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Nördliche Toskana,
Mittwoch, 23. September
Die schmale Bergstraße war derart gewunden, dass Enrico Schreiber das Lenkrad ständig von einer Richtung in die andere kurbeln musste, um den kleinen Fiat-Mietwagen auf der nur mangelhaft befestigten Fahrbahn in der Spur zu halten. Immer wieder knirschten Zweige und kleine Steine unter den Rädern.
Zu beiden Seiten der diese Bezeichnung kaum mit Recht tragenden Straße ragte dichter Wald auf, dessen Blätterdach sich an vielen Stellen über der Fahrbahn schloss. Enrico hatte häufig das Gefühl, durch einen Tunnel zu fahren. Wurde der Wald einmal etwas lichter, bildeten die gleißenden Strahlen der Vormittagssonne einen unangenehmen Kontrast zum Walddunkel, der seine Augen blendete und das Fahren nicht gerade einfacher machte.
»Zum Glück habe ich mich am Mietwagenschalter auf dem Flughafen für diesen kleinen Fiat entschieden«, sagte er. »Ein etwas größeres Auto wäre schon fast breiter als die Fahrbahn.«
Auf dem Beifahrersitz lachte Elena Vida und sagte: »Dann bin ich gespannt, was du jetzt machst, Enrico.« Als sie sich gestern Abend zum Essen getroffen hatten, waren sie zum zwanglosen Du übergegangen.
Elena zeigte nach vorn, wo ein Kleintransporter um die nächste Kurve bog und zu hupen begann.
»Der ist gut!«, zischte Enrico. »Wer von unten kommt, hat Vorfahrt.«
»Vielleicht in Deutschland«, feixte Elena. »Aber hier wohl kaum, und schon gar nicht als Tourist.«
»Dann müssen wir die Notbremse ziehen«, meinte Enrico und hielt den Fiat mitten auf der Straße an, während er gleichzeitig das Warnblinklicht einschaltete.
»Was soll das?«, fragte Elena irritiert.
Unter erneutem Hupen kam der Kleintransporter, ein japanisches Fabrikat, nur einen halben Meter vor dem Fiat zum Stehen. Der Fahrer, ein stiernackiger, noch junger Mann im verschwitzten Unterhemd stieg aus und überschüttete die Insassen des Fiats mit einer Schimpfkanonade, wie man sie nirgendwo sonst als im italienischen Straßenverkehr zu hören bekommt. Auch Enrico und Elena stiegen aus und warteten ab, bis ihr schimpfendes Gegenüber sich ein wenig beruhigt hatte.
Enrico bedachte ihn mit einem entwaffnenden Lächeln.
»Entschuldigen Sie, dass wir Sie aufhalten, Signore, aber hier sieht ein Baum und ein Weg aus wie der andere. Könnten Sie uns sagen, ob wir noch auf der richtigen Straße sind?« Dem Wort Straße legte er einen eigentümlichen Unterton bei. Der Mann aus dem Transporter kratzte sich in der linken Achselhöhle und fragte: »Wohin wollen Sie?«
»Nach Borgo San Pietro«, antwortete Enrico. Der andere legte den Kopf schief, als habe er nicht richtig gehört. »Wohin?«
Enrico wiederholte seine Antwort.
»Das ist nur ein kleines Bergdorf, nichts Besonderes. Was wollen Sie da?«
Elena trat einen Schritt vor. »Wir haben uns in den Kopf gesetzt, uns kleine Bergdörfer anzusehen, die nichts Besonderes sind.«
»Aber Borgo San Pietro liegt ziemlich weit oben in den Bergen.«
»Kennen Sie den Ort gut?«, fragte Elena. Statt zu antworten, sagte der Mann im Unterhemd: »Ich muss weiter. Machen Sie die Straße frei!«
Er stieg wieder in seinen Wagen, ohne Enrico und Elena noch eines Blickes zu würdigen.
»Sind hier in den Bergen alle so drauf?«, fragte Enrico, als er und Elena wieder einstiegen.
