starrte auf den Peilsender. »Vielleicht funktioniert der Sender doch, und nur die Lampe ist kaputt!«
»Wir werden es gleich wissen«, sagte Vanessa, als man das Klacken des Schlosses hörte.
Enrico war ebenso enttäuscht wie seine drei Mitgefangenen, als keine Polizisten eintraten, sondern Livio mit einigen seiner Männer. Livios Schrotflinte zeigte drohend in den Raum, und Enrico fragte sich, ob ihr Exekutionskommando vor ihnen stand.
Dann aber traten die Männer aus Borgo San Pietro beiseite und machten fast ehrfürchtig dem Einsiedler Angelo Platz. Der ließ seine Augen durch den unterirdischen Raum schweifen, bevor er ausgiebig die Gefangenen musterte.
»Es tut mir Leid, was hier mit euch geschehen ist«, sagte er schließlich. »Ich habe erst vor kurzem davon erfahren, als Ezzo Pisano zu mir kam und mir von eurem Schicksal berichtete.«
Livio räusperte sich. »Wir haben das für dich getan, Angelo, um dich zu schützen.«
»Das weiß ich, und doch war es nicht recht. Ihr hättet mich fragen sollen, bevor ihr so etwas tut. Was soll jetzt werden? Die Polizei wird in euer Dorf kommen, und alles wird dadurch nur noch schlimmer.«
»Vielleicht können wir das mit der Polizei vermeiden«, sagte Enrico schnell. »Keinem von uns ist etwas zugestoßen.« Sein Blick fiel auf die blutige Schramme an Alexanders Stirn.
»Jedenfalls nichts Schlimmes. Wir könnten der Polizei in Pescia sagen, dass wir freiwillig die Gastfreundschaft der Leute aus Borgo San Pietro in Anspruch genommen haben. Ich denke, meine Freunde sind damit einverstanden.«
Ein kurzer Blick in die Runde bestätigte ihm die Richtigkeit seiner Annahme.
Angelo blickte Livio an und fragte: »Was sagst du dazu?«
»Ich weiß nicht recht. Die können uns viel versprechen.«
»Sie können uns nicht ewig hier festhalten«, gab Enrico zu bedenken. »Wenn die Polizei uns gewaltsam befreit, stehen Sie weitaus schlechter da. Vertrauen Sie uns!«
Angelo nickte Livio aufmunternd zu, und der Mann mit dem roten Gesicht ließ seine Schrotflinte sinken.
»Also gut«, seufzte er. »Ihr seid frei und könnt gehen, wohin ihr wollt.«
»Am liebsten zu unseren Autos«, meinte Vanessa. »Aber wo sind die?«
»Sie stehen in einer alten Scheune. Wir werden sie zum Parkplatz vor dem Dorf bringen.«
»Gut«, sagte Vanessa beinah heiter, »dann nichts wie los!«
Sie wollte den Raum verlassen, aber Angelo machte eine abwehrende Handbewegung, die sie anhalten ließ.
»Ich würde gern noch mit euch sprechen«, sagte der Einsiedler. »Ich allein. Livio, ihr anderen verlasst bitte diesen Ort!«
»Natürlich, Angelo«, antwortete Livio ungewohnt zahm, und die bewaffneten Dörfler zogen sich aus dem Raum und dem unterirdischen Gang zurück.
Der Einsiedler nahm auf einem Schemel Platz und seufzte.
»Was hier geschehen ist, ist zum Teil meine Schuld, auch wenn ich nichts davon wusste. Ich hätte mit der menschlichen Neugier rechnen müssen, mit dem Drang, das Unbekannte kennen zu lernen und das Dunkle zu erhellen. Das habe ich unterschätzt, und beinah hätte es Menschenleben gekostet. Außerdem ist einer unter euch, der ein gutes Recht hat, hier zu sein und Fragen zu stellen.« Als er den letzten Satz aussprach, ruhte sein Blick auf Enrico.
