Rom

»Der dritte Teil der Weissagung von Fatima wurde doch im Jahr 2000 veröffentlicht, wir sprachen eben darüber«, sagte Commissario Donati, während er sich nach dem Kellner umsah, um noch etwas zu trinken zu bestellen. »Stimmt der tatsächliche Text mit der ominösen Voraussage aus dieser deutschen Zeitung überein?«

Vanessa Falk lächelte hintergründig. »Wörtlich ganz sicher nicht. Aber ich möchte doch auf der Unterscheidung bestehen, dass der vom Vatikan freigegebene Text nicht unbedingt der tatsächliche oder der vollständige Wortlaut sein muss.«

Donati hob abwehrend die Hände. »Gut, gut, ich hab’s begriffen. Aber was steht jetzt in der vom Vatikan veröffentlichten Fassung?«

»Die Kinder sahen einen Engel mit einem Flammenschwert, das offenbar die ganze Welt in Brand setzen wollte. Aber als die Flammen mit der Erscheinung der Frau, der mutmaßlichen Muttergottes, in Berührung kamen, verlöschten sie, und der Engel rief zur Buße auf. Die Kinder hatten dann eine Vision, in der ein in Weiß gekleideter Bischof, also wahrscheinlich der Papst, in Begleitung anderer Bischöfe, Priester, Ordensmänner und Ordensfrauen einen steilen Berg hinaufstieg auf dem ein großes Kreuz stand. Der Weg dorthin führte den Heiligen Vater durch eine halb zerstörte Stadt. Als er vor dem großen Kreuz niederkniete, schossen Soldaten mit Feuerwaffen und mit Pfeilen auf ihn. Viele der Bischöfe, Priester und Ordensleute starben dabei, und mit ihnen starb der Papst. Zwei Engel sammelten das Blut der Märtyrer in kristallenen Kannen und tränkten damit die Seelen, die sich Gott näherten.«

Donati sah die schöne Wissenschaftlerin abwartend an.

»Und?«

»Was und?«

»Das ist alles?«

»Reicht das nicht? Eine zerstörte Stadt, ein toter Papst, eine in Auflösung begriffene Welt und eine führungslose Kirche?«

»Vielleicht, ja. Was die Kinder da gesehen haben wollen, ist nichts anderes als ein Attentat auf den Papst. Ich frage mich nur, wann und wo es stattfinden und welchen Papst es treffen soll, den jetzigen oder einen zukünftigen.«

»Oder vielleicht den Gegenpapst«, warf Alexander ein, und Donati nickte ihm zustimmend zu.

»Sie müssen sich von der Vorstellung lösen, dass eine solche Prophezeiung ein konkretes Ereignis meint«, sagte Dr. Falk.

»Sie kann aus vielen Elementen bestehen, aus Phantasie und Tatsächlichem, aus Zukünftigem und Vergangenem. Setzen wir einmal voraus, die drei Kinder haben wirklich eine Botschaft empfangen und sich das Gesehene nicht bloß eingebildet, so kann diese Botschaft viele verschiedene Elemente haben. Nur für die Kinder schien es sich um einen konkreten Handlungsablauf zu handeln.«

»Ganz schön verwirrend«, ächzte Donati und nahm einen großen Schluck von seinem Wasser.

Alexander, der die ganze Zeit schon über eine bestimmte Passage der Weissagung nachdachte, ergriff das Wort: »Für die Vermischung von Vergangenheit und Zukunft spricht auch die Ausführung des Attentats mit Feuerwaffen und Pfeilen. Als seien da in Wahrheit zwei Anschläge gemeint, die Jahrhunderte auseinander liegen.«

»Sehr gut beobachtet!«, lobte ihn Vanessa Falk. »Das Attentat mit Feuerwaffen hat ja auch schon stattgefunden, im Mai, als man versuchte, Papst Custos zu erschießen.«

»Schon möglich, dass dieser Vorfall gemeint war«, sagte Alexander, der sich nur zu gut an jene schrecklichen Augenblicke erinnerte, als das Leben des Heiligen Vaters keinen Cent mehr wert zu sein schien.

»Das alles ist hochinteressant, aber kommen wir zu Pfarrer Dottesio zurück«, schlug Donati vor. »Er hat Ihnen gegenüber keinerlei Entgegenkommen gezeigt, Dr. Falk?«

»Nicht das geringste, leider. Er sagte mir, seine uneingeschränkte Loyalität gehöre nach wie vor der Kirche und dem Vatikan. Ich war natürlich enttäuscht, aber glauben Sie mir, das war kein Grund, ihn umzubringen.«

»Natürlich glaube ich Ihnen.«

Der Commissario lächelte unschuldig. »Sie haben für die Tatzeit sicher auch ein Alibi, oder?«

»Bedaure, aber nach Dottesios ablehnender Antwort habe ich mich aus Frust zu einem Einkaufsbummel über den Corso Vittorio Emanuele entschlossen.«

»Haben Sie Quittungen, die das belegen? Oder kann das mittels Ihrer Kreditkartenabrechnung überprüft werden?«

Sie schüttelte den Kopf. »Die Höhe der Preise in den Boutiquen war größer als mein Frust. Werden Sie mich jetzt verhaften?«

»Natürlich nicht, ich habe nur mal so gefragt.

Berufskrankheit verstehen Sie? Wenn ich jeden verhaften wollte, der in den letzten Tagen mit Dottesio gesprochen und für die Tatzeit kein Alibi hat, hätte ich viel zu tun.«

»Dann kann ich ja jetzt gehen.« Vanessa Falk schob ihren geleerten Teller zur Seite und griff nach ihrer Tasche. »Die Arbeit ruft.«

Donati nickte ihr freundlich zu. »Vielen Dank für Ihre Gesellschaft, Dr. Falk. Und kümmern Sie sich nicht um die Rechnung! Die Pizza geht auf die römische Polizei.«

Als sie das Restaurant verlassen hatte, beugte Alexander sich zu Donati vor und fragte: »Glaubst du wirklich, dass sie in den Mord verwickelt ist, Stelvio?«

»Glauben können die Menschen da drüben im Vatikan. Ich muss mich an die Fakten halten. Und wo die unklar sind, ist es meine Aufgabe, sie zu überprüfen.«

»Du weichst mir aus«, stellte Alexander fest.

»Vanessa Falk ist eine interessante Frau, sehr schön, sehr intelligent und sehr willensstark. Kurzum, sie hat alles, was man zu einer Karriere als Wissenschaftlerin heutzutage braucht.«

Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Oder zu einer Karriere als Verbrecherin.«