»Keine Ahnung, ich bin nur aus Rom«, sagte Elena mit aufgesetzter Unschuldsmiene. »Aber falls das Verhalten des Typen da in dieser Gegend üblich ist, bin ich froh, dass deine Mutter rechtzeitig von hier abgehauen ist.«
»Ist das eine verklausulierte Formulierung dafür, dass du mich ganz erträglich findest?«, kam es von Enrico, während er den Wagen anließ, sich halb nach hinten wandte und vorsichtig zurücksetzte.
Elena zwinkerte ihm zu. »Bis jetzt hast du dich noch nicht so schrecklich danebenbenommen.«
»Auch nicht gestern, als ich den Schwindelanfall bekam?«
»Dafür konntest du wohl kaum was. Wenn du das öfter hast, würde ich an deiner Stelle mal zum Arzt gehen.«
»Da war ich schon als kleines Kind. Meine Eltern haben mich von einem Doktor zum nächsten geschleppt. Ohne den geringsten Erfolg. Körperlich bin ich kerngesund, sagen die Quacksalber. Ist alles irgendwie psychisch, die Alpträume und das Schwindelgefühl. Aber was der Auslöser ist, hat keiner von ihnen sagen können. Ich muss wohl damit leben, dass ich eine Macke habe.«
»Das müssen andere auch«, sagte Elena und blickte zu dem Kleintransporter, der sich mit einer wütenden Huporgie an ihnen vorbeischob. »Aber bei denen ist es mir egal.«
»Bei mir nicht?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil du ein netter Junge bist. Du solltest auf dich Acht geben. Ohne dich müsste ich mich ganz allein diese Berge raufquälen.«
Sie setzten ihre Fahrt fort, und nach ein paar weiteren Biegungen wurde die Straße weniger kurvenreich. Enrico entspannte sich ein wenig und dachte über die seltsame Lektüre nach, mit der er den gestrigen Nachmittag verbracht hatte.
Während er hier durch die einsame Bergwildnis fuhr, fühlte er sich fast ein bisschen wie Fabius Lorenz Schreiber auf seiner Reise ins Ungewisse. Ein seltsamer Zufall, dass er zweihundert Jahre später dieselbe Gegend bereiste wie der Vorfahr jenes Mannes, den er fast sein ganzes Leben lang für seinen Vater gehalten hatte. Er war nicht sonderlich weit mit Fabius Schreibers Reisetagebuch gekommen. Die Schrift war nur sehr mühsam zu entziffern gewesen, und irgendwann besiegte seine Müdigkeit seine Angst vor dem Einschlafen. Also hatte er das Buch nach dem ersten Kapitel beiseite gelegt und war in einen glücklicherweise traumlosen Schlaf gefallen. Jetzt fragte er sich, worauf der Reisebericht von Fabius Schreiber hinauslief.
Interessanter als Fabius Schreibers aufregende Erlebnisse fand Enrico den Familiennamen des Räuberhauptmanns und seiner Schwester: Baldanello. So hatte auch seine Mutter vor ihrer Hochzeit geheißen. Was bedeutete, dass der Kontakt zwischen den Familien Schreiber und Baldanello zweihundert Jahre alt war. Lag hierin der Grund, warum seine Mutter ihm das Buch gegeben hatte? Enrico war gespannt auf die Fortsetzung der Lektüre.
»Fahr langsam, da vorn kommen Hinweisschilder!«, machte Elena ihn aufmerksam.
»Eine echte Kreuzung!«, staunte Enrico. »Das ist ja fast wie bei euch in Rom oder bei uns in Hannover.«
An einem schiefen Holzpfahl waren ein paar Hinweisschilder befestigt, für die man in einem Antiquitätenladen vielleicht gutes Geld bekommen hätte. Auf einem konnten sie mit viel Mühe den Namen Borgo San Pietro entziffern.