»Warum habe ich dieses Recht?«, fragte Enrico. »Weil ich zu Ihnen hier gehöre, etwa? Weil meine Mutter aus diesem Dorf stammte?«
Angelo nickte. »Du hast die Kraft in dir, du bist ein Engelssohn.«
Enrico erschrak bei diesem Wort und dachte an den Geflügelten aus seinem Traum. »Was heißt das, ein Engelssohn?«
»So nannte man früher diejenigen, aus deren Händen die heilende Kraft strömte. Es heißt, die Engel hätten diese Gabe den Vorvätern überbracht zum Dank dafür, dass sie von ihnen freundlich aufgenommen wurden.«
»Verfügen nicht alle Menschen in Borgo San Pietro über diese Gabe?«
»Es werden immer weniger. Bei einigen ist die Gabe noch sehr schwach vorhanden, aber längst nicht so stark wie bei dir oder mir. Dies ist keine Zeit für Engel. Auch nicht an diesem Ort, der lange Zeit als auserwählt galt.«
»Noch in Ihrer Kindheit, nicht wahr, Signor Piranesi?«, hakte Vanessa nach. »War es nicht ein Engel, der Ihnen und Ihrem Bruder die Prophezeiung überbracht hat?«
Lange saß der Einsiedler mit in sich gekehrtem Blick da, als habe er Mühe, sich an seine lang zurückliegende Kindheit zu erinnern. Als er seine Lippen öffnete, sprach er leise: »Es war eine leuchtende Gestalt, wunderschön, mit ebenmäßigen Zügen, wie ich sie bei keinem Menschen gesehen habe. Ihre Haut schimmerte wie goldene Seide, und die Gestalt schien über dem Boden zu schweben. Die Flügel auf ihrem Rücken verliehen ihr das Aussehen eines Engels, aber sie hatten keine Federn. Ich kann nicht sagen, wie diese Schwingen beschaffen waren.«
»War es ein Mann oder eine Frau?«, fragte Enrico.
»Vielleicht beides, vielleicht keins davon, ich weiß es nicht.«
»Möglicherweise haben Engel kein Geschlecht«, gab Elena zu bedenken und fragte Angelo: »Haben Sie und Ihr Bruder sich nicht gefürchtet?«
»Anfangs ja. Wir wollten weglaufen, aber irgendetwas hielt uns fest wie eine unsichtbare Riesenfaust. Da war eine Stimme in unseren Köpfen, obwohl der Leuchtende nicht die Lippen bewegte. Die Stimme sagte uns, wir sollten Vertrauen haben und uns nicht fürchten. Uns würde kein Leid geschehen. Wir seien auserwählt worden, um eine wichtige Botschaft zu empfangen.«
»Auserwählt von wem?«, wollte Vanessa wissen.
»Das sagte die Stimme nicht. Aber Fabrizio und ich glaubten, nur Gott konnte diesen Engel gesandt haben.«
»Und dann hat der Engel Ihnen und Fabrizio seine Botschaft übermittelt?«, fragte Enrico.
»Ja und nein. Wieder sahen wir den Engel nicht sprechen, und wir hörten auch keine Stimme. Es war anders, und es lässt sich kaum beschreiben. Ein Erlebnis, wie ich es niemals zuvor und auch nie wieder danach hatte. Es war, als erlebten wir etwas mit, was an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit stattfand, obwohl wir nicht dort waren.«
»Was haben Sie erlebt?«, fragte Enrico.
Angelos knochige Hand fuhr durch seinen langen Bart. »Wir mussten der Kirche versprechen, darüber Stillschweigen zu bewahren. Aber vieles ist geschehen, und selbst die Kirche ist nicht mehr dieselbe und hat sich gespalten. Vielleicht ist es gut, wenn ich mein Wissen weitergebe, denn bald werde ich meinem Bruder folgen.« Sein Blick heftete sich auf Alexander. »Du bist der, dem Papst Custos sein Leben verdankt.«
Es war eigentlich keine Frage, aber trotzdem sagte Alexander: »Ja, der bin ich.«
»Du sollst hören, was der Engel mich sehen ließ. Vielleicht ist es an dir, den Papst ein zweites Mal zu retten. Höre: Ich stand auf schwankendem Boden, und rings um mich war der Himmel voller Feuer und Rauch. Die Menschen klagten um ihre vielen Toten, und ihre Häuser waren nur noch Ruinen. Zwischen den Toten und Verletzten, den Klagenden und den Mutlosen schritt mit gebeugtem Haupt der Heilige Vater einher, und Tränen flossen über seine Wangen. Er ging einen steilen Weg bergan, an dessen Ende ein großes Kreuz auf ihn wartete. Diejenigen unter den Menschen, die ihren Mut noch nicht ganz verloren hatten, blickten den Heiligen Vater mit neuer Hoffnung an und warteten darauf, dass er das Kreuz berührte, um sie von ihren Qualen zu erlösen. Aber plötzlich waren Feuer und Rauch nicht nur am Himmel, sondern auch rings um den Heiligen Vater und die, die ihm folgten. Die Hölle schien sich aufgetan zu haben, um diejenigen zu verbrennen, auf denen die Hoffnung der Menschen ruhte.«
Angelo schwieg und atmete heftig, als hätte er das eben Erzählte hautnah miterlebt. Seine Züge verrieten Angst.
