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Nördliche Toskana,

Donnerstag, 24. September, Nachmittags Eine ganze Weile herrschte Schweigen in dem Polizeiwagen, den Fulvio Massi bergab in Richtung Pescia lenkte. Die Sonne war schon hinter den Baumwipfeln verschwunden, und der schattige Wald links und rechts der Straße wirkte auf Enrico bedrohlich. Er war ein Fremder, der dabei war, in die Geheimnisse dieser Berge einzudringen, in Geheimnisse, deren wahre Natur er wohl nicht einmal ahnte. Die unzähligen alten Bäume erschienen ihm als eine Armee von Riesen, die Front machte gegen alles Fremde und jeden, der es wagte, neugierig zu sein. Der zweite Besuch in Borgo San Pietro hatte ihm keinerlei Aufhellung gebracht. Im Gegenteil, das seltsame Betragen seiner Großtante hatte ihn nur noch mehr verwirrt. Er wollte seine Gedanken ordnen und war deshalb sehr froh, dass auch dem Polizisten nicht nach einem Gespräch zumute war.

Aber auf ungefähr halbem Weg stellte Massi die Frage, mit der Enrico rechnete, seit sie das Bergdorf verlassen hatten: »Wissen Sie wirklich nicht, wer Ihr Vater ist, Signor Schreiber?«

Massi hörte sich fast an wie der alte Ezzo Pisano, der Enrico vorhin auch mit dieser Frage konfrontiert hatte. Als Antwort hatte Enrico etwas Unverständliches gemurmelt und sich rasch von Pisano verabschiedet. Er wusste, dass er sich dem Polizisten gegenüber nicht so einfach aus der Affäre ziehen konnte.

»Jahrelang habe ich den Mann meiner Mutter für meinen leiblichen Vater gehalten, den Rechtsanwalt Lothar Schreiber aus Hannover«, begann Enrico, das schmerzhafteste Kapitel sein Lebensgeschichte zu erzählen. »Dem Gesetz nach war er auch mein Vater. Er und meine Mutter hatten vor meiner Geburt geheiratet. Ich wusste allerdings nicht, dass meine Mutter zu diesem Zeitpunkt bereits schwanger war, von einem anderen Mann.«

»Und Sie kennen diesen Mann nicht?«

»Leider nein, sonst hätte ich vorhin nicht die Signora gefragt.

Vielleicht hätte ich nie erfahren, dass Lothar nicht mein leiblicher Vater war, wäre er nicht schwer erkrankt. Er benötigte eine neue Niere, hatte aber die seltene Blutgruppe B, was die ohnehin nicht rosigen Aussichten auf eine Spenderniere noch verschlechtert hat. Ich habe mich untersuchen lassen, um zu erfahren, ob ich als Organspender für meinen Vater in Frage käme. Fehlanzeige. Ich habe nicht nur die stinknormale Blutgruppe A, ich erfuhr auch noch, dass ich mit meinem gesetzlichen Vater so wenig blutsverwandt war wie ein Elefant mit einer Maus. Mit ihm ging es schnell bergab, und ich habe das Thema ihm gegenüber nicht erwähnt. Er hat mich großgezogen und ist immer für mich da gewesen. Für mich blieb er bis zu seinem Tod mein Vater, den ich liebte und achtete.

Aber später, einige Zeit nach der Beerdigung, habe ich meine Mutter gefragt.«

»Und sie hat Ihnen den Namen Ihres wirklichen Vaters nicht verraten?«

»Meine Mutter sagte mir, sie kenne seinen Namen nicht. Er sei ein Fremder gewesen, der nur kurz auf der Durchreise in Borgo San Pietro geblieben sei. Als sie merkte, dass sie schwanger war, hatte sie weder seine Adresse noch seinen Namen. Ihr blieben nichts als ihr langsam dicker werdender Bauch und die damit verbundene Schande.«

»Das kann ich mir vorstellen. Ein uneheliches Kind ist in Borgo San Pietro noch heute so etwas wie eine Pesterkrankung, aber zur Zeit Ihrer Mutter muss es um vieles schlimmer gewesen sein.

Zumal es das Kind von einem Unbekannten, einem Fremden, war.«

»Die Eltern meiner Mutter beschlossen, aus der misslichen Situation das Beste zu machen. Sie schickten ihre Tochter nach Deutschland, zu einer Familie, mit der die Familie Baldanello schon seit vielen Jahren befreundet war.«

»Die Familie Ihres vermeintlichen Vaters?«, fragte Massi.