»Also nach rechts und dann immer der Nase nach«, sagte Enrico und steuerte den Fiat in die angegebene Richtung. »Was machst du eigentlich in Rom? Ich meine dann, wenn du nicht gerade aus der Stadt fliehst, um abgelegene Bergdörfer zu besichtigen.«
»Dann stehe ich in einer Schule am Lehrerpult und unterrichte Kinder in Kunst und Geschichte.«
»Oha. Zu meiner Zeit hat es so hübsche Lehrerinnen nicht gegeben. Ist auch besser so, das hätte mich nur vom Pauken abgelenkt.«
»Und zu welchem Beruf hat dich deine Paukerei geführt?«
»Ich bin Jurist.«
»Ein Paragrafenreiter? Den stellt man sich auch anders vor.«
»Ich kann gar nicht reiten. Und wie soll ich deiner Meinung nach rumlaufen? Mit schwarzer Robe durch die sonnenbestrahlte Toskana, den Aktenkoffer immer dabei?«
»Keine Ahnung. Wie läufst du denn bei dir in Hannover rum?«
»Bis vor kurzem genau so: mit schwarzer Robe und Aktenkoffer, wenn es in den Gerichtssaal ging. Ich habe als Rechtsanwalt gearbeitet. Aber zurzeit bin ich arbeitslos und darüber sogar froh. Ich muss niemanden um Urlaub bitten.
Nachdem meine Mutter gestorben war und ich all ihre Angelegenheiten geregelt hatte, habe ich mir ein Flugticket nach Florenz gekauft und bin los. Einfach so.«
»Ich wusste nicht, dass man als Rechtsanwalt arbeitslos werden kann. Ich dachte, die Menschen streiten und verklagen sich immer, und Straftaten werden auch immer begangen, eher mehr als weniger.«
»Stimmt. Es gibt viele Rechtsstreitigkeiten und viele Straftaten, aber es gibt auch viele Juristen. Und etliche davon sind arbeitslos. Aber das ist, zumindest in Deutschland, ein Tabuthema. In meinem Fall war es so, dass ich als Angestellter in einer großen Kanzlei gearbeitet habe. Unser Senior war in krumme Geschäfte verwickelt und hatte Mandantengelder in beträchtlicher Höhe veruntreut. Ich spreche von einem zweistelligen Millionenbetrag. Als das aufflog, haben seine Partner so schnell wie möglich die Fliege gemacht. Und wo es keine Chefs mehr gab, benötigte man auch keine Angestellten mehr.«
»Aber du musst nicht betteln gehen, oder?«
»Meine beiden Staatsexamen waren nicht so ganz schlecht.
Ich denke schon, dass ich bei Bedarf schnell wieder einen Job finde.«
»Bei Bedarf? Willst du gar nicht wieder als Anwalt arbeiten?«
»Ich weiß noch nicht, was ich in Zukunft machen werde. Ich habe festgestellt, dass es nicht meine Lebenserfüllung ist, sich tagein, tagaus mit den Streitereien fremder Leute zu befassen.
Vielleicht werde ich Schriftsteller und schreibe ein Buch über meine Reiseabenteuer in Italien.«
»Wie kommst du darauf?«
»Ach, nur so«, sagte Enrico, der Elena zum gegenwärtigen Zeitpunkt nichts von dem Reisetagebuch erzählen wollte. Er wollte erst selbst herausfinden, welche Bewandtnis es damit hatte.
»Da musst du aber noch ein paar Abenteuer erleben, wenn du ein ganzes Buch füllen willst.«
»Der Anfang ist doch schon mal gut. Ich habe eine junge, attraktive Italienerin kennen gelernt, und jetzt erkunde ich mit ihr zusammen ein geheimnisvolles Dorf in den Bergen.«
»Wieso geheimnisvoll?«
»Na, sieht das etwa nicht geheimnisvoll aus?«, erwiderte Enrico und zeigte nach vorn.
Vor ihnen lichtete sich der Wald, und auf einer Hügelkuppe lag ein Mittelding zwischen Dorf und Festung. Borgo San Pietro, denn nichts anderes konnte es sein, machte einen wenig einladenden Eindruck. Türme, Mauern und Zinnen aus dunklem Stein wirkten abweisend, als sei der Ort seinem ganzen Wesen nach darauf ausgerichtet, Fremde fern zu halten. Das Dorf thronte auf diesem Hügel wie das Nest eines großen Raubvogels, der von hier aus über sein Reich wachte.