»Was noch?«, fragte Alexander. »Was ist mit dem Heiligen Vater geschehen?«
»Mehr weiß ich nicht«, sagte der Einsiedler fast tonlos. »Hat der Höllenatem den Heiligen Vater wirklich verbrannt? Ich kann es nicht sagen. In mir war eine große Leere, und ich fühlte mich schwach, als hätte ich seit Tagen nichts gegessen. Ich setzte mich auf den Boden, und als ich wieder aufblickte, war der Engel verschwunden.«
»Eine seltsame Vision«, seufzte Alexander.
»Nein, gar nicht«, widersprach Vanessa. »Sie hat erschreckend viele Übereinstimmungen mit der dritten Prophezeiung von Fatima, die im selben Jahr empfangen wurde, in dem auch Angelo Piranesi und sein Bruder Fabrizio den Engel sahen. In der dritten Prophezeiung von Fatima ist ebenfalls von großer Verwüstung die Rede und von einem steilen Berg mit einem hohen Kreuz. Was Angelo als plötzliches Auftreten von Feuer und Rauch bezeichnet hat, könnte das Attentat sein, das in der Prophezeiung von Fatima erwähnt wird.«
Der Einsiedler nickte. »Ich spüre, dass das Leben des Heiligen Vaters bedroht ist. Die Erfüllung meiner Vision steht kurz bevor. Vielleicht aber könnt ihr es verhindern.«
Alexander stützte die Stirn in die Hand, als sei ihm sein Kopf angesichts all dieser Enthüllungen zu schwer geworden.
»Wenn es doch eine Prophezeiung ist, eine Botschaft Gottes, wie können wir einfache Menschen an dem etwas ändern, das von höchster Stelle beschlossen ist?«
»Wenn jemand etwas ändern kann, dann einfache Menschen«, behauptete Vanessa und sah Alexander an.
»Vergessen Sie nicht, dass Gott den Menschen einen freien Willen gegeben hat, um eigenverantwortlich über ihr Schicksal zu bestimmen. Nach Gottes Plan kann ein jeder selbst entscheiden, ob er sich dem Vorherbestimmten fügt oder nicht.
Wenn Gott den Menschen eine Botschaft schickt, kann das auch die Aufforderung sein, etwas gegen das zu unternehmen, was geschehen soll. Es kann eine Warnung und zugleich eine Prüfung sein.«
»Das sind aber viele Kanns«, seufzte Elena. »Angenommen, diese Vision stammt wirklich von Gott, dann macht er es den Menschen nicht gerade einfach, das Richtige zu erkennen.«
Vanessa lächelte nachsichtig. »Das wäre ja auch keine besondere Prüfung, oder?« Sie wandte sich an den Einsiedler.
»Hat Ihr Bruder dasselbe gesehen – oder erlebt – wie Sie?«
»Nein. Als wir über das sprachen, was der Engel uns gezeigt hatte, kam heraus, dass Fabrizio etwas ganz anderes gesehen hatte.«
Vanessa beugte sich zu Angelo vor und sah ihn gespannt an.
»Was?«
»Er sah eine Welt, in der die Kirche sich gespalten hatte. Ein zweiter Papst machte dem Heiligen Vater die Gläubigen abspenstig. Aber nur ein Papst folgte dem richtigen Weg. Der andere war verblendet, stand im Bann des Verfluchten, des Engelsfürsten.«
»Wer ist das, der Engelsfürst?«, fragte Enrico.
»Der, dem die gefallenen Engel gehorchen. Der, auf dem der Engelsfluch lastet.«
»Sprechen Sie von Luzifer, von Satan?«
»Ich kenne seinen Namen nicht«, sagte Angelo. »Und auch Fabrizio hat den Namen nicht gewusst. Aber in seiner Vision war der Engelsfürst unter die Menschen gekommen, und sein Fluch bedrohte die Welt. Nur eine vereinte Kirche konnte der Bedrohung widerstehen.«
Der Einsiedler schwieg zwanzig oder dreißig Sekunden, versunken in das so viele Jahrzehnte zurückliegende Erlebnis, und fügte dann leise hinzu: »Das war die Botschaft an meinen Bruder.«
»Eine vereinte Kirche«, murmelte Alexander. »Dann ist die Quintessenz dieser Vision, dass die Kirche ihre Spaltung überwinden muss.«
»So hört es sich an«, pflichtete Vanessa ihm bei. »Zwei Päpste sind einer zu viel. Angelo, hat Ihr Bruder Ihnen gesagt, welcher Papst der richtige und welcher der falsche ist?«
Der Einsiedler schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob die Menschen das erkennen können. Vielleicht wissen das nicht einmal der Heilige Vater und sein Gegenpart.«
»Vermutlich nicht, wenn jeder von ihnen sich für den rechtmäßigen Papst hält«, meinte Elena.
