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Rom, Montag, 28. September
Die Scheibenwischer sprangen in der höchsten Geschwindigkeitsstufe hin und her, und trotzdem sah er kaum fünf Meter weit. Ein Unwetter war vor ein paar Stunden nicht nur über Rom, sondern über weite Teile Italiens hereingebrochen.
Wer nicht unbedingt vor die Tür musste, blieb zu Hause. Die Straßen waren so leer wie selten in Rom, und das war auch gut so. Andernfalls wäre er vermutlich längst in einen Unfall verwickelt gewesen. Wieder durchbrach ein Blitz das Grau-Schwarz des wolkenverhangenen Himmels, und fast gleichzeitig schlug etwas gegen seine Windschutzscheibe. Es war ein heruntergerissener Ast, der auf der Scheibe einen kleinen Sprung hinterließ.
Alexander fluchte laut und nahm den rechten Fuß noch mehr vom Gaspedal, bis er fast mit Schrittgeschwindigkeit über das unebene Pflaster der Via Appia rumpelte. Vermutlich kam er zu spät zu seiner Verabredung, aber dafür sollte Werner Schardt bei diesem Wetter Verständnis haben. Er hatte es sehr wichtig gemacht, als er Alexander am Nachmittag anrief. Schardt hatte gesagt, er habe einen Hinweis auf die Identität der Priestermörder. Näheres hatte er weder am Telefon sagen wollen, noch war er bereit gewesen, Alexander in der Stadt zu treffen. Er schien sich regelrecht zu fürchten und hatte als Treffpunkt das Restaurant »Antico« vorgeschlagen, das an der Via Appia Antica lag, der alten römischen Konsularstraße.
Immer wieder knackte abgerissenes Astwerk unter den Reifen, während Alexander durch eine Welt fuhr, die nur aus seinem Wagen, einem kleinen Stück Straße und den hohen Pinien und Zypressen zu beiden Seiten zu bestehen schien, die ein düsteres, fast schon außerhalb seines Blickfelds verschwimmendes Spalier bildeten. Beinah hätte er die kleine Abzweigung verpasst, an der ein Schild auf das »Antico« hinwies. Der Weg zum Restaurant sollte achthundert Meter betragen, aber Alexander, der zum ersten Mal hier war, kam er doppelt so lang vor. Die Zufahrt war von hohen Hecken eingefasst und mündete auf einen großen, vollkommen leeren Parkplatz, neben dem sich ein Gebäude im Stil einer alten römischen Villa erhob. Dass es ein Neubau war, sah man bei dem schlechten Wetter kaum.
Soweit Alexander wusste, hatte das »Antico« erst vor zwei oder drei Monaten seine Pforten geöffnet. Die Laternen, die den Parkplatz säumten, waren nicht eingeschaltet, und auch das Restaurant war in Dunkelheit gehüllt. Alexander hielt den Peugeot vor der Eingangstür an, stieß die Fahrertür auf und erreichte mit zwei schnellen Schritten das schützende gläserne Vordach, auf das wütend der Regen trommelte. Im Restaurant war tatsächlich alles dunkel, und an der Tür hing ein großes Schild: »Montags Ruhetag«. Alexander drehte sich langsam im Kreis und suchte den Parkplatz ab, konnte aber weder ein Fahrzeug noch Werner Schardt entdecken. Ärger stieg in ihm hoch. Falls Schardt es angesichts des Wetters vorgezogen hatte, im Gardequartier zu bleiben, hätte er Alexander zumindest Bescheid geben können. Ein neuer Gedanke verdrängte rasch den Ärger: Hatte man Werner mit Gewalt davon abgehalten, sich mit ihm zu treffen? Das allerdings hätte bedeutet, dass er den Mördern in die Hände gefallen war. Vielleicht aber hielt ihn einfach nur das schlechte Wetter auf, und Werner oder sein Taxifahrer tastete sich eben so zögernd über die Via Appia wie er selbst vor wenigen Minuten. Er beschloss, im trockenen Wagen auf Werner zu warten. In diesem Moment sah er ein Licht an der Einmündung zum Parkplatz. Es waren die Kegel zweier Scheinwerfer, und ein zweiter Wagen rollte langsam heran. Es war ein dunkles Fahrzeug, dessen Fabrikat er nicht erkennen konnte. Werner Schardt besaß kein Auto. Wenn er es war, musste er sich den Wagen geliehen haben. Die Scheinwerfer blendeten Alexander, und er konnte nicht erkennen, wer in der dunklen Limousine saß. Der Wagen hielt ein paar Meter hinter dem Peugeot an, und der Motor erstarb.