»Wenn wir näher kommen, werden wir bestimmt mit brennendem Pech und einem Steinhagel empfangen«, scherzte Enrico während er den Fiat außerhalb des Ortes auf einem Parkplatz abstellte, auf dem eine ganze Reihe von Fahrzeugen stand.
»In früheren Jahrhunderten vielleicht. Diese Bergorte waren regelrechte Wehrdörfer, deshalb die verschachtelte Bauweise mit Türmen und Zinnen. Ein Feind sollte es möglichst schwer haben, den Ort zu erobern.«
»Vielen Dank für den Unterricht, Frau Lehrerin«, sagte Enrico grinsend und stieg aus, um sich zu recken und zu strecken. Er war von großer Statur, und die lange Fahrt in dem kleinen Fiat hatte ihn ordentlich zusammengestaucht. »Hier scheint der ganze Ort zu parken. Kein Wunder, durch die engen Dorfgassen passen kaum vier Räder.«
Sie tauchten in die Schatten der schmalen Gassen ein, und Enrico stellte sich vor, wie seine Mutter als Kind ebendiesen Weg gelaufen war. Es war ein seltsamer Gedanke, und er fühlte sich seiner Mutter so nah wie seit ihrem Tod nicht mehr. Trauer überkam ihn, und er war froh über seine Sonnenbrille, die seine Tränen verbarg.
»Übervölkert ist es hier nicht gerade«, stellte Elena fest.
»Vielleicht halten die Leute Siesta, es geht auf Mittag zu.
Oder sie sind ausgewandert. Das würde ich auch tun, wenn ich hier leben müsste. Wenn alle Bergdörfer hier oben so aussehen, wundert mich nicht mehr, dass der Typ vorhin so mies drauf war.«
Vor ihnen wurde es heller, und sie traten auf die Piazza des Dorfes, die einen freundlicheren Eindruck machte als die düstere Gasse hinter ihnen. Außerdem sahen sie hier die ersten Dorfbewohner: ein paar Männer, die vor einer Bar saßen und sich im Schatten eines großen Sonnenschirms lautstark unterhielten. Als sie die beiden Fremden erblickten, verstummte die Unterhaltung, und neugierige Blicke saugten sich an Enrico und Elena fest.
»Wenigstens gibt es hier was zu trinken«, sagte Enrico. »Ich habe einen Durst wie eine Kompanie Fremdenlegionäre nach dem Durchqueren der Sahara.«
»Zwei Kompanien«, berichtigte ihn Elena und hakte sich bei ihm unter. »Gibst du einen Hektoliter aus?«
Sie ließen sich neben den Männern nieder, die ihren Gruß erwiderten, und bestellten eine große Flasche Mineralwasser.
Jetzt, nachdem sie etwas zu trinken hatten und nicht mehr die einzigen Menschen hier waren, wirkte Borgo San Pietro nicht mehr so abschreckend auf Enrico. Die Piazza hatte sogar etwas Malerisches, fand er, und ein Bild von hier hätte sich gut in einem Reiseführer über die Toskana gemacht. Er bezweifelte allerdings, dass viele Touristen oder auch nur wenige Reisebuchfotografen den Weg hierher fanden.
Als der Junge, der auch sie bedient hatte, aus der Bar kam, um ein Bier an den Nachbartisch zu bringen, gab Enrico ihm ein Zeichen und fragte ihn, ob es hier eine Familie Baldanello gebe.
Der Junge sah ihn nur verständnislos an und zuckte mit den Schultern.
Einer der Männer am Nebentisch sagte: »Fragen Sie am besten den Bürgermeister, wenn Sie etwas wissen wollen, oder den Pfarrer.«
Enrico blickte über die Dächer, wo sich in etwa hundert Meter Entfernung die Turmspitze der örtlichen Kirche erhob.
