15

Pescia, Dienstag, 29. September

Über Nacht hatte sich das Unwetter gelegt. Als Enrico am Morgen aufstand und ans Fenster trat, war der Himmel noch grau und trüb, aber es regnete nicht mehr. Der Waldboden würde vermutlich noch schlammig sein. Andererseits wusste man nicht, wie lange der Regen aussetzte. Kurz entschlossen rief er Vanessa Falk in ihrem Hotel an und verabredete mit ihr einen Ausflug in die Berge. In einer Stunde wollte sie bei ihm sein. Er frühstückte ausgiebig und ging hinaus auf den Parkplatz. Die Luft roch noch nach Regen, feucht und schwer, und über den Bergen hingen die Wolken besonders fest zusammen. Eine Wolkenformation sah aus wie eine gigantische, zur Abwehr ausgestreckte Hand. Enrico holte tief Luft und schüttelte den Kopf. Er wollte sich nicht verrückt machen. Angesichts all des Mysteriösen, das ihm hier begegnet war, musste er nicht noch etwas hinzuerfinden. Mit einem kurzen Hupen kündigte Vanessa ihr Kommen an, als ihr gelber Mietwagen über die schmale Brücke rollte. Enrico ging ihr entgegen, öffnete die Tür auf der Beifahrerseite und zwängte sich, während er seine Jacke auf die Rückbank warf, auf den Sitz. Er fand Kleinwagen nicht gerade bequem, aber angesichts der engen Straßen in den Bergen waren sie sehr praktisch.

Vanessa hatte sich auf den Ausflug gut vorbereitet. Sie trug kniehohe Stiefel, robuste Jeans, eine Bluse aus demselben Material und darüber eine Weste mit zahlreichen Taschen. Ihre rote Mähne hatte sie hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie wirkte jetzt gar nicht wie eine Religionswissenschaftlerin, sondern sah aus wie einem Katalog für Outdoorkleidung entsprungen. Einmal mehr stellte Enrico fest, dass sie eine sehr attraktive Frau war, allerdings auch eine, über deren Motive er sich noch immer nicht ganz im Klaren war. Wurde sie wirklich nur von wissenschaftlicher Neugier angetrieben?

»Guten Morgen, Indiana Jane«, begrüßte er sie gut gelaunt.

»Welchen verborgenen Tempel wollen wir heute entdecken?«

»Vielleicht einen der Etrusker, das wäre schon mal ein guter Anfang«, erwiderte sie, während sie den Fiat wendete und zurück zur Brücke lenkte. »Wir machen es wie in der Fahrschule. Sie sagen mir einfach, wo es langgeht.«

»Einverstanden«, sagte Enrico mit breitem Grinsen. »So etwas hört ein Mann gern von einer Frau wie Ihnen.«

Sie bedachte ihn mit einem bösen Blick, aber er konnte nicht einschätzen, ob er ernst gemeint oder nur gespielt war. Das gestrige Unwetter hatte deutliche Spuren hinterlassen. Immer wieder stießen sie auf abgerissene Zweige und Äste, und die Fahrbahn war an vielen Stellen von einer Schlammschicht bedeckt. Vanessa ließ die angemessene Vorsicht walten und fuhr sehr langsam. Zum Glück hatten sie kaum Gegenverkehr.

»Wenig los hier«, stellte sie dann auch fest.

»Das wundert mich«, sagte Enrico. »Elena hatte gedacht, dass hier bald ein ganzes Journalistenheer auftaucht, um im Geburtsort des Gegenpapstes eine Invasion zu starten. Aber bislang scheint sie die Einzige aus der schreibenden Zunft zu sein, die sich für Borgo San Pietro interessiert.«

»Ich finde das nicht so verwunderlich wie Sie. Zurzeit haben die Redaktionen und Fernsehstationen vermutlich alle verfügbaren Journalisten nach Neapel geschickt. Dort finden die aktuellen Ereignisse statt, überschlagen sich geradezu. Borgo San Pietro kann nicht weglaufen. Wenn sich die erste große Aufregung über die Gegenkirche und ihren Papst gelegt hat, wird der Ort schon noch seinen D-Day erleben.«

»Was gibt es denn Neues in Neapel? Wurde Papst Custos gebührend empfangen, oder hat es Ärger gegeben?«

Vanessa warf ihm kurz einen verwunderten Blick zu, bevor sie sich wieder auf die Straße konzentrierte. »Haben Sie denn keine Zeitungen gelesen, keine Nachrichten gesehen oder gehört?«

Er schüttelte den Kopf. »Im Moment bin ich, was Sensationsmeldungen angeht, Selbstversorger.«

Sie lachte. »Dann können Sie nicht wissen, dass Papst Custos mit wenig Euphorie in Neapel empfangen wurde, als er gestern Nachmittag dort ankam. Die Vertreter der Gegenkirche haben sich rundweg geweigert, mit ihm zu sprechen. Für sie ist er der falsche Papst, ein Ketzer, nach der Ansicht mancher sogar der Antichrist. Starker Tobak, den die Medien natürlich begierig breittreten.«

»Und Custos? Wie reagiert er darauf?«

»Er hat in einem Kloster Unterkunft genommen, das der Amtskirche treu geblieben ist. Man hört relativ wenig von ihm und vermutet, dass er die Gegenkirche nicht durch harte Aussagen provozieren will, sondern lieber versucht, hinter den Kulissen alle diplomatischen Kanäle zu aktivieren.«

»So wie ich ihn kenne, würde das zu ihm passen.«

»Richtig, Sie haben ihn am Sonntag ja persönlich kennen gelernt. Was ist er für ein Mensch?«

»Ihr Informant im Vatikan ist wirklich gut im Bilde, Vanessa.