Aber das blendende Licht blieb eingeschaltet. Alexander kniff die Augen zusammen, als er durch das laute Regengeprassel hindurch das Geräusch einer Autotür vernahm.
Eine Stimme rief: »Alexander, bist du da?«
Das war Werner Schardt, kein Zweifel.
»Hier unter dem Vordach«, antwortete Alexander. »Das Restaurant hat geschlossen.«
»Dann komm in meinen Wagen, da können wir ungestört reden.«
Alexander zog den Kopf ein, als könne ihn das vor dem Regen bewahren, und lief zu Schardts Fahrzeug. Er hatte es fast erreicht, da konnte er die Silhouetten im Innern erkennen. Dort saßen drei Gestalten, den Umrissen nach Männer. Alexander machte auf dem Absatz kehrt und lief zurück zu seinem Wagen.
Als er die Fahrertür des Peugeot aufreißen wollte, zersplitterte die Seitenscheibe, und winzige Glaskristalle fielen zusammen mit dem Regen auf seine rechte Hand. Gleichzeitig hörte er die Detonation des Schusses.
Er spurtete in Richtung des Restaurants, wobei er Haken schlug wie ein fliehender Hase, um den drei anderen das Zielen zu erschweren. Vor ihm prallte ein Geschoss an der Hauswand ab und sirrte als Querschläger in die Dunkelheit. Mit einem Hechtsprung brachte er sich hinter der nächsten Ecke in Sicherheit. Als er sich abrollte, stieß er mit dem Kopf gegen etwas Hartes. Es war einer von mehreren großen Kübeln, in denen Pflanzen standen – oder das, was das Unwetter von ihnen übrig gelassen hatte. Alexander kauerte sich zwischen die Kübel, die bei der schlechten Sicht guten Schutz boten, und kam endlich dazu, seine Waffe aus dem altmodischen Schulterholster unter seiner Lederjacke zu ziehen. Es war eine automatische Pistole, eine SIG Sauer P 225, wie sie den Offizieren und Unteroffizieren der Schweizergarde als Dienstwaffe diente. Als Alexander sich nach seinem Abschied von der Garde auf dem schwarzen Markt um eine Waffe bemüht hatte, hatte er mit Absicht nach dem vertrauten Modell gesucht. Mit der durchgeladenen und entsicherten P 225 im Anschlag kauerte er zwischen den Pflanzkübeln und starrte in den Regen, der ihn inzwischen vollständig durchnässt hatte. Das Haar klebte an seinem Kopf wie ein Helm, und das Wasser rann in kleinen Bächen unentwegt in seinen Kragen. Von seinem Versteck aus konnte er den Parkplatz nicht einsehen, und er konnte auch nichts Verdächtiges hören. Falls die drei nach ihm suchten – und davon ging er aus –, verständigten sie sich vermutlich durch Zeichen. Und selbst wenn sie leise miteinander sprachen, hätten Regen und Donner ihre Worte verschluckt. Er spürte, wie seine Anspannung wuchs, und wünschte sich fast, seine Feinde würden sich endlich zeigen. Lieber sah er der Gefahr ins Auge, als auf ihr plötzliches Auftauchen zu warten. Wie ein Echo hörte er in seinem Kopf die Stimme seines Vaters bei ihrem letzten Gespräch: Beende deine Recherchen über die ermordeten Priester, oder du wirst sterben! Ein Geräusch hinter ihm, nur ein leises Klacken, ließ ihn herumfahren. Er sah eine schemenhafte Gestalt, die in diesem Augenblick hinter den Kübeln in Deckung ging, die am weitesten von Alexander entfernt waren. Er kroch dem anderen auf allen vieren entgegen, wobei er darauf achtete, dass seine Pistole nicht in eine der zahlreichen Pfützen geriet. Nach fünf oder sechs Metern sah er ein paar Beine hinter zwei dicht beieinander stehenden Kübeln.