»Den Pfarrer finde ich wohl in seiner Kirche. Und den Bürgermeister?«
»Benedetto Cavara isst um diese Zeit zu Mittag. Sein Haus ist das gelbe dort drüben, direkt neben dem Aufgang zur Stadtmauer.«
Die Familie Cavara bestand aus Benedetto Cavara, seiner Frau, fünf Kindern und der Großmutter. Sie saßen um einen großen Tisch, aßen ein köstlich duftendes Fleischgericht und blickten die beiden Besucher höchst erstaunt an. So, wie man hier jeden unerwarteten Besucher – und andere gab es wohl kaum – anstarrte. Der Bürgermeister trug die Lederschürze eines Schusters und hatte ein rundes Gesicht, das von einem großen Schnurrbart beherrscht wurde. Sobald Enrico mit Elena das Haus betreten hatte, fühlte er sich unwohl. Sie beide waren hier Fremdkörper, vielleicht nicht einmal unerwünscht, aber auf jeden Fall unpassend. Mit leisen Worten, als wolle er die Cavaras nicht noch mehr stören, erkundigte er sich nach der Familie Baldanello.
Benedetto Cavara ließ seine Gabel sinken und blickte Enrico skeptisch an. »Warum wollen Sie das wissen?«
»Bevor meine Mutter heiratete, hieß sie Mariella Baldanello.
Im August ist sie verstorben. Wenn hier noch Verwandte von ihr leben, würde ich sie gern sprechen und sie vom Tod meiner Mutter in Kenntnis setzen.«
Der Bürgermeister schüttelte den Kopf. »Ich muss Sie enttäuschen, Signore. Die Baldanellos gab es hier mal, das ist richtig. Aber die alten Leute aus dieser Familie sind gestorben und die jungen fortgezogen. Ihnen ist vielleicht schon aufgefallen, dass Borgo San Pietro nicht gerade an Übervölkerung leidet.«
»So ein Pech«, sagte Enrico enttäuscht. »Haben Sie möglicherweise Adressen der Fortgezogenen?«
»Nein, nichts. Wozu auch? Wer Borgo San Pietro einmal verlässt, kehrt nicht wieder. Wie es auch bei Ihrer Mutter gewesen ist.«
»Und der Dorfpfarrer? Kann er mir vielleicht weiterhelfen?«
»Das glaube ich nicht. Er bewahrt auch keine Adressen Fortgezogener auf. Außerdem ist er heute nicht im Ort. Er musste in einer familiären Angelegenheit dringend nach Pisa.
Wir wissen nicht, wann er zurückkommt.«
Enrico und Elena verabschiedeten sich und gingen wieder hinaus auf die Piazza, wo inzwischen kein Mensch mehr zu sehen war. Stühle, Tische und Sonnenschirme standen noch vor der Bar, aber die Gäste waren verschwunden, und vor der Tür hing ein braunes Pappschild, auf das in roten Blockbuchstaben ein Wort gemalt war: »Chiuso« – geschlossen. Enrico kratzte sich am Kopf. »Nanu, war die Mittagspause so kurz?«
Elena zog ihre Sonnenbrille von den Haaren hinunter ins Gesicht und ließ ihren Blick über den verwaisten Platz schweifen. »Ich glaube, das liegt an uns. Borgo San Pietro versteckt sich vor uns.«
»Was haben wir beide nur an uns, dass man uns meidet wie Aussätzige?«
»Wir sind Fremde. Vielleicht die ersten in diesen Tagen, aber nicht die einzigen. Der zu erwartende Ansturm ist es wahrscheinlich, den die Leute hier fürchten. Es kann nicht mehr lange dauern, bis hier die ersten Journalisten herumschnüffeln.