Sie diskutierten noch eine Weile über die Visionen der beiden Brüder, ohne dass neue Gesichtspunkte oder gar neue Erkenntnisse aufgetaucht wären. Schließlich wandte Enrico sich mit einer ganz anderen Frage, die ihm auf den Nägeln brannte, an Angelo: »Können Sie mir Näheres über meinen Vater sagen?«
Der Einsiedler zögerte mit seiner Antwort. »Ich weiß nicht, wer er ist.«
»Die Art, in der Sie das sagen, lässt aber erkennen, dass Sie eine Vermutung hegen«, bohrte Enrico nach.
»Etwas vermuten und etwas wissen sind zwei verschiedene Dinge.«
Enrico sah Angelo flehend an. »Wie soll ich die Wahrheit herausfinden, wenn ich nicht einmal einen Hinweis habe?«
Angelo heftete seinen Blick mit einer solchen Intensität auf ihn, dass Enrico die Anwesenheit der drei anderen in dem unterirdischen Raum fast vergaß. »Die Macht der Engel ist stark bei dir, so stark wie sonst nur noch bei mir. Ich habe es sofort gespürt, als ich dich sah. Und durch unsere vereinten Kräfte konnten wir Elena retten.«
Enrico sah ihn ungläubig an. »Sie wollen damit doch nicht andeuten, dass Sie mein Vater sein könnten?«
Zum ersten Mal sah er ein breites Lächeln auf Angelos Gesicht.
»Ich bin nicht dein Vater, gewiss nicht. Aber vor vielen Jahren gab es einen anderen Engelssohn in Borgo San Pietro, bei dem die Macht sehr ausgeprägt war. Er war noch jung an Jahren, und es gab eine Zeit, da warfen er und deine Mutter sich verliebte Blicke zu. Im Dorf fing man schon an zu reden, aber niemand sprach laut darüber.«
»Warum nicht? War dieser andere Mann schon verheiratet?«
»Ja, mit Gott.«
»Ein Priester?«, fragte Enrico ungläubig. Angelo blieb stumm, aber ein kurzes Nicken beantwortete die Frage.
»Jetzt wird mir so einiges klar«, sagte Enrico. »Das war in der Tat eine Schande für ein katholisches Dorf wie Borgo San Pietro, die es in den Augen der Menschen rechtfertigte, vielleicht sogar als notwendig erscheinen ließ, meine Mutter weit fort zu schicken. Jetzt verstehe ich auch, warum meine Mutter mir nie gesagt hat, wer mein Vater ist. Sie wollte ihn schützen. Angelo, wo ist er jetzt?«
»Er hat das Dorf schon vor vielen Jahren verlassen. Es heißt, der Vatikan habe ihm das nahe gelegt, wenn er sein Priesteramt nicht verlieren wollte.«
»Wegen meiner Mutter – und meinetwegen? Aber wir waren doch weit weg.«
»Nein, darum ging es nicht. Der Engelssohn hatte von seiner Macht Gebrauch gemacht, um schwer kranken Menschen zu helfen. Und die Leute hier in den Bergen fingen an, ihn zu verehren, mehr, als es einem einfachen Priester zusteht.
Deshalb, so heißt es, sandte man ihn weit fort in den Süden des Landes, und Pfarrer Umiliani übernahm seinen Posten.«
Enrico dachte an den Schuhkarton seiner Großtante, der neben Berichten über die Wunderkräfte von Papst Custos auch Zeitungsausschnitte über den Gegenpapst enthalten hatte.
»Tomás Salvati, der Papst der Gegenkirche, stammt aus Borgo San Pietro und ist hier einmal Priester gewesen. Ist er der Mann, von dem Sie sprechen, Angelo?«
»Ja, er ist der Engelssohn, von dem ich gesprochen habe.«
Das war eine Eröffnung, die alle vier für einige Zeit zum Schweigen brachte. Jeder dachte wohl über die Konsequenzen nach, die sich daraus ergaben.
»Tomás Salvati verfügt über ähnliche Kräfte wie Papst Custos, das ist ein Ding«, sagte Elena schließlich. »Angelo, stammen die Engelssöhne, wie Sie sie nennen, von Jesus ab?«
»Darüber weiß ich nichts. Ich habe nie etwas davon gehört.