Er stieß sich ab und landete auf dem anderen Mann, den er bäuchlings zu Boden presste. Alexander drückte die Mündung seiner Automatik gegen den Hinterkopf des anderen und stieß leise hervor: »Waffe fallen lassen! Und keinen Mucks, sonst bist du tot!«
Die Waffe seines Feindes glitt mit einem metallischen Geräusch auf den gepflasterten Boden. Der Mann, den er zu Boden drückte, hatte dunkles Haar, kurz geschnitten wie das eines Soldaten. Das noch sehr junge, zum Kinn spitz zulaufende Gesicht war Alexander unbekannt.
»Schweizer?«, fragte er knapp.
»Ja«, kam es halblaut zurück.
»Name?« Als er keine Antwort erhielt, sagte er hart: »Deinen Namen, Mann!«
»Peter Grichting.«
»Wo stecken die beiden anderen, Grichting?«
»Hinter dir, Dummkopf!«, hörte er Werner Schardts Stimme deutlicher, als ihm lieb war. »Und jetzt rückst du deine Waffe raus, Kamerad!«
»Und wenn ich diesen Grichting erschieße?«, fragte Alexander, ohne sich umzusehen.
»Dann wird die Polizei hier morgen zwei Tote finden«, sagte Schardt in einem gleichgültigen Tonfall.
Alexander legte seine P 225 vorsichtig auf den Boden. Kaum hatte er sie losgelassen, bäumte sich der unter ihm liegende Mann auf und schüttelte ihn ab. Alexander fiel auf das nasse Pflaster und sah jetzt die beiden Männer hinter ihm. Werner Schardt und ein Unbekannter, der mit seinem jungenhaften Gesicht und dem Stoppelhaar ebenfalls aussah wie einer jener jungen Rekruten, mit denen die Schweizergarde ihre gelichteten Reihen aufgefüllt hatte. Beide zielten mit Pistolen auf ihr Opfer.
»Schusswaffen!«, sagte Alexander verächtlich. »Ist das nicht ein wenig profan für eure Verhältnisse? Bei den ermordeten Priestern wart ihr kreativer.«
»Du bist kein Geistlicher, kannst also kaum dieselbe Behandlung verlangen«, erwiderte Schardt kühl.
»Warum überhaupt dieser Aufwand mit Kreuzigung und Ersäufen? Ihr seid doch keine abgedrehten Psychopathen. Wenn ich mich nicht sehr täusche, handelt ihr im höheren Auftrag, und eure Absicht war es, die Ermordeten zum Schweigen zu bringen.
Die beiden ersten Opfer wussten zu viel aus ihrer Zeit im vatikanischen Geheimarchiv, oder?«
»Du bist ein Schlaukopf, Alexander Rosin. Aber wohin hat dich das geführt?«
»Du hast meine Frage nicht beantwortet.«
»Wir wollten es der Polizei nicht so leicht machen, daher die Idee mit den vermeintlichen Ritualmorden. Die Medien sind ja auch voll drauf abgefahren.«
Peter Grichting hatte sich erhoben und sowohl seine eigene als auch Alexanders Waffe an sich genommen. Jetzt waren vier Pistolenmündungen auf Alexander gerichtet. Er musste sich sehr zusammenreißen, damit die in ihm aufkeimende Todesangst nicht überhand nahm. Er konzentrierte sich auf seinen Dialog mit Werner Schardt, er musste Zeit gewinnen.
»Und euer Auftraggeber?«, fragte Alexander. »Ist der auch zufrieden mit euch?«
»Sonst wären wir wohl kaum hier.«
»Darf ich vielleicht erfahren, wem ich meinen Tod zu verdanken habe?«
»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, Rosin, wirklich nicht!
In ein paar Sekunden ist für dich ohnehin alles vorbei.«
»Dann beantworte mir wenigstens eine letzte Frage, Werner: Wessen Kette wurde bei dem ermordeten