Was den Papst betrifft, so will ich mich nicht erdreisten, nach unserer kurzen Begegnung ein Charakterbild von ihm zu zeichnen. Aber auf mich hat er einen sehr angenehmen Eindruck gemacht. Ein weiser und zurückhaltender Mann, dessen Art es kaum ist, die Medien mit Sensationsmeldungen zu füttern.«

»Das hat er schon im Mai getan, als die Nachricht von seinen heilenden Kräften um die Welt ging. Seltsam übrigens, dass er über ähnliche Kräfte verfügt wie der Einsiedler, finden Sie nicht?«

»Ich habe mit dem Papst darüber gesprochen.«

»Und?«, fragte Vanessa neugierig. »Was sagt Custos dazu?«

»Er kann auch nur Vermutungen anstellen. Vielleicht ist Angelo auch ein Nachfahre von Jesus, aber per Ferndiagnose lässt sich das nicht mit Sicherheit sagen.«

»Das wäre in der Tat ein Ding!«

»Was sagen Sie als aufgeklärte Theologin eigentlich zu dem ganzen Komplex, Vanessa? Glauben Sie Custos, dass er von Jesus abstammt?«

»Sie sind es doch, der den Papst persönlich kennen gelernt hat, Enrico! Was glauben Sie?«

»Ich kann Ihnen sagen, was ich nicht glaube, nämlich, dass Custos absichtlich etwas Falsches über seine Abstammung behauptet. Aber ich weiß nicht, wie man das aus wissenschaftlicher Sicht einschätzen soll. Ist überhaupt bewiesen, dass Jesus wirklich gelebt hat?«

»Es gibt Historiker und Theologen, die es für bewiesen halten, andere behaupten das Gegenteil.«

»Das nenn ich eine wissenschaftlich präzise Auskunft. Was glaubt denn eine gewisse Dr. Falk?«

»Ich gehe mit einer mehr als neunzigprozentigen Wahrscheinlichkeit davon aus, dass es einen historischen Jesus gab. Und wenn es ihn gab, kann er auch Kinder gezeugt haben.«

»Falls er nicht vorher am Kreuz gestorben ist«, gab Enrico zu bedenken.

»Gestorben und wiederauferstanden, so haben es die Gläubigen seit zwei Jahrtausenden gelernt. Aber was Custos der Welt über einen nur scheintoten Jesus berichtet hat, der nach seiner so genannten Wiederauferstehung übers Meer geflohen ist, erscheint mir als denkendem Menschen wahrscheinlicher als die Wiederauferstehung aus dem Neuen Testament.«

»Also halten Sie es für möglich, dass Custos von Jesus abstammt.«

»Möglich ist es, ja, aber nicht bewiesen. Es kann sein, dass viele Nachfahren von Kleopatra, Attila oder Hannibal unter uns weilen, nur wissen wir es nicht – und sie selbst vermutlich auch nicht.«

»Das klingt jetzt aber despektierlich«, monierte Enrico.

»Keineswegs. Ich leugne nicht, dass Custos über ungewöhnliche Kräfte verfügt. Aber ich kann nicht sagen, ob er sie von einem Vorfahren namens Jesus ererbt oder sonst wie erlangt hat.«

»Wobei noch die Frage zu klären wäre, woher der historische Jesus seine besonderen Fähigkeiten erlangt hat.«

»Na, er war Gottes Sohn«, sagte Vanessa im Tonfall größter Selbstverständlichkeit.

»Wie, Sie glauben an die unbefleckte Empfängnis?«

»Keine Ahnung, ich hab’s noch nicht ausprobiert. Aber wenn es einen Gott gibt, verfügt er sicher auch über genügend Möglichkeiten, einen Menschen mit besonderen Gaben auszustatten. Ob man das als unbefleckte Empfängnis bezeichnen will, ist eine Geschmacksfrage.« Nachdem sie in einer Kurve mit einer schnellen Lenkbewegung einem entgegenkommenden Lieferwagen ausgewichen war, fügte sie hinzu: »Jedenfalls bin ich gespannt, ob sich Custos und Lucius doch noch gegenübertreten. Es wäre das Treffen zweier höchst ungewöhnlicher Männer.«

»Wieso?«

»Ach ja, Sie sind von allen aktuellen Ereignissen unbeleckt.