Nur davon, dass unsere Fähigkeiten uns von den Engeln, unseren Vätern, vermacht wurden.«
»Was heißt das, von Ihren Vätern?«, fragte Elena. Enrico, dem sein Zwiegespräch mit Papst Custos in den Sinn kam, antwortete an Angelos Stelle und berichtete von der Legende von den gefallenen Engeln, die sich mit den Menschenfrauen verbunden hatten.
»Ist es das?«, wollte Elena wissen. »Glauben die Menschen in Borgo San Pietro, dass sie von gefallenen Engeln abstammen?«
»Ich weiß nicht, ob es die gefallenen Engel sind«, antwortete Angelo. »Aber es heißt, dass einst die Engel aus dem Himmel herabstiegen und nach Borgo San Pietro, wo die schönsten Töchter des ganzen Landes lebten, kamen, um sich mit ihnen zu verbinden. Als Dank für die freundliche Aufnahme gaben die Engel den Menschen hier die Gabe der heilenden Kraft.«
»Und offenbar zugleich die Gabe, in die Zukunft zu sehen«, fügte Vanessa hinzu.
Elena blickte zweifelnd in die Runde. »Ich würde sagen, das alles klingt reichlich unglaublich, wie ein aus dem Aberglauben geborenes Ammenmärchen, hätte ich die heilende Kraft nicht am eigenen Leib erlebt.«
»Wenn etwas daran ist, so handelt es sich wohl um eine Mischung aus Wahrheit und Legendenbildung«, meinte Vanessa. »Was immer den Menschen hier vor langer Zeit widerfahren ist, einige von ihnen verfügen unbestreitbar über besondere Kräfte. Wir können heute kaum noch sagen, woher diese Kräfte stammen. Vielleicht waren die Etrusker wirklich ein besonderes Volk, und ein Teil ihres Wissens, ihrer Macht, lebt in ihren Nachfahren weiter, in den Menschen von Borgo San Pietro. Aber Menschen neigen dazu, nach Erklärungen zu suchen, und so könnte die Legende von den Gaben der Engel entstanden sein.«
»Eine Legende, die vermutlich sehr alt ist und schon zu Zeiten der Etrusker bestand«, ergänzte Enrico und erinnerte an die vielen Engelsdarstellungen der Etrusker.
Alexander war aufgestanden und ging unruhig in dem Raum auf und ab. Jetzt blieb er stehen und sagte: »Ich muss ständig an den Gegenpapst denken. Wenn er über so besondere Kräfte verfügt, warum hat man dann nirgendwo etwas darüber gelesen?
Das müsste für die Presse doch ein gefundenes Fressen sein!«
»Offenbar sind seine Wundertaten nicht gerade in die Öffentlichkeit hinausposaunt worden«, erwiderte Elena. »Auch im Archiv des ›Messaggero‹ stand nichts darüber.«
»Der Vatikan wollte nicht, dass es bekannt wird«, sagte Angelo. »Aber dort wusste man davon.«
»Klar«, meinte Vanessa. »Sonst hätte man ihn kaum hier abberufen. Aber hätte Papst Custos dann nicht davon wissen müssen?«
»Nicht zwangsläufig«, meinte Elena. »Er ist erst seit ein paar Monaten im Amt. Merkwürdig ist allerdings, dass ihm nach Salvatis Aufstieg zum Gegenpapst kein vollständiges Dossier über diesen Engelssohn vorgelegt wurde. Vielleicht sind Mächte am Werk, die das verhindert haben. Das könnte mit den Priestermorden zusammenhängen. Wissen Sie etwas darüber, Angelo?«
»Viele Jahre nach Salvatis Abberufung kamen zwei Geistliche aus dem Vatikan nach Borgo San Pietro und stellten Fragen über die Heilungen«, sagte Angelo. »Sie sagten, es sei für ihre Akten.«
»Wann?«, fragte Elena.
»Vor ungefähr fünf oder sechs Jahren, wenn ich mich recht erinnere. Kurz danach wurde Tomás Salvati zum Kardinal ernannt.«
»Das übliche Vorgehen«, sagte Elena. »Der Vatikan wollte sich vergewissern, dass Salvati nicht noch mehr Leichen im Keller hat.«
»Leichen?«, fragte der Einsiedler.
»Geheimnisse, die einem hohen Würdenträger der Kirche nicht gut zu Gesicht stehen«, erklärte Elena. »Erinnern Sie sich noch, wer diese beiden Männer aus dem Vatikan waren, wie sie hießen?«
»Ich hatte die Namen vergessen. Aber dann hörte ich sie erst vor kurzem aus dem Mund von Ezzo Pisano, als er mir von den Priestermorden in Rom und Ariccia erzählte.«
»Sie meinen die Morde an den Pfarrern Dottesio und Carlini?«, vergewisserte Elena sich.