»Ja. Meine Mutter sollte bei den Schreibers in Hannover bleiben, bis sie entbunden hatte. Praktischerweise verliebten sich meine Mutter und Lothar Schreiber ineinander, und so kam ich als eheliches Kind zur Welt.«

»Dann sind Sie ja ein waschechter Italiener, was Ihre Abstammung betrifft. Jedenfalls, wenn man davon ausgeht, dass der große Unbekannte kein Ausländer war.«

»Er war Italiener. Immerhin das konnte – oder wollte – meine Mutter mir sagen.«

»Deuten Sie damit an, dass Ihre Mutter Ihnen nicht alles gesagt hat, was sie über Ihren leiblichen Vater wusste?«

»Ich deute an, Signor Massi, ich deute an. Dass meine Mutter mehr über den Mann wusste, an den sie ihre Unschuld verlor, habe ich immer schon geahnt. Ohne konkreten Grund, aber etwas in mir hat nicht geglaubt, dass ich den Namen meines wahren Vaters niemals erfahren sollte. Gewissheit erlangte ich aber erst am Sterbebett meiner Mutter. Vielleicht bereute sie im Angesicht des Todes, mir nicht die ganze Wahrheit gesagt zu haben. Sie konnte wegen eines Schlaganfalls kaum sprechen, aber sie hat es versucht. Und ein paar Worte konnte ich verstehen. Sie sagte, ich solle meinen Vater suchen oder besuchen, so ganz konnte ich es nicht verstehen. Aber deutlich hörte ich, wie sie in diesem Zusammenhang von Borgo San Pietro sprach.«

»Also war Ihr Vater kein Fremder, kein Durchreisender. Er kam aus dem Ort.«

»Entweder das, oder in Borgo San Pietro gibt es zumindest einen Hinweis auf meinen Vater. Oder jemanden, der seinen Namen kennt.«

»Zum Beispiel Rosalia Baldanello.«

»Das hatte ich bis heute gehofft, aber nach dem Besuch bei meiner Großtante habe ich starke Zweifel, dass ich von ihr mehr erfahren werde. Ihr Geist ist verwirrt, und irgendetwas versetzt sie in Panik.«

»Vielleicht derselbe Grund, der auch Don Umiliani in Panik geraten ließ«, schlug der Commissario vor. »So sehr, dass er meinen Schwager getötet hat.«

»Möglich. Aber was ist es?«

»Ich weiß es nicht, noch nicht, aber es ist eine seltsame Geschichte«, fand Fulvio Massi, während er vor einer scharfen Kurve auf die Bremse trat. »Und eine beunruhigende.«

»Wieso beunruhigend?«

»Gehen wir einmal davon aus, dass die Ermordung meines Schwagers tatsächlich etwas mit Ihrem Besuch zu tun hat. Liegt dann nicht die Überlegung nahe, dass der Mörder, Pfarrer Umiliani, den armen Benedetto zum Schweigen bringen wollte?«

»Sie meinen, damit er mir nicht etwas über meinen Vater verrät?«

»So ungefähr«, brummte Massi und wechselte den rechten Fuß wieder aufs Gaspedal, um am Ende der Kurve zu beschleunigen.

»Weshalb finden Sie das beunruhigend?«

»Wenn ein kreuzbraver Priester wegen des Auftauchens eines Mannes aus heiterem Himmel zum Mörder wird, finde ich das allerdings beunruhigend. Sie etwa nicht?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fragte Massi weiter: »Welcher Art ist eigentlich die Verbindung zwischen den Familien Schreiber und Baldanello?«

»Auch das habe ich nie in Erfahrung bringen können. Man scheint sich schon seit etwa zweihundert Jahren gekannt zu haben und stand seitdem im Kontakt miteinander. Aber es gibt offenbar keine Aufzeichnungen über den Grund und den Beginn dieser Freundschaft.« Enrico überlegte, ob er dem Polizisten von Fabius Lorenz Schreibers Reisetagebuch erzählen sollte.

Immerhin war es seiner Mutter so wichtig gewesen, dass sie es ihm auf dem Sterbebett übergeben hatte. Er sah ihren geschwächten, halb gelähmten Körper vor sich und die zitternde Hand, die ihm mit letzter Kraft das alte Buch hinhielt. Aus diesen Aufzeichnungen erfuhr er zumindest mehr darüber, wie sich die Familien Schreiber und Baldanello kennen gelernt hatten. Ob sie auch einen Hinweis auf seinen Vater enthalten würden, musste sich noch zeigen.

Aber bis dahin, beschloss er, wollte er niemandem von dem Buch erzählen. Vielleicht enthielt es weitaus unliebsamere Wahrheiten als die, dass ein Räuberhauptmann zur Familie Baldanello gehört hatte.

