Pescia
Vor der Tür des Krankenzimmers blieb Enrico stehen und zögerte, obwohl er die Hand bereits zum Anklopfen erhoben hatte. Elena hatte sich schnell erholt, wie Dr. Addessi ihm vorhin am Telefon mitgeteilt hatte. Laut Auskunft der Ärztin lag sie nur noch pro forma auf der Intensivstation. Es war einfach nicht üblich, jemanden, der vor einigen Stunden noch mit dem Tod gerungen hatte, so schnell auf eine andere Station zu verlegen. Eigentlich hätte Enrico also froh sein müssen. Sein sehnlichster Wunsch, um dessen Erfüllung er sogar gebetet hatte, war in Erfüllung gegangen. Aber er hatte sich das Wiedersehen mit Elena anders vorgestellt. Ihr Name über dem Zeitungsartikel hatte alles ins Wanken gebracht, was er in den vergangenen Tagen gefühlt und erhofft hatte. Er hatte in Rom angerufen, in der Redaktion des »Messaggero di Roma«, und sich nach Elena Vida erkundigt. Eine Redaktionsassistentin hatte ihm mitgeteilt, Signorina Vida sei für mehrere Tage zu Recherchen unterwegs und deshalb nicht in Rom. Auf Enricos Frage, ob sich Signorina Vida in der Toskana aufhalte, hatte die Redaktionsassistentin nicht antworten wollen. Trotzdem hatte er keinen Zweifel daran, dass seine Elena Vida mit der Verfasserin des Zeitungsartikels identisch war. Jetzt sah er auch ihr starkes Interesse an der Kirche in einem neuen Licht. Als Vatikankorrespondentin hatte sie natürlich die Fernsehübertragung anlässlich der Amtseinführung des Gegenpapstes verfolgen wollen. Enrico fühlte sich getäuscht und missbraucht.
Er unterdrückte den Impuls, auf dem Absatz kehrtzumachen und das Kapitel Elena Vida aus seinem Leben zu streichen.
Obwohl er sie erst wenige Tage kannte, bedeutete sie ihm viel.
Er wusste, dass er sie nicht einfach vergessen konnte. Und er war der Meinung, dass er ein Recht auf eine Erklärung hatte.
Also klopfte er an, und Elenas »Herein!« klang so munter, als sei sie niemals krank gewesen.
Sie trug noch einen Kopfverband, war aber von den Schläuchen und Kabeln befreit. Sie saß halb aufrecht im Bett und las eine Zeitung. Beim Nähertreten erkannte Enrico, dass es die heutige Ausgabe des »Messaggero di Roma« war. Elena legte die Zeitung beiseite und begrüßte ihn mit einem strahlenden Lächeln. »Wie geht es dir?«, fragte er, aber angesichts ihres Zustands war es eher eine rhetorische Frage.
»Ich fühle mich wie neugeboren. Kein Wunder, ich habe ja auch eine Menge Schlaf hinter mir. Das reicht fürs restliche Jahr, glaube ich. Dr. Addessi hat mir gesagt, ich hätte es dir zu verdanken, dass es mir so gut geht. Danke, Enrico!«
Er hatte den Eindruck, sie würde ihn in die Arme nehmen und küssen, wenn er zu ihr ans Bett trat. Noch vor ein paar Stunde hätte er nichts lieber getan als das. Jetzt aber hielt ihn ein unsichtbare Hand zurück, und er sagte nur: »Ich habe nicht viel getan. Dieser Einsiedler aus den Bergen, Angelo, hat dir geholfen.«
»Der Mann, der die Dorfbewohner aufgehalten hat?«
»Derselbe.«
»Ich erinnere mich nur noch ungenau an ihn.«
»Dann hat dich ja auch der Stein getroffen, und du bist im Reich der Träume gewesen.«
Sie klopfte mit der rechten Hand auf die Bettkante. »Setz dich zu mir und erzähl mir mehr von Angelo und davon, wie er mir geholfen hat! Dr. Addessi hat gesagt, nur er und du seien bei mir im Zimmer gewesen.«
Zögernd nahm er auf der Bettkante Platz und berichtete in dürren Worten, was sich ereignet hatte. Auch diesmal verschwieg er die unheimliche Vision, die ihn während der seltsamen Zeremonie überfallen hatte.