»Genau. So hießen die beiden Geistlichen aus dem Vatikan, die nach Borgo San Pietro kamen, um Fragen zu stellen. Sie haben nicht viele Antworten erhalten. Die Menschen hier mögen keine Fremden, schon gar keine, die Fragen stellen.«
»Wem sagen Sie das!«, stieß Alexander hervor und rieb seine noch immer von den Fesseln schmerzenden Handgelenke.
»Aber warum stehen sie Fremden so abweisend gegenüber?«
»Über die Jahrhunderte hinweg sind immer wieder Fremde zu uns in die Berge gekommen, die glaubten, sie könnten die Engelsmacht für ihre Zwecke nutzen. Manche Engelssöhne gingen mit ihnen, und die Macht der Engel wurde schwächer.
Auch Tomás Salvati wurde uns von der Kirche genommen, und jetzt bin ich der Letzte, der über diese Kraft verfügt. Wohl gibt es noch ein paar andere mit dieser Gabe, aber bei ihnen ist sie zu schwach, um wirken zu können.«
»Verstehe«, brummte Alexander. »Die Menschen haben Angst, dass man Sie auch noch wegholt. Deshalb die ablehnende Haltung gegenüber Fremden und die Bereitschaft, Menschen zu entführen und einzusperren.«
Angelo war die Verärgerung, die in Alexanders Worten mitschwang, nicht entgangen. Er heftete seinen Blick auf Alexander und sagte: »Vergiss nicht, was du den Leuten versprochen hast!«
»Keine Sorge. Der Polizei gegenüber werden wir das Wort Entführung nicht erwähnen.« Er sah sich in dem unterirdischen Raum um und grinste. »Offiziell sind wir zur Sommerfrische hier gewesen. Eine sehr erhellende Sommerfrische überdies. Die Verbindung zwischen Borgo San Pietro und den ermordeten Priestern ist hochinteressant. Vor allem vor dem Hintergrund, dass Dottesio und Carlini kurze Zeit nach ihren Recherchen die Glaubenskongregation und den Vatikan verlassen haben. Als habe ihnen jemand nahe gelegt, sich aus der Schusslinie zu bringen.«
»Damals war aber noch gar nicht absehbar, dass die Kirche sich spalten und dass Salvati zum Gegenpapst gewählt werden würde«, wandte Elena ein.
»Wirklich nicht?«, fragte Alexander. » Totus Tuus plant seine Unternehmungen von langer Hand. Vielleicht dachte man im Orden damals nicht an eine Kirchenspaltung, vielleicht aber an die Möglichkeit, Salvati eines Tages ins Amt des Papstes zu heben.«
»Das würde bedeuten, dass der Gegenpapst diesem Orden angehört«, schlussfolgerte Vanessa.
»Nicht notwendigerweise«, entgegnete Alexander.
»Vielleicht vertritt er einfach eine Linie, die Totus Tuus genehm ist, und weiß nicht einmal, wem er in die Hände spielt. Aber wir haben noch keine plausible Erklärung dafür, dass Dottesio und Carlini gerade jetzt ermordet wurden.«
»Doch, die haben wir«, meinte Elena. »Durch seine Wahl zum Gegenpapst ist Salvati ins Interesse der Öffentlichkeit gerückt, weltweit. Wer immer hinter ihm steht, muss befürchten, dass seine Wundertaten, mögen sie auch Jahre zurückliegen und sich in der Abgeschiedenheit dieser Berge ereignet haben, ans Licht gezerrt werden. Außerdem trat noch Vanessa auf den Plan, die Kontakt zu den beiden aufnahm.«
»Aber nicht deswegen«, sagte Vanessa. »Ich wollte für mein Buch nur einen Zugang zu den wirklichen Geheimnissen des vatikanischen Geheimarchivs haben.«
»Das wussten die Mörder beziehungsweise ihre Auftraggeber nicht«, fuhr Elena fort. »Sie mussten befürchten, dass Dottesio und Carlini etwas ausplaudern, und sei es auch nur unabsichtlich. Immerhin fällt auch die Prophezeiung von Borgo San Pietro unter das Thema Ihres geplanten Buches. Nur der Tod der Priester konnte die Gefahr endgültig beseitigen.«
»Ergibt das wirklich einen Sinn?«, fragte Enrico, der sich schwer damit tat, seinen Vater als möglichen Verbündeten und Mitwisser der Priestermörder zu sehen. »Warum sollte die Öffentlichkeit nichts von Salvatis Wundertaten erfahren? Auch Papst Custos ist mit seinen besonderen Fähigkeiten an die Öffentlichkeit getreten.«
»Was ihm nicht nur Lob, sondern auch eine Menge Tadel eingetragen hat. Viele seiner Gegner bezeichnen die Behauptung, er stamme von Jesus ab, als Ketzerei, als Gotteslästerung. Ein Gegenpapst, der mit sehr ähnlichen Wundertaten aufwartet, wäre der Allgemeinheit kaum vermittelbar gewesen, mag er seine Kräfte nun auf Jesus oder irgendwelche Engel zurückführen. Wenn Totus Tuus diesen Mann als neuen Papst durchsetzen wollte, musste der Orden alle Hinweise auf seine heilenden Kräfte tilgen.«
Der Schwerpunkt des Gesprächs verlagerte sich vom Gegenpapst zurück zur Vision der beiden Piranesi-Brüder. Sie hätten nur diese eine Engelserscheinung gehabt, die sie wenige Wochen später einem Bischof gegenüber zu Protokoll gaben, erzählte Angelo. Sie seien ermahnt worden, mit niemandem darüber zu sprechen.