Wir sind für die Dorfbewohner so etwas wie die Vorhut angesichts der letzten Ruhe vor dem Sturm.«
»Ein Sturm? Wovon sprichst du, Elena? Habe ich was verpasst?«
»Das kann man wohl sagen. Als es dir gestern nicht gut ging und du dich ins Bett gelegt hast, wurde es im Fernsehbericht über die Amtseinführung des Gegenpapstes erwähnt.«
»Was? Dass dem Dorf hier ein Sturm droht?«
»So ungefähr. Genauer gesagt: Gegenpapst Lucius alias Tomás Salvati stammt aus diesem Ort, und er hat hier auch ein paar Jahre als Priester gewirkt.«
»Ach du Scheiße!«
»Lass uns das hier nicht in der prallen Sonne besprechen, Enrico. Gehen wir zurück zum Wagen!«
Sie überquerten den Platz und tauchten in den Schatten der schmalen Gasse ein, durch die sie hergekommen waren. Nach nur wenigen Schritten blieb Enrico stehen und murmelte: »Sie sollten doch eigentlich froh sein.«
»Wer?«
»Die Leute hier in Borgo San Pietro. Das Dorf könnte ein Touristenmagnet werden, ein Wallfahrtsort für die Anhänger der neuen Kirche.«
»Vielleicht legen die Menschen hier darauf keinen Wert. Es ist nicht jedermanns Sache, Scharen von Fremden durch seinen Vorgarten trampeln zu lassen und sein Seelenleben vor Journalisten auszubreiten, denen es in Wahrheit nur um Schlagzeilen und Auflage geht.«
»Das hört sich an, als würdest du dich damit auskennen, Elena.«
Elena wirkte für einen Augenblick irritiert, als wüsste sie nicht, was sie darauf erwidern solle. Während sie noch nach Worten suchte, wurde sie von etwas abgelenkt und sagte leise:
»Das ist doch der Bürgermeister! Der hat sein Mittagessen aber schnell vertilgt.«
Benedetto Cavara war aus seinem Haus getreten und blickte über den Platz. Dann ging er eiligen Schrittes am Rand der Piazza entlang und verschwand hinter einem Mauervorsprung.
»Er hat bestimmt nach uns Ausschau gehalten«, murmelte Enrico.
»Du meinst, er sucht uns?«
»Im Gegenteil, er schien mir nicht besonders erpicht auf eine nähere Bekanntschaft. Hast du gesehen, wohin er gegangen ist?
In der Richtung liegt doch die Dorfkirche.«
»Du könntest Recht haben, Enrico. Vielleicht ist die Geschichte mit dem verreisten Pfarrer nur ein Märchen. Vorhin vor der Bar hat niemand erwähnt, dass er nicht im Dorf sei.«
»Aber wozu der Aufwand? Nur, um uns schnell loszuwerden?«
»Keine Ahnung, was das Ganze soll. Schauen wir doch einfach nach!«
Sie liefen zurück auf die Piazza und zu der Stelle, wo Bürgermeister Cavara aus ihrem Blickfeld verschwunden war.
Als sie den Mauervorsprung erreichten, sahen sie, dass von dort ein direkter Weg zur Kirche führte. Sie folgten ihm und blieben am Rand des kleinen Kirchenvorplatzes stehen. »Warten wir hier?«, fragte Enrico. »Falls Cavara denselben Weg zurückkommt, wäre es doch eine hübsche Überraschung für ihn, uns hier anzutreffen.« Er lachte trocken. »Ob er uns dann wohl erzählt, er geht jeden Mittag zum Beten in die Kirche?«
Aber sie warteten vergeblich auf Cavara und beschlossen nach einer Viertelstunde, in der Kirche nachzusehen.
»Selbst wenn Cavara nicht da ist, ist es dort drinnen auf jeden Fall kühler als hier draußen in der Mittagshitze«, meinte Elena, und Enrico stimmte ihr zu.
Enrico musste sich anstrengen, um einen Flügel der schweren Kirchentür aufzuziehen. Aber es lohnte sich. Der kühle Lufthauch, der ihm entgegenwehte, war hochwillkommen.
Enrico störte sich nicht daran, dass die Kirchenluft von durchdringendem Weihrauchgeruch durchsetzt war. Er nahm, wie auch Elena, seine Sonnenbrille ab, und sie betraten das Gotteshaus. Enrico achtete darauf, dass die Tür leise schloss.
Die Kirche schien leer zu sein, was angesichts der Tageszeit nicht verwunderlich war. Durch die bunten Fenster, auf denen Szenen aus dem Leben Jesu abgebildet waren, fielen Lichtbahnen in das sonst dunkle Kirchenschiff. Enrico und Elena durchschritten die leeren Bankreihen, ohne auf eine Menschenseele zu stoßen.