Unser Gegenpapst scheint über die Gabe der göttlichen Eingebung zu verfügen. Jedenfalls behauptet er so etwas. Heute Morgen hat er in einer Fernsehansprache Custos ermahnt, Neapel schnellstmöglich zu verlassen. Gott sei erzürnt, dass Custos sich in die Belange der Heiligen Kirche des Wahren Glaubens einmischen wolle. In der Nacht sei Lucius ein Engel des Herrn erschienen und habe eine große Katastrophe für den Fall angekündigt, dass Custos in Neapel bleibe. Das Unwetter von gestern sei nur ein Vorgeschmack auf das kommende Unglück gewesen. Interessanterweise hat das Unwetter tatsächlich zu der Zeit begonnen, als der Hubschrauber des Papstes auf dem Flughafen von Neapel gelandet ist. Eine wilde Geschichte, wie?«

»Wie hat Custos darauf reagiert?«, erkundigte sich Enrico.

»Bis jetzt noch gar nicht. Jedenfalls habe ich nicht gehört, dass er Neapel verlassen hätte.«

»Glauben Sie an diese Vision des Gegenpapstes?«

»Sie stellen mir aber schwierige Fragen! Ich habe, ehrlich gesagt, keine Ahnung. Vielleicht hat er einfach nur schlecht geträumt.«

»Schlechte Träume können manchmal sehr bedrückend sein«, sagte Enrico und dachte an seinen Alptraum, den ein tiefreligiöser Mensch vielleicht auch als Vision bezeichnet hätte.

Enrico fand die Lichtung wieder, auf der Commissario Massi vor vier Tagen seinen Wagen abgestellt hatte. Er bat Vanessa zu parken, und zu Fuß tauchten sie in das dichte Unterholz ein.

»Sind Sie sicher, dass wir auf dem richtigen Weg sind?«, fragte Vanessa nach einigen Minuten, als rings um sie nichts mehr außer Bäumen, Büschen und Dornenranken zu sehen war.

»Ich hoffe es. Sehen Sie die abgeknickten Zweige da vorn?

Das ist wahrscheinlich passiert, als ich mit Massi und Pisano hier langgegangen bin.«

»Oder es ist gestern bei dem Sturm passiert.«

»Auch möglich«, gab Enrico zu.

»Sie sind mir ja ein schöner Pfadfinder!«, spottete Vanessa.

»Ich habe Rechtswissenschaft studiert, nicht Fährtenlesen.«

»Und? Was machen wir jetzt?«

»Weitergehen«, schlug Enrico vor und steuerte auf den Pfad mit den abgeknickten Zweigen zu. »Deshalb sind wir hier.«

Der Weg war aufgrund des Unwetters noch beschwerlicher als ein paar Tage zuvor. Diesmal mussten sie nicht nur Pfützen, sondern auch kleinen Tümpeln ausweichen. Vanessas Stiefel leisteten ihr gute Dienste. Enrico trug zwar auch feste, aber nur halbhohe Schuhe, und bald hatte er nasse Füße. Irgendwann fragte Vanessa: »Finden Sie überhaupt zum Wagen zurück?«

Grinsend zog Enrico einen Kompass aus der Jackentasche und hielt ihn unter Vanessas Nase. »Ich bin nicht Old Shatterhand, aber ganz dumm bin ich auch nicht. Übrigens sollten Sie mal nach links sehen, hinter den kugelförmigen Busch.«

Vanessa blickte in die von Enrico angegebene Richtung und sagte leise: »Das sieht aus wie die Überreste einer Mauer, einer sehr alten Mauer.«

»Ja«, triumphierte Enrico. »Wir sind auf dem richtigen Weg!«

Bald tauchten links und rechts von ihnen die runden Grabhäuser der Etrusker auf, manche im Laufe der Jahrhunderte so stark von Pflanzen überwuchert, dass sie nur mit Mühe zu erkennen waren. Von einigen Gräbern war kaum noch ein Stein zu sehen, und auf den oberflächlichen Betrachter mochten sie wie natürliche Hügel wirken.

»Faszinierend«, sagte Vanessa, die sich neugierig umsah.

»Ein Paradies für Archäologen.«

»Wenn die erst mal anfangen, hier zu graben, ist es die längste Zeit ein Paradies gewesen.«

»Mag sein. Und in einem dieser Gräber haust der Einsiedler?«

»Ja. Wieso?«

Vanessa schüttelte sich. »Finden Sie die Vorstellung, in einem Grab zu leben, nicht morbid? Es hat so was von lebendig begraben sein.«

Enrico zuckte mit den Schultern. »Angelo scheint sich hier ganz wohl zu fühlen.«

Sie gingen weiter, und er hielt nach Angelos Unterschlupf Ausschau. Es war nicht einfach, denn ein Grab sah aus wie das andere.

Nach zwanzig Minuten des Suchens stieß Enrico einen halblauten Jubelruf aus. »Hier ist es!«

»Sicher?«, fragte Vanessa und musterte den Steinhügel, vor dem er stehen geblieben war. »Das sieht nicht anders aus als die übrigen Gräber.«

»Sehen wir doch einfach nach!«, sagte er und ging langsam die brüchige Treppe hinab. »Seien Sie vorsichtig, sonst bröckeln Ihnen die Stufen unter den Füßen weg!«

Unten blieben sie vor dem dunklen Gang stehen, und Enrico rief laut nach Angelo. Er tat es noch vier- oder fünfmal, ohne eine Antwort zu erhalten.