Seit jenem Tag im Mai 1917, als ihnen der Engel erschienen war, war das Leben für Angelo und Fabrizio nicht mehr dasselbe gewesen. Beide fühlten sich auf besondere Art zu Gott hingezogen, und Fabrizio entschied sich für ein Leben in der Abgeschiedenheit des Klosters. Angelo wurde daraufhin von den Menschen in Borgo San Pietro bestürmt, den Ort nicht zu verlassen, weil er einer der letzten verbliebenen Engelssöhne mit der ausgeprägten Gabe der Heilkraft war. Angelo beugte sich dem Wunsch, wurde aber bald zum Einsiedler und zog sich in die Abgeschiedenheit der etruskischen Totenstadt zurück. Er suchte die Nähe der Engel, wie er es ausdrückte, und floh die Nähe der Menschen.
Viel mehr konnte Angelo ihnen nicht mitteilen, und schließlich begleitete er sie zum Parkplatz, wo die Fahrzeuge der Entführten nebeneinander aufgereiht standen. Auf den Sitzen lagen die Handys, die man ihnen abgenommen hatte, und auch Alexanders Automatik. Von den Dorfbewohnern war niemand zu sehen. Angelo ermahnte die vier Fremden noch einmal, an ihr Versprechen zu denken.
»Keine Sorge«, beschwichtigte Elena ihn. »Wir werden der Polizei von einem harmlosen Ausflug in die Berge erzählen, mehr nicht.«
»Nur ein harmloser Ausflug in die Berge, wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«, fragte zwei Stunden später ein wütender Fulvio Massi, als sie ihm auf der Polizeiwache von Pescia Bericht erstatteten. »Drei Menschen verschwinden spurlos, sind nicht zu erreichen, und dann tun Sie so, als sei nichts gewesen? Und Sie, Signor Rosin, wozu habe ich Ihnen diesen teuren Apparat mitgeben lassen? Wo ist er überhaupt?«
Alexander kramte in seinen Jackentaschen und legte den Peilsender auf Massis Schreibtisch. »Bitte sehr, Commissario.
Es ist leider kaputtgegangen.«
Massi erhob sich von seinem schweren Drehstuhl und sprach mit einer Stimme, die mühelos den Fernseher übertönte, der in einer Ecke lief und eine Sondersendung über die Katastrophe am Golf von Neapel zeigte: »Ich weiß nicht, was da oben in den Bergen geschehen ist. Aber eins weiß ich mit Sicherheit: Sie vier verschweigen mir nicht nur etwas, sondern eine ganze Menge. Ich hätte nicht übel Lust, Sie allesamt wegen Behinderung der Polizeiarbeit einzusperren.«
»Zwei Journalisten des ›Messaggero di Roma‹ von der toskanischen Polizei widerrechtlich festgehalten«, sagte Elena und nickte anerkennend. »Da freut sich aber die italienische Presse. Sie werden reichlich Schlagzeilen bekommen, Commissario, aber wohl kaum solche, die sich in Ihrer Personalakte gut machen.«
Massis Kopf ruckte zu ihr herum. »Wollen Sie mir drohen, Signorina?«
»Nicht mehr als Sie uns, Signor Massi.«
Die Blicke Elenas und des Commissario trafen sich zu einem stummen Duell. Schließlich wandte der stellvertretende Polizeichef von Pescia sich von ihr ab und blickte Enrico an.