»Was jetzt?«, fragte Enrico, als sie vor dem blumengeschmückten Altar standen. »Hier gibt es weder einen Bürgermeister noch einen Pfarrer.«
Elena ging zu einer Seitentür und drückte die Klinke nach unten. Mit leisem Quietschen schwang die Tür auf.
»Hier geht’s weiter«, sagte sie und verschwand durch die Türöffnung.
Enrico folgte ihr in die Sakristei und flüsterte ihr ins Ohr:
»Juristisch betrachtet, begehen wir gerade einen Hausfriedensbruch.«
Elena wandte sich zu ihm um und grinste. »Das macht mir keine Angst, ich habe meinen Anwalt dabei.«
»Aber mir macht das Angst«, sagte er mit gespieltem Augenrollen. »Man hört so allerlei Unangenehmes von den Bedingungen in italienischen Gefängnissen.«
»Das trifft aber nur diejenigen, die sich erwischen lassen«, sagte Elena und ging auf eine geschlossene Tür zu, die sich ebenfalls öffnen ließ. »Angst vor Dieben scheint der Pfarrer jedenfalls nicht zu haben. Ich frage mich nur, ob jemand, der für unbestimmte Zeit nach Pisa fährt, alles so unverschlossen zurücklassen würde.«
Sie kamen in einen schmalen Flur mit einer Garderobe, an der einige Kleidungsstücke hingen, darunter ein schwarzer Priesterrock. Offenbar befanden sie sich jetzt in der Privatwohnung des Pfarrers. Enrico fühlte sich nicht ganz wohl in seiner Haut, aber Elena schien zunehmend Spaß an dem Abenteuer zu finden. Fast schien es ihm, als mache sie so etwas nicht zum ersten Mal.
Sie zeigte zum Ende des schmalen, sehr dunklen Flurs. »Da vorn steht eine Tür ein Stück offen. Versuchen wir da unser Glück!«
Sie drückte die Tür auf, die zu einer Wohnküche führte. Auf dem Tisch standen ein nur halb geleertes Weinglas und ein Teller mit Nudeln und dunkelroter Sauce. Niemand saß an dem Tisch. Aber davor lag ein Mann mit einer blutenden Wunde am Hinterkopf. Fassungslos betrachtete Enrico die Szene, und auch Elena wirkte wie in der Bewegung erstarrt. Der Mann am Boden rührte sich nicht. Aber sie beide kannten den Mann. Die lederne Schürze hatte Benedetto Cavara noch umgebunden. Er lag in seltsam verrenkter Haltung auf der Seite, und sein glasiger Blick zeigte ins Leere. Enrico beugte sich über ihn, fühlte seinen Puls und versuchte festzustellen, ob er noch atmete.
»Was ist?«, fragte Elena erregt. »Lebt er noch?«
Enrico sah zu Elena auf. »Nichts. Der Bürgermeister ist definitiv tot.«
Er dachte daran, wie Cavara vor noch nicht einer halben Stunde inmitten seiner Familie am Mittagstisch gesessen hatte.
Seine Mutter, seine Frau und fünf Kinder warteten auf ihn, aber er würde niemals mehr zu ihnen kommen, sein Stuhl würde leer bleiben. Ein flaues Gefühl breitete sich in Enricos Magengegend aus, als ihm bewusst wurde, wie kurz der Schritt vom Leben zum Tod war.
Elena schien sich einigermaßen gefasst zu haben, und einmal mehr hielt Enrico sie für eine erstaunliche Frau. Aufmerksam sah sie sich in der Küche um.
»Er ist definitiv ermordet worden«, sagte sie mit Blick auf den blutenden Schädel und den schweren Kerzenständer, der blutverschmiert in einer Ecke auf dem Küchenboden lag. »Wer tut so etwas in einem Ort wie Borgo San Pietro?«
»Auf dem abgelegenen Land findet man oft abgefeimtere Verbrechen als in der Großstadt.«
»Lernt man solche Weisheiten vor Gericht?«, fragte Elena.