Als sie den dunklen Wald verließen und auf Pescia zufuhren, wurde es nicht merklich heller. Die Wolken hatten sich über der kleinen Stadt zusammengezogen und hingen über ihr wie eine gigantische dunkelgraue Glocke. Der Regen hatte den schmalen Fluss ein wenig breiter werden lassen und die Straßen leer gefegt. Massi setzte Enrico vor dem Krankenhaus ab und fuhr dann weiter in Richtung Piazza, wo die Polizeistation lag.

Enrico lief durch den Regen zum Krankenhauseingang und erkundigte sich beim Pförtner nach Dr. Addessi. Diesmal war die Ärztin im Haus und auch für ihn zu sprechen. Als er den kleinen Büroraum betrat, in dem sie ihn erwartete, sah er gleich an ihrem bekümmerten Ausdruck, dass sie keine guten Nachrichten für ihn hatte.

»Geht es Elena schlechter?«, fragte er und sparte sich die Höflichkeit einer Begrüßung.

»Es sah kurzzeitig so aus, als würde sie aus dem Koma erwachen. Aber sie war zu schwach, sie wäre uns gestorben, wenn wir nicht …«

Riccarda Addessi beendete ihren Satz nicht, sondern starrte auf einen imaginären Punkt an der Wand neben Enrico.

»Wenn Sie was nicht?«, fragte er laut. »So reden Sie doch!«

»Wir haben sie wieder künstlich ins Koma geschickt. Nur so konnten wir ihren Zustand stabilisieren.«

»Ins künstliche Koma?«

Enrico überlegte eine Weile, sortierte seine Gedanken und versuchte zu begreifen, was Dr. Addessis Eröffnung bedeutete.

»Heißt das, Elena wird nie wieder erwachen, weil sie sonst …

stirbt?«

»Wir arbeiten an einer Lösung dieses Problems«, versicherte ihm die Ärztin mit einer Zuversichtlichkeit in der Stimme, die im Widerspruch zu ihrem ratlosen Gesichtsausdruck stand.

»Glauben Sie mir, wir tun alles, was wir können!«

»Die Frage ist nur, ob das ausreicht«, sagte Enrico leise und verließ den Raum, ohne sich zu verabschieden. Er fühlte sich auf einmal sehr müde und erschöpft. Machte sich der fehlende Schlaf der letzten Tage bemerkbar? Fast war er froh, als ihm draußen vor dem Krankenhaus der kalte Wind den Regen ins Gesicht peitschte. Das weckte wenigstens seine Lebensgeister ein wenig. Sein Blick fiel auf die Kirchen, die in der Nähe des Hospitals standen: der mächtige Dom, die kleine Kirche Sant’

Antonio Abate und die größere Kirche San Franceso. Wie lange war er, von dem gestrigen Besuch in der Dorfkirche abgesehen, nicht mehr in einem Gotteshaus gewesen, wenn ihn nicht ein äußerer Anlass wie eine Hochzeit im Freundeskreis oder ein Trauerfall in der Familie dazu veranlasst hatte? Als Kind war er regelmäßig zur Kirche gegangen, darauf hatte seine gläubige Mutter bestanden. Als er älter wurde, hatte sich das gelegt wie bei fast allen Jugendlichen. Und später, als Erwachsener, hatte er es sich einfach gemacht und die Schuld an seinem mangelnden religiösen Interesse seiner Mutter zugeschoben. Sie, eine strenggläubige Frau, hatte ihn sein ganzes Leben lang über seinen Vater im Ungewissen gelassen oder gar belogen. Wie konnte da an dem katholischen Glauben, der die Lüge doch verbot, etwas dran sein?

Jetzt, als er hier auf dem kleinen Platz im Regen stand, wusste er, dass er seiner Mutter unrecht getan und sie als Alibi benutzt hatte. Die Erlebnisse in Borgo San Pietro hatten ihn gelehrt, dass seine Mutter für ihr Schweigen gute Gründe gehabt haben musste. Wenn ein Priester zum Mörder wurde, wie sollte eine einfache Frau dann freimütig sprechen?

Enrico ging auf die Kirche San Francesco zu, ohne zu wissen, warum er gerade sie ausgewählt hatte. Fast automatisch tauchte er die Hand beim Eintreten ins Weihwasserbecken und bekreuzigte sich. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das zum letzten Mal getan hatte. Die Kirche war dunkel, kalt und leer.