»Aber was genau hat Angelo mit mir getan?«, hakte Elena nach. »Du hast das nicht gerade sehr ausführlich geschildert.«
»Ist das wirklich nötig, Elena?« Er blickte sie traurig an und zog den Zeitungsausschnitt mit ihrem Artikel aus einer Jackentasche, um ihn vor ihr aufs Bett zu legen. »Du kennst dich doch gut mit Wunderheilungen aus.«
Elena starrte erst den Artikel und dann Enrico an. Ihre Lippen bewegten sich, ohne dass sie etwas sagte. Offenbar fand sie nicht die richtigen Worte.
»Habe ich dich jetzt schockiert?«, fragte Enrico. »Ich muss gestehen, dass ich auch überrascht war, als ich auf den Artikel stieß, Frau Lehrerin.«
»Woher hast du das?«
Er berichtete von Rosalia Baldanellos seltsamem Vermächtnis, »Der Karton enthielt nur die Zeitungsausschnitte?«, vergewisserte sich Elena. »Nichts sonst, keinen Brief, keinen Hinweis, was die Ausschnitte bedeuten?«
»Nichts.«
»Wie seltsam.«
»Das ist alles, was du dazu zu sagen hast?«, fragte er enttäuscht.
Elena blickte ihm in die Augen. »Ich weiß, dass ich mich bei dir entschuldigen muss, Enrico, und ich möchte es auch. Ich weiß bloß nicht, wie. Du denkst jetzt, dass ich dich benutzt habe, und in gewisser Weise stimmt das. Aber es war keine böse Absicht, wirklich nicht. Als ich hörte, dass du nach Borgo San Pietro willst, sah ich das als gute Gelegenheit, den Ort ohne viel Aufhebens zu besichtigen. Ich dachte, ein Touristenpaar fällt weit weniger auf als eine Journalistin.«
»Du hättest es mir sagen können. Warum hast du dich als Lehrerin auf Urlaub ausgegeben und mir nicht einfach gesagt, dass du Recherchen im Geburtsort des Gegenpapstes betreiben willst?«
Sie zuckte ratlos mit den Schultern. »Berufskrankheit, schätze ich. Wie sagte doch immer der alte Bernardo, der Redakteur, bei dem ich mein Handwerk gelernt habe: ›Vertraue niemandem und nur im Zweifelsfall dir selbst!‹«
»Du hast also geglaubt, ich könnte dich verraten.«
»Nicht direkt. Aber ich dachte, wenn du die Wahrheit nicht weißt, kannst du dich auch nicht verplappern.«
»Vielen Dank für dein großes Vertrauen!«, sagte er säuerlich.
»Ich wollte dich nicht verletzen, Enrico! Wie kann ich das wieder gutmachen?«
»Indem du mir jetzt die ganze Wahrheit sagst.«
»Die kennst du schon.«
»Nur über deinen Beruf.«
»Ach so«, sagte Elena mit einem tiefen Seufzer. »Das meinst du.«
»Ja, das meine ich«, erwiderte er mit belegter Stimme.