»Der Hausherr – oder muss es Grabherr heißen? – scheint nicht daheim zu sein«, sagte Vanessa.

»Oder er will nur, dass wir genau das denken.«

Mit eingeschalteten Taschenlampen tauchten sie in den Gang hinein und suchten alle Räume sorgfältig ab, sogar länger als nötig, weil Vanessa die gut erhaltenen Wandmalereien der Etrusker bewundern wollte.

Enrico wies sie auf die vielen geflügelten Figuren hin.

»Halten Sie eine Verbindung dieser Flügelwesen mit den Engeln des christlichen Glaubens für möglich?«

Die Wandmalerei, vor der sie standen, zeigte eins der Flügelwesen, das vor zwei Menschen stand und ihnen etwas überreichte, das wie eine Schale aussah. Die Menschen, Mann und Frau, knieten vor dem Geflügelten und streckten ihm in dankbarer Erwartung die Hände entgegen. Sie waren bekleidet, der Geflügelte hingegen war nackt. Er sah aus wie ein Mann, aber es waren keine Geschlechtsteile zu erkennen. »Sicher ist das möglich«, sagte Vanessa, nachdem sie das Bild eingehend betrachtet hatte. »Vielleicht gehen die etruskischen Engel –

nennen wir sie der Einfachheit halber so – und die der Christen auf ähnliche Gottes- und Jenseitsvorstellungen zurück, vielleicht sogar auf dieselben Ereignisse aus einer Zeit über die wir nichts weiter wissen als das, was uns Überlieferungen wie dieses Bild mitteilen.«

»Wollen Sie damit andeuten, dass die Menschen irgendwann einmal tatsächlich Besuch von Engeln erhalten haben?«

»Vielleicht waren es keine Engel, wie wir sie uns vorstellen, sondern einfach nur Angehörige einer Kultur, die den übrigen Kulturen auf der Erde überlegen war. So überlegen, dass die Menschen es sich nicht anders erklären konnten, als sie zu Engeln, zu Götterboten, zu stilisieren.«

Enrico schüttelte halb ungläubig, halb missbilligend den Kopf, »Das klingt jetzt aber sehr nach der viel strapazierten Atlantislegende oder nach Erich von Däniken.«

»Kein Rauch ohne Feuer, so heißt es doch. Es bedarf nicht unbedingt Außerirdischer, um Menschen einen Kulturschock erleiden zu lassen. Auch in unserer Zeit gibt es noch ein paar unberührte Flecken in Afrika, Asien oder Südamerika, wo wir mit unseren Handys und Notebooks wenn nicht als Götter verehrt, so doch als zumindest etwas Ähnliches angesehen würden. Was immer auch die Etrusker von diesen Engelswesen geglaubt haben mögen, sie sahen in ihnen etwas Höherstehendes. So wie die Engel des Christentums den Menschen Gottes Botschaft überbringen, scheinen auch die etruskischen Engel etwas überreicht zu haben.«

»Etwas, das sehr materiell aussieht und nicht wie eine Botschaft«, fand Enrico.

»Nicht unbedingt. Diese Schale könnte auch nur das Symbol für eine immaterielle Gabe sein. Aber für was?«

»Vielleicht für die besondere Fähigkeit, anderen Menschen, die krank sind, zu helfen.«

»Gut möglich. Dann wäre die Schale vielleicht ein Sinnbild für Medizin.«

Sie setzten die Erkundung des Grabes fort und entdeckten einen großen Raum, in dem der Einsiedler offenkundig wohnte und schlief. Ein paar Schalen und Töpfe enthielten einen bescheidenen Lebensmittelvorrat aus Obst, Brot und etwas Käse. Eine große Kanne war bis zur Hälfte mit Wasser gefüllt.

In einer Ecke auf dem Boden bildeten eine löchrige Matratze, ein kleines Kissen und zwei zerfranste Wolldecken Angelos Nachtlager. Der Einsiedler selbst aber war nirgends zu entdecken.

»Wir sind zur falschen Zeit gekommen«, stellte Enrico fest.

»Es ist die falsche Zeit, aber der richtige Ort. Wir brauchen nur zu warten, bis Angelo zurückkommt.«

»Das wäre eine Möglichkeit«, brummte Enrico, wenig begeistert von der Aussicht, möglicherweise viele Stunden in diesem düsteren Grab zu hocken.

Er wollte Vanessa vorschlagen, später noch einmal wiederzukommen, aber da hörte er ein Geräusch, das seine Aufmerksamkeit beanspruchte. Es waren Schritte auf der Treppe, die lauter wurden. Sie bekamen Besuch.

Rom, Vatikan

Der junge Schweizer kontrollierte Alexanders Passierschein mit einem kurzen Blick und winkte ihn anschließend durch.