Seine Schritte hallten, wie er fand, überlaut wider, als er langsam durch das Kirchenschiff schritt, bis er vor dem Tisch mit den Opferkerzen stand. Seine rechte Hand suchte in der Jackentasche nach einer Münze, die er durch den Schlitz in den Geldbehälter fallen ließ. Das metallische Klirren wollte nicht recht zu der weihevollen Stille passen. Er entzündete eine Kerze und stellte sie zu den anderen, wobei er an seine Mutter dachte und daran, wie ungerecht er über sie gedacht und gesprochen hatte.

Dann warf er eine zweite Münze in den Kasten, entzündete eine weitere Kerze und sprach zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder so etwas wie ein Gebet. Keine auswendig gelernten Formulierungen, wie sie von den Kirchenbesuchern so oft ohne Sinn und Verstand heruntergeleiert werden, sondern Worte, die ihm gerade einfielen, die ihm aus dem Herzen kamen. Er bat für Elena, um ihr Leben und ihre Gesundheit, während er auf die Knie sank und die Hände faltete. Dabei fühlte er sich, als habe er etwas lange Verlorenes wiedergefunden.

»Das Gebet hilft in der Not, uns selbst genauso wie denen, für die wir beten. Gott hört uns zu, wenn wir zu Ihm sprechen auch wenn es kein äußeres Zeichen gibt, an dem wir das erkennen. Wir wissen einfach, dass Gott bei uns ist und uns zur Seite steht. Das ist das Wunderbare an unserem Glauben.«

Wie durch eine Nebelwand drangen die Worte an Enricos Ohr und holten ihn aus der Versunkenheit des Gebets zurück.

Erst als er diese Worte vernahm und die schwarz gewandete Gestalt neben sich sah, wurde ihm bewusst, dass er nicht länger allein in der Kirche war. Erst glaubte er, der Pfarrer von San Francesco sei neben ihn getreten, aber dann bemerkte er die breite purpurne Schärpe, die runde Kopfbedeckung gleicher Farbe und das große goldene Kreuz, das an einer langen Kette vor der Brust des Geistlichen hing. Der Mann war um die sechzig, von mittlerer Gestalt, mit einem ernsten, entschlossenen Gesicht, dessen Augen hinter einer randlosen Brille lagen – und er war ein Kardinal.

Verwirrt darüber, im eher kleinen Pescia einen so hohen kirchlichen Würdenträger anzutreffen, stand Enrico auf. »Sie irren sich, Eminenz, ich bin zwar katholisch, aber nicht gläubig.«

»Und ich hätte schwören können, dass Sie eben gebetet haben«, sagte der Geistliche mit leichtem Kopfschütteln.

»Das … das habe ich auch. Aber es war zum ersten Mal seit vielen Jahren.«

»Besser zum ersten Mal seit vielen Jahren als überhaupt nicht. Die verlorenen Söhne, die zurückkehren, sind diejenigen unter seinen Kindern, über die sich unser Herr besonders freut.«

»Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich das regelmäßig tun werde – beten, meine ich.«

»Gehen Sie in sich und hören Sie auf das, was Ihr Herz Ihnen sagt! Das menschliche Herz ist in der Regel kein schlechter Ratgeber, mein Sohn.«

»Vielleicht haben Sie Recht, Eminenz.«

»Es freut mich, wenn Sie dabei sind, Ihren Glauben wiederzufinden.« Er zeigte mit einladender Geste auf die leeren Beichtstühle. »Es ist sicher lange her, dass Sie Ihr Gewissen vor Gott erleichtert haben. Wenn Sie möchten, stehe ich Ihnen zur Verfügung.«

»Ich weiß nicht«, sagte Enrico zögernd. »Ich glaube, dazu ist es zu früh.«

Der Kardinal nickte verständnisvoll. »Wie ich schon sagte, hören Sie auf Ihr Herz! Es kann einem Menschen unendlich viel helfen, sein Gewissen zu erleichtern. Ich habe es gerade erlebt, als ich Pfarrer Umiliani die Beichte abnahm.«

Enrico sah ihn erstaunt an. »Sie waren bei Umiliani? Er hat sich Ihnen offenbart?«

»So ist es, und hinterher ging es ihm etwas besser.«

»Warum hat er Benedetto Cavara getötet?«

»Aber Signor Schreiber, als Katholik sollten Sie wissen, dass mich das Beichtgeheimnis zum absoluten Stillschweigen verpflichtet. Selbst der Justiz darf ich nicht mitteilen, was Umiliani mir als seinem Beichtvater anvertraut hat.«

»Sie wissen, wer ich bin, Eminenz?«

»Ich kam hierher, um mit Ihnen zu sprechen. Der Pförtner im Hospital sagte mir, er habe sie durch das Portal von San Francesco gehen sehen. Die Kirche ist, wie Sie sich denken können, sehr besorgt über den Vorfall in Borgo San Pietro.