»Frauen sind in solchen Dingen sehr sensibel. Vermutlich hast du längst gemerkt, dass du mir nicht gleichgültig bist. Vielleicht bin ich zu unsensibel, aber ich hätte gern von dir gehört, wie du dazu stehst.«
Elena legte ihre rechte Hand auf seine. »Ich könnte mir gut vorstellen, mein Herz an dich zu verlieren, Enrico – wenn ich es nicht schon an jemand anderen verloren hätte.«
Er ignorierte das leichte Schwindelgefühl, das ihn erfasste, und fragte: »Darf ich etwas mehr darüber wissen? Wer ist der Glückliche?«
»Er heißt Alexander. Nachdem ich aufgewacht bin, habe ich lange mit ihm telefoniert. Stell dir vor, er wusste gar nicht, dass ich im Krankenhaus liege. Irgendwie hat die Polizei es nicht fertig gekriegt, die Nachricht nach Rom zu übermitteln.«
»So etwas kann passieren, wenn man zu viel Geheimniskrämerei um seine Person betreibt.«
»Das habe ich jetzt wohl verdient«, sagte Elena ein wenig betrübt, lächelte aber gleich wieder. »Wir sind in einer sehr dummen Situation, Enrico. Aber wir sollten uns nicht mit Vorwürfen beharken, das hilft uns nicht wirklich. Lass uns lieber in Ruhe über alles sprechen!«
»Gut, dann erzähl mir mehr von deinem Alexander! Der Name klingt nicht gerade nach einem Italiener.«
»Er ist Schweizer«, erklärte sie und erzählte ausführlich, wie sie und Alexander Rosin sich kennen gelernt hatten. Sie schloss mit den Worten: »Jetzt kennst du mein Privatleben fast besser als ich selbst.«
»Ja, und ich habe den Eindruck, dass du mit deinem Alexander verdammt glücklich bist.«
»Wir sind sehr glücklich zusammen, ja.«
»Gut für euch, nicht so gut für mich«, sagte er mit einem gezwungenen Lächeln und erhob sich. »Na ja, da muss ich mich wohl auf die Suche nach Müttern mit hübschen Töchtern begeben.«
Obwohl er das so leichthin sagte, war ihm kein bisschen fröhlich zumute. Aber nur auf diese Weise konnte er die tiefe Traurigkeit, die ihn erfüllte, überspielen. Die Vorstellung war zu Ende, und er wollte sich und Elena einen weinerlichen Abgang ersparen.
Überraschenderweise hielt Elena ihn an der Hand fest. »Bleib noch, Enrico, bitte!«
»Wozu?«
»Ich weiß, ich habe dazu kein Recht, aber ich möchte dich noch einmal um deine Hilfe bitten. Auch wenn es mir besser geht, bin ich laut Aussage der Ärzte noch einige Zeit Gast in diesem schönen Hospital. Würdest du für mich nach Rom fliegen? Meine Zeitung übernimmt selbstverständlich alle Kosten. Berichte Alexander alles, was du hier erlebt hast, besonders, was dein Zusammentreffen mit Angelo betrifft! Und zeig ihm die Zeitungsausschnitte, die du von deiner Großtante bekommen hast! Ich selbst kann mir noch keinen Reim auf all das machen, aber ich werde das Gefühl nicht los, es steht in einem Zusammenhang mit der Glaubenskirche und ihrem Gegenpapst.«
»Warum? Nur, weil er aus Borgo San Pietro stammt?«
»Ist das nicht Anlass genug, der Sache auf den Grund zu gehen?«
»Für dich vielleicht. Aber was geht mich das an?«
»Vielleicht mehr, als dir lieb ist, Enrico. Denk an die Worte deiner Großtante, die bei deinem Besuch regelrecht in Panik geriet! Und denk an das, was dieser Angelo zu dir gesagt hat!
Seine Kräfte, über die auch du angeblich verfügst, erinnern mich sehr an die außergewöhnlichen Fähigkeiten von Papst Custos.
Spürst du keinen Drang, dem nachzugehen? Ich dachte, du seist nach Italien gekommen, um mehr über dich herauszufinden.«
Damit hatte sie Recht. Ihr Vorschlag, auf Kosten des
»Messaggero« nach Rom zu fliegen, war eigentlich sehr gut, wäre damit nicht verbunden gewesen, Alexander Rosin zu treffen Enrico verspürte auf nichts weniger Lust als auf eine Begegnung mit ausgerechnet diesem Mann. Aber was nützte es, den Kopf in den Sand zu stecken? Vielleicht war es sogar ganz gut Elenas Freund persönlich kennen zu lernen. Er dachte an alte Westernfilme, in denen man Wunden mit einem glühenden Eisen ausbrannte.
Enrico zog sein Handy hervor und reichte es Elena. »Ruf deine Redaktion an! Sie soll mir einen Flug und ein Hotelzimmer buchen.«
»Danke«, sagte Elena lächelnd. »Ich hoffe, du wirst dich nicht langweilen.«
»Ich nehme mir etwas zu lesen mit«, antwortete er und dachte an das Reisetagebuch.
Das Reisebuch des Fabius Lorenz Schreiber, verfasst
anlässlich seiner denkwürdigen Reise nach Oberitalien im