Alexander bemerkte im Rückspiegel, wie der Gardist an der Porta Sant’ Anna ihm nachsah. Der Anblick des Schweizers versetzte Alexander einen Stich mitten ins Herz. Er dachte an den gestrigen Tag und daran, dass er mit Werner Schardt den Bock zum Gärtner gemacht hatte. Und zwar einen Bock, wie man ihn sich schlimmer kaum vorstellen konnte. Ausgerechnet den Mann, der tief in die Priestermorde verwickelt war, hatte er ins Vertrauen gezogen. Vermutlich hätte Schardt sich ins Fäustchen gelacht, wäre er ein weniger ernsthafter Mann gewesen. Alexander fühlte sich getäuscht und betrogen, aber das war nicht das Schlimmste. Die Reputation der Garde hatte einen weiteren schmerzhaften Schlag erlitten, und er fragte sich, ob sie sich davon erholen konnte. Schon nach den Ereignissen im Mai hatte die Garde kurz vor der Auflösung gestanden. Eigentlich hätte es Alexander, der aus der Einheit ausgeschieden war, gleichgültig sein können. Aber so war es nicht. Seit vielen Jahrhunderten dienten die Rosins in der Schweizergarde der Päpste. Für ihn und seine Vorfahren war es kein Beruf gewesen, sondern eine Berufung. Als erst sein Vater und dann sein Onkel Heinrich zum Gardekommandanten ernannt worden waren, stellte das den Lohn für die treuen Dienste der Familie Rosin dar. Alexander hatte sich seinen Abschied von der Schweizergarde nicht leicht gemacht, aber nachdem sich sein Vater als Verräter und Mörder entpuppt hatte, war es nach seiner Auffassung für die Garde das Beste gewesen, wenn der Name Rosin nicht mehr in ihrer Soldliste auftauchte.

Die Verhaftung der drei Gardisten hatte im Vatikan natürlich für Aufsehen gesorgt. Heute Morgen hatte ihn ein Anruf von dort erreicht. Kardinalpräfekt Lavagnino wünschte, ihn dringend zu sprechen. Nachdem Alexander seine Pflichten in der Redaktion erledigt und Donati im Polizeihauptquartier einen kurzen Besuch abgestattet hatte, war er zum Vatikan weitergefahren. Er parkte den VW Polo, den er als Mietwagen fuhr, solange sein demolierter Peugeot in der Werkstatt war, auf einem Abstellplatz zwischen Petersdom und Audienzhalle und betrat den Palast des Heiligen Offiziums. Er musste keine fünf Minuten warten, um bei Lavagnino vorgelassen zu werden. Ein weiterer Geistlicher saß im Büro des Kardinalpräfekten, ein etwa sechzigjähriger Mann, dessen ernste Gesichtszüge von seiner einfachen, randlosen Brille noch unterstrichen wurden.

»Das ist meine rechte Hand, Kardinal Ferrio«, stellte Lavagnino den anderen vor. »Solange Seine Heiligkeit und Don Luu in Neapel weilen, kümmern wir uns um, hm, diese unliebsame Affäre.«

»Sie meinen die Morde«, brachte Alexander es auf den Punkt.

»Ja, leider«, seufzte Lavagnino und bat Alexander um eine Schilderung dessen, was sich am vergangenen Tag an der Via Appia ereignet hatte.

Alexander gab einen lückenlosen Bericht, der mit dem fruchtlosen Verhör Schardts und der Entdeckung der Narben endete. »Auch Schardts Komplizen schweigen eisern, das hat mir Commissario Donati soeben bestätigt. Und auch sie haben diese Narben, die Spuren von Geißelungen.«

»Könnten die Narben nicht von etwas anderem herrühren?«, fragte Kardinal Ferrio.

»Dann wäre es ein sehr großer Zufall, dass alle drei ähnliche Narben haben«, meinte Alexander. »Abgesehen davon glaube ich zu wissen, wie die Spuren von Geißelungen aussehen. Ich habe keinen Zweifel daran, dass es die Anzeichen ritueller Züchtigungen oder Selbstzüchtigungen sind. Ich hätte der Schweizergarde gern die Schande erspart, aber nach meiner Meinung hat Totus Tuns seine Hände im Spiel. Die Garde ist schon wieder – oder noch immer – von Totus Tuns unterwandert.«

Lavagnino fragte mit bestürztem Gesichtsausdruck: »Haben Sie das auch im ›Messaggero‹ geschrieben?«

Alexander schüttelte den Kopf. »Mein Artikel über die Festnahme der drei ist sehr zurückhaltend ausgefallen. Ich habe kein Interesse daran, die Schweizergarde ins Gerede zu bringen.«

»Ich danke Ihnen dafür, Signor Rosin, auch im Namen Seiner Heiligkeit. Die Kirche brauchte mehr zuverlässige Stützen, wie Sie eine sind.«

»Weniger Verräter in den eigenen Reihen würden es auch schon tun«, seufzte Alexander und fügte schnell hinzu:

»Verzeihen Sie, Eminenz, das ist mir so rausgerutscht.«

Lavagnino winkte ab. »Sie haben ja Recht, leider. In dieser bewegten Zeit hat unsere Kirche mehr Feinde in den eigenen Reihen als von außen. Deshalb haben Kardinal Ferrio und ich Sie persönlich sprechen wollen. Zurzeit ist es selbst hinter den dicken Mauern des Vatikans besser, nur wenige Leute in wichtige Dinge einzuweihen.«

Ferrio rückte seine Brille zurecht und wirkte dabei leicht nervös. »Kommen wir noch einmal auf Totus Tuus zu sprechen und nehmen wir an, dieser Orden ist weiterhin aktiv. Was sind dann seine Ziele?«

»Wie wäre es mit Macht?«, schlug Alexander vor. »Eine Diskreditierung der Kirche stärkt automatisch die Gegenkirche.«

»Sie glauben, Totus Tuus steckt mit den Kirchenspaltern unter einer Decke?«, fragte Ferrio.

»Ich halte es für möglich. Totus Tuus hat schon immer eine sehr konservative Linie vertreten und war mit Papst Custos von Anfang an nicht einverstanden. Da ist die Überlegung einer Komplizenschaft zwischen dem Orden und der Gegenkirche nahe liegend, falls nicht noch mehr dahinter steckt.«

Ferrio beugte sich gespannt zu Alexander vor. »Zum Beispiel?«

»Die so genannte Glaubenskirche hat erstaunlich rasch ihre administrativen Strukturen aufgebaut und scheint auch über ausreichende finanzielle Mittel zu verfügen. Alles macht auf mich den Eindruck, als sei es von langer und erfahrener Hand geplant.«

»Und wir glaubten, Totus Tuus sei zerschlagen und seine Mitglieder seien in alle Winde zerstreut!«, rief Lavagnino aus.

»Ich habe das nicht geglaubt«, sagte Alexander. »Dazu war der Orden einfach zu mächtig. Wir haben ein paar seiner Glieder abgeschlagen und auch sein Haupt, aber das hat nicht genügt.

Wie die schreckliche Hydra in der griechischen Sage hat auch Totus Tuus viele Häupter, und die scheinen sich schneller an den Gegenangriff gewagt zu haben, als uns lieb sein kann.«

»Es wird schwer sein, etwas gegen Totus Tuus zu unternehmen«, meinte Ferrio. »Wir haben zu niemandem aus dem Führungskreis des Ordens Kontakt.«

»Irrtum«, widersprach Alexander. »Wir können meinen Vater fragen. Auch wenn er ein Gefangener ist, könnte er uns im Kampf gegen Totus Tuus entscheidend weiterhelfen.«

Ferrio nickte. »Vielleicht könnte er das wirklich, vorausgesetzt, er will es auch.«

»Ich kann ihn fragen, wenn Sie wollen. Ich möchte ihn wegen der Sache von gestern Abend sowieso gern sprechen.«

»Selbstverständlich«, stimmte Lavagnino zu. »Aber ich kann kaum glauben, dass Markus Rosin wirklich mit uns zusammenarbeiten wird. Er scheint den Heiligen Vater und alle, die ihm dienen, nicht nur abzulehnen, sondern regelrecht zu hassen.«

»Vielleicht kann der Vatikan da selbst irgendetwas tun. Mein Vater ist durch den Verlust seines Augenlichts schon sehr gestraft, dazu noch die lebenslängliche Haft. Ein gewisses Entgegenkommen könnte meinen Vater veranlassen, ebenfalls entgegenkommend zu sein.«

»Sie denken an eine Begnadigung?« Lavagnino verzog das Gesicht zu einer unwilligen Grimasse. »Er hat schwere Schuld auf sich geladen. Außerdem kann nur Seine Heiligkeit über eine Begnadigung entscheiden.«

»Falls mein Vater zur Kooperation bereit ist, können wir Papst Custos ja fragen. Was seine Schuld angeht, da haben Sie fraglos Recht, Eminenz. Aber muss man hier nicht abwägen, was schwerer wiegt, die Sühne einer Schuld oder das Schicksal der Kirche?«

Lavagnino tauschte einen kurzen Blick mit Ferrio und sagte:

»Ich stimme Ihnen völlig zu, Signor Rosin. Also gut, sprechen Sie mit Ihrem Vater! Alles Weitere sehen wir dann.«

Fünfzehn Minuten später ging Alexander ungeduldig im Vorraum des Gefängnisses auf und ab und fragte sich, warum es diesmal so lange dauerte, bis man ihn zu seinem Vater vorließ.