»Nein, in Kriminalromanen. Und da lernt man auch, dass man in einem Fall wie diesem schleunigst die Polizei rufen sollte.«
Enrico zückte sein Handy, erstarrte aber mitten in der Bewegung. Sein Blick war auf den kleinen, etwa sechsjährigen Jungen gefallen, der mit weit aufgerissenen Augen in der Küchentür stand. Sie kannten ihn, hatten ihn erst vor kurzem am Mittagstisch des Bürgermeisters gesehen. Vermutlich hatte Signora Cavara ihn ausgesandt, um nach seinem Vater Ausschau zu halten. Die Lippen des Jungen bebten, als wolle er etwas sagen, könne aber keinen Ton hervorbringen.
»Wir haben deinem Vater nichts getan …«, setzte Elena zu einer hilflosen Erklärung an. »Du solltest dir das nicht länger ansehen. Wie heißt du, Junge?«
Sie ging langsam auf den Jungen zu. Vielleicht löste das seine Erstarrung. Er wandte sich um, lief schreiend durch den Flur und verschwand durch eine halb offen stehende Tür, die direkt ins Freie führte.
»Das ist gar nicht gut«, zischte Elena. »Wenn der Kleine da draußen seine Geschichte erzählt, hat man uns nicht nur wegen Hausfriedensbruchs beim Wickel. Wir sollten ihm schnellstens nach und dafür sorgen, dass kein falsches Bild entsteht!«
Aber es war schon zu spät. Eben noch menschenleer, hatte sich draußen auf dem Vorplatz jetzt, wie es schien, das halbe Dorf versammelt. Die Menschen umringten den Sohn des Ermordeten und lauschten seinen hastigen Worten. Böse Blicke richteten sich auf die beiden Fremden, und dann flog etwas durch die Luft und streifte Enricos rechte Wange. Es war ein Stein, der hinter ihm gegen die Hauswand knallte. Ein brennender Schmerz überzog seine rechte Gesichtshälfte. Als er die Hand dagegen hielt, waren sämtliche fünf Finger von einer Sekunde zur anderen blutig.
Weitere Steine flogen und gingen um Enrico und Elena wie Hagel nieder. Die Dorfbewohner schlossen sich zu einer bedrohlichen Front zusammen, die Schritt für Schritt näher rückte. Knüppel und Messer in den Händen der Männer verhießen nichts Gutes.
»Die lassen nicht mit sich reden«, erkannte Elena. »Wir müssen hier weg, schnell!«
Sie nahm Enrico bei der Hand und zog ihn in die nächste Gasse. Sie liefen, so schnell sie konnten, und er fragte keuchend:
»Wie ist dein Plan?«
»Zurück zum Auto und abhauen.«
»Ein guter Plan. Hoffentlich finden wir den Weg.«
»Ich habe einen guten Orientierungssinn.«
Tatsächlich kamen Enrico und Elena aus dem Gewirr der Gassen an einer Stelle heraus, die nicht weit vom Parkplatz entfernt lag. Enrico spürte, wie das warme Blut von seiner Wange den Hals entlang unter seinen Hemdkragen lief, kümmerte sich aber nicht weiter darum. Seine Verletzung war nichts im Vergleich zu dem, was ihnen drohte, wenn sie den Dorfbewohnern in die Hände fielen.
Der Parkplatz lag hinter einem kleinen, buschbewachsenen Hügel. Als sie den umrundet hatten, blieben sie wie angewurzelt stehen. Bei ihrem Wagen standen vier Männer, bewaffnet mit Knüppeln und Schrotflinten. Da krachte auch schon der erste Schuss, und wenige Meter neben ihnen spritzte der Boden auf.
»Die sind wahnsinnig«, keuchte Enrico. »Weg hier, schnell!«
Diesmal war er es, der Elena mit sich zerrte, bis der Hügel sie vor den Männern auf dem Parkplatz abschirmte. Aber eine Ruhepause war ihnen nicht vergönnt. Zahlreiche Dorfbewohner strömten zwischen den Häusern und Mauern von Borgo San Pietro ins Freie, und allen stand blanker Zorn ins Gesicht geschrieben.