»Warum vertrauen Sie mir nicht? Habe ich Ihnen nicht nach besten Kräften geholfen, Ihnen allen?«
Enrico tat es Leid, dass sie mit Massi Katz und Maus spielten. Ohne die Unterstützung des Commissario wäre es vielleicht nicht gelungen, Elena zu retten. Andererseits wollte er das Angelo gegebene Wort nicht noch einmal brechen, zumal die Schuld, in der sie Angelo gegenüber standen, nach seinem Dafürhalten ungleich größer war. Zögernd sagte Enrico: »Borgo San Pietro ist ein besonderer Ort, das sollten Sie doch wissen, Commissario. Er birgt viele Geheimnisse, und nur wenige davon gibt er preis. Nicht jedes Geheimnis ist für alle Ohren bestimmt.
Denken Sie an das Schweigen Ihrer eigenen Schwester! Sie hat ihre Lippen sicher nicht gern vor Ihnen verschlossen. Vielleicht sollten Sie mit ihr sprechen, Commissario. Was die Geheimnisse von Borgo San Pietro angeht, muss jeder seinen eigenen Weg finden.«
Massi setzte sich wieder, wie um über Enricos Worte nachzudenken. In das Schweigen, das für kurze Zeit in seinem Büro herrschte, brach die Stimme eines Fernsehmoderators: »Im Rahmen unserer Sonderberichterstattung über das Katastrophengebiet im Süden des Landes schalten wir gleich zu unserem Korrespondenten in Neapel, Luigi Pericoli. Er hat interessante Neuigkeiten über den Streit zwischen Papst und Gegenpapst.«
Hinter dem Moderator wurde der Korrespondent eingeblendet, der vor dem Dom von Neapel stand. Das Bauwerk hatte schwere Schäden davongetragen und war durch Absperrseile gesichert. Der Himmel über Neapel war düster, fast schwarz, was vermutlich auf den Ausbruch des Vesuvs zurückging.
»Luigi, was haben Sie uns Neues mitzuteilen?«, fragte der Moderator.
»Morgen Vormittag will der Gegenpapst Lucius IV. auf dem Monte Cervialto östlich von Salerno eine Messe abhalten, um Gott mit den Menschen zu versöhnen und dem allgemeinen Unglück ein Ende zu bereiten, wie die Gegenkirche verlauten ließ.«
»Warum ausgerechnet auf diesem Berg?«, fragte der Moderator.
»Dort steht ein berühmtes Kreuz, das so genannte Kreuz der großen Gnade. Dort sollen schon viele große Sünder ihre Taten bereut und sich wieder mit Gott versöhnt haben.«
Statt des Korrespondenten wurde das Foto eines großen, schmucklosen Holzkreuzes eingeblendet, das auf einer Anhöhe einsam in den Himmel ragte.
»Und was sagt die Amtskirche dazu, Luigi?«, wollte der Moderator wissen.
Der Korrespondent kam wieder ins Bild und sagte: »Papst Custos, der noch immer in Neapel weilt, hat angeboten, den Gottesdienst gemeinsam mit dem Gegenpapst zu zelebrieren, was eine ziemliche Sensation ist. Sofort hieß es, die Kirche in Rom würde damit die Kirchenspaltung als Faktum anerkennen.
Allerdings hat die Gegenkirche sich eine Teilnahme von Papst Custos an dem Gottesdienst verbeten. Nach ihrer Auffassung hat Custos durch sein Erscheinen in Neapel die Naturkatastrophe ausgelöst.«
»Gibt es denn inzwischen wissenschaftliche Erkenntnisse über die wahre Ursache der Katastrophe?«
Der Korrespondent schüttelte den Kopf. »Das noch nicht.
Allerdings sind sich alle Wissenschaftler darüber einig, dass die Beben und der Vulkanausbruch naturwissenschaftlich zu erklären sind und nicht theologisch.« Luigi Pericoli stutzte, drückte den Knopf, der in seinem linken Ohr saß, fester hinein und sagte dann: »Gerade höre ich eine interessante Neuigkeit.
Trotz der Aufforderung der Gegenkirche, dem Versöhnungsgottesdienst fernzubleiben, will Papst Custos morgen Vormittag zum Kreuz der großen Gnade hinaufsteigen.
Wie es heißt, will er das barfuß tun, um zu zeigen, dass er zu jeder Buße bereit ist, falls er wirklich Schuld auf sich geladen hat.«
Enrico, Vanessa, Alexander und Elena sahen einander ungläubig an, und jeder dachte dasselbe: Morgen Vormittag würden die Vision von Angelo Piranesi und die dritte Prophezeiung von Fatima in Erfüllung gehen.