Vielleicht können Sie mir helfen, ein wenig Licht in die Sache zu bringen.«

»Sie haben sicher mit der Polizei gesprochen, Eminenz.«

»Sicher.«

»Dann kennen Sie die äußeren Umstände. Mehr weiß ich auch nicht. Ich habe mich bei dem Bürgermeister lediglich nach meiner Familie erkundigt. Er log mich an, sagte, es lebe kein Baldanello mehr im Ort und der Pfarrer sei verreist. Warum er log und warum er danach zu Umiliani eilte, kann ich mir ebenso wenig erklären wie die Tat des Priesters. Darüber wissen Sie vermutlich mehr als ich.«

»Auch Pfarrer Umiliani hat sein Päckchen zu tragen«, erklärte der Kardinal und wies zum Ende des rechten Langschiffs. »Schauen Sie mal!«

Er führte Enrico zu einem Tafelbild, das einen Heiligen mit den Wundmalen darstellte, wie man sie auch auf vielen Abbildungen des gekreuzigten Heilands findet. Sechs Szenen aus dem Leben des Heiligen umrahmten das Tafelbild, und Enrico erkannte an diesen Szenen, um wen es sich handelte.

»Der heilige Franziskus, Franz von Assisi«, sagte er.

»Ja, der Patron dieser Kirche und der Schutzheilige ganz Italiens«, bestätigte der Kardinal. »Ein reicher Kaufmannssohn ein Playboy nach heutigen Maßstäben, der auf alles verzichtete, um barfuß und nur mit einer rauen Kutte bekleidet sein Leben Gott zu weihen. Ein Beispiel für jeden Menschen, der glaubt, sein eigenes Leid nicht mehr ertragen zu können. Franziskus hat immer nur an Gott gedacht, an seine Mitmenschen und an die Tiere, denen er ebenso verbunden war wie den Menschen, aber niemals an sich selbst.«

»Sollen diese Wundmale seine Leidensfähigkeit veranschaulichen?«

»Mehr noch, er hat sie tatsächlich empfangen, dafür gibt es Zeugen. Im Jahr 1224, als er schon alt war, krank und sehr schwach, erhielt er auf dem Monte Alverna die Wundmale des Herrn. Es war der Tag des Festes der Kreuzerhöhung, als Christus ihm zum Zeichen höchster Anerkennung diese Gnade erwies.«

»Ich weiß nicht, ob ich das Zufügen von Wunden als das Erweisen einer Gnade bezeichnen würde«, sagte Enrico zweifelnd.

»Es sind die Wunden des Herrn!«, sagte der Kardinal streng, lächelte dann aber nachsichtig und griff in eine Tasche seines Gewands. »Mein Sohn, wenn Sie christlichen Beistand benötigen oder wenn Ihnen noch irgendetwas Wichtiges zu dem Vorfall in Borgo San Pietro einfällt, wenden Sie sich bitte jederzeit an mich.«

Er gab Enrico eine Visitenkarte mit einer Adresse im Vatikan und dem Aufdruck: ›Araldo Kardinal Ferrio – Sekretär der Kongregation für die Glaubenslehre‹.

»Sie gehören der Kongregation für die Glaubenslehre an? Ist das nicht die Nachfolgeorganisation der Inquisition?«

»Wenn ich ein Inquisitor wäre, mein Sohn, würde ich mich dann so freundlich mit Ihnen unterhalten?« Der Kardinal verabschiedete sich, weil er, wie er sagte, zurück nach Rom müsse. Enrico blieb noch eine Weile in der Kirche und dachte über die merkwürdige Begegnung nach. Trotz der freundlichen Worte Ferrios wurde er den Eindruck nicht los, dass er gerade einem Verhör unterzogen worden war. Einem Verhör, bei dem der Kardinal sehr viel subtiler vorgegangen war als die Inquisitoren vergangener Jahrhunderte. Schulterzuckend steckte Enrico die Karte ein und ging zum Kirchenportal. Er hatte Hunger, und er war müde. Nach einem schnellen Essen irgendwo im Ort wollte er zum Hotel zurückfahren und sich früh schlafen legen. Aber vorher würde er sich noch die Aufzeichnungen von Fabius Lorenz Schreiber vornehmen, um mehr über seine Familiengeschichte zu erfahren.

Das Reisebuch des Fabius Lorenz Schreiber, verfasst

anlässlich seiner denkwürdigen Reise nach Oberitalien im