Als schließlich eine Tür aufging, trat nicht ein einfacher Gendarm der Vigilanza ein, sondern ein Mann mit spitzem Vogelgesicht, den Alexander gut kannte. Aldo Tessari war vor ein paar Monaten noch Vizeinspektor und damit stellvertretender Leiter der Vigilanza gewesen. Nachdem sich sein Vorgesetzter Riccardo Parada als Mitglied der Verschwörung gegen Custos entpuppt hatte und festgenommen worden war, hatte der Papst kurzerhand Tessari zum Generalinspektor befördert. Dass Tessari ihn empfing, noch dazu mit einer zutiefst bekümmerten Miene, hielt Alexander für kein gutes Zeichen. Von einer Sekunde zur anderen war er von Unruhe und Angst erfüllt. Tessari streckte zögernd die Hand aus, und Alexander ergriff sie. »Guten Tag, Signor Rosin. Sie können nicht zu Ihrem Vater, leider.«

»Was ist denn? Geht es meinem Vater nicht gut?«

Tessari schluckte schwer, als müsse er sich überwinden, um mit Alexander zu sprechen. »Als gerade einer der Wächter in die Zelle ging, um Ihren Vater zu holen, hat man ihn gefunden …«

»›Gefunden‹? Was heißt das, Signor Tessari? Sagen Sie mir doch endlich, was los ist!«

Tessari nickte heftig und wirkte jetzt wahrhaftig wie ein Vogel, der eifrig nach Körnern pickt. »Ihr Vater hat sich die Pulsadern aufgeschnitten. Es tut mir sehr Leid, aber er ist tot.«

Alexander wunderte sich, wie ruhig er angesichts dieser Mitteilung blieb. Sein Verstand arbeitete normal weiter, und ein zynischer Gedanke tauchte auf, den er laut aussprach: »Der Vatikan scheint meiner Familie kein Glück zu bringen, wie?«

»Was meinen Sie damit?«

»Erst wurden mein Onkel und meine Tante hier ermordet und jetzt auch noch mein Vater.«

»In seinem Fall handelt es sich um Selbstmord.«

»Sind Sie da sicher, Signor Tessari?«

»Ich sehe keinen Grund, daran zu zweifeln.«

»Aber ich«, sagte Alexander und berichtete von dem gestrigen Vorfall und von den Striemen auf den Rücken der drei Festgenommenen. »Ich Idiot habe Schardt gegenüber auch noch erwähnt, dass man mich vor einer Falle gewarnt hat.

Wahrscheinlich konnte er sich an fünf Fingern abzählen, von wem die Warnung stammte.«

»Aber dieser Schardt befindet sich im Gewahrsam der römischen Polizei, und Ihr Vater war hier eingesperrt. Schardt konnte unmöglich seine Ermordung veranlassen.«

»So naiv können Sie doch nicht sein, Tessari! Wenn wir es wirklich mit Totus Tuus zu tun haben, ist niemand hier im Vatikan seines Lebens sicher, weder Sie noch der Papst. Der Orden hat schon einmal versucht, den Heiligen Vater zu töten.«

»Da haben Sie Recht. Ich werde sofort die Sicherheitsmaßnahmen verschärfen.«

»Das ist eine gute Idee. Darf ich zu meinem Vater?«

»Aber wozu? Er ist tot.«

»Ich möchte ihn trotzdem sehen, bitte, und sei es nur, damit ich es wirklich glauben kann. Vergessen Sie nicht, dass ich meinen Vater schon einmal für tot gehalten habe. Dabei war sein Ableben nur vorgetäuscht gewesen, damit er sich in aller Ruhe seinem Wirken als Ordensgeneral widmen konnte.«

»Meinetwegen, kommen Sie mit! Aber ich warne Sie, es ist kein schöner Anblick.«

Tessari führte Alexander zur Zelle seines Vaters. Es war ein kleiner Raum, nur mit dem Notwendigsten ausgestattet. Auf einem Regal standen ein paar Bücher in Blindenschrift, die zu erlernen Markus Rosin offenbar bemüht gewesen war, auf dem Tisch darunter ein Kofferradio. Sonst fand Alexander keinen Hinweis darauf, wie sein Vater die Zeit verbracht hatte.

Vermutlich gab es nicht viele Dinge, mit denen sich ein blinder Gefangener beschäftigen konnte. Zur Einrichtung gehörten ein kleiner Tisch und ein Plastikstuhl. Markus Rosin saß auf dem Stuhl. Der Oberkörper war auf die Tischplatte gesunken, auf der auch die ausgestreckten Arme lagen. Die Ärmel des Pullovers waren nach oben geschoben, und die Unterarme schienen eine einzige blutende Wunde zu sein. Noch immer quoll das Blut hervor, rann über die rot verschmierte Tischplatte und bildete auf dem Boden darunter eine stetig größer werdende Pfütze.

Markus Rosin trug auch noch seine Sonnenbrille, als sei es wichtiger, den Anblick seiner fehlenden Augen zu ersparen als den seiner aufgeschnittenen Arme.

»Warum hat niemand die Wunden verbunden?«, fragte Alexander.

Tessari sah ihn entgeistert an. »Wozu? Er ist tot, glauben Sie mir! Der Arzt ist bereits unterwegs, aber er wird nur noch den Totenschein ausstellen können.«

»Ja, entschuldigen Sie!«, sagte Alexander leise und bemühte sich, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. »Wer hat die Leiche gefunden?«

Tessari zeigte auf einen der herumstehenden Männer.

»Signor Bastone hier war es.«

Alexander wandte sich an ihn. »Signor Bastone, trug mein Vater immer die Sonnenbrille, wenn er in der Zelle war? Für ihn selbst war es doch gleichgültig, ob er sie aufsetzte oder nicht. Er musste den Anblick seiner fehlenden Augen nicht vor sich verstecken.«

Bastone, ein mittelgroßer Endvierziger mit Ansätzen zur Korpulenz, überlegte kurz und sagte dann: »Ich glaube, er setzte die Brille nur auf, wenn er herausgerufen wurde. Doch, doch, genauso war es. Wenn man in seine Zelle kam, setzte er die Brille auf. Hier drin scheint er sie sonst nicht getragen zu haben.«

»Und doch hat er sie jetzt auf«, sagte Alexander und blickte seinen toten Vater an.

»Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte Tessari.

»Es sieht so aus, als sei mein Vater nicht allein gewesen, als er starb. Oder glauben Sie, er war so rücksichtsvoll, an diejenigen zu denken, die seine Leiche finden?«

»Manchmal geschehen die verrücktesten Dinge«, gab der Generalinspektor der Vigilanza zu bedenken.

»Die verrücktesten Dinge sind aber niemals die wahrscheinlichsten«, entgegnete Alexander.

Tessari maß ihn mit einem taxierenden Blick. »Sie wollen unbedingt auf einen Mord hinaus, Signor Rosin. Warum? Die Lage Ihres Vaters war verzweifelt, er hatte vom Leben nichts mehr zu erwarten. Das ist doch wohl Motiv genug für einen Selbstmord, oder?«

»Ein Motiv macht noch keinen Selbstmord.«

»Und eine Sonnenbrille keinen Mord«, beharrte Tessari.

»Womit soll sich mein Vater seine Pulsadern aufgeschnitten haben?«

Tessari zeigte auf ein Messer, das halb verdeckt von Markus Rosins rechtem Arm auf dem Tisch lag. »Diese Messer geben wir in der Kantine aus und sammeln sie auch sorgfältig wieder ein. Trotzdem muss es Ihrem Vater gelungen sein, eins mitgehen zu lassen. Die Messer sind sehr stumpf, deshalb hatte Ihr Vater wohl reichlich Mühe, sein Werk zu vollenden.«

»Meinen Sie nicht, er hätte eine leichtere Methode gewählt, sich umzubringen?«

»Wieso? Sie sagen doch selbst, dass die Mitglieder von Totus Tuus sich aus religiöser Überzeugung Schmerzen zufügen.«

»Zur ihrer religiösen Überzeugung gehört aber auch, dass Selbstmord eine Sünde ist.«

»Mein Gott, Rosin, können Sie nicht akzeptieren, dass Ihr Vater freiwillig aus dem Leben geschieden ist? Geben Sie sich vielleicht selbst die Schuld daran, weil er durch Ihre Mithilfe überführt und eingesperrt wurde?«

»Das ist es nicht«, widersprach Alexander, obwohl er sich insgeheim fragte, ob Tessari damit Recht hatte. »Ich glaube vielmehr, Sie wollen aus ganz bestimmten Gründen von einem Mord nichts wissen, Signor Tessari. Denn das würde bedeuten dass Ihre Vigilanza von Totus Tuus verseucht ist. Ohne Mitwirkung Ihrer Männer kann mein Vater nicht umgebracht worden sein. Wollen Sie sich dieser Tatsache nicht stellen? Oder wollen Sie sie gar verbergen?«

Tessari versteifte sich. »Ich habe es nicht nötig, mir von Ihnen haltlose Beschuldigungen anzuhören. Bitte verlassen Sie jetzt das Gefängnis, Signor Rosin!«

»Ich werde auf einer Autopsie der Leiche bestehen«, sagte Alexander, als er aus der Zelle trat.

»Sie können auf gar nichts bestehen. Hier ist nicht die italienische Justiz zuständig, sondern allein der Vatikan.«

Alexander verließ das Gefängnis und war froh, als er an die frische Luft trat. Ein Gefühl des Unwohlseins stieg in ihm hoch, und seine Knie wurden wacklig. Er setzte sich auf eine halbhohe Mauer, schloss die Augen und atmete tief durch. Erst hier draußen wurde ihm richtig bewusst, dass er seinen Vater ein weiteres Mal verloren hatte – und diesmal endgültig. Nie würde Markus Rosin seine Taten bereuen und sich mit Alexander aussöhnen können. Oder hatte er bereits alles bereut und, erdrückt von der Schwere seiner Untaten, seinem Leben ein Ende gesetzt? Nein, sagte Alexander sich, nicht so schnell und so umfassend. Sein Vater war von dem, was er für Totus Tuus getan hatte, zutiefst überzeugt gewesen. Eine solche Überzeugung legte man nicht einfach ab wie ein schmutziges Hemd. Alexander glaubte nicht an einen Selbstmord. In einem Punkt allerdings lag Tessari ganz richtig: Alexander machte sich Selbstvorwürfe. Möglicherweise hatte er durch seine Bemerkung gegenüber Werner Schardt seinem Vater die Mörder auf den Hals gehetzt. Er fühlte sich elend und allein und wünschte sich, Elena wäre jetzt bei ihm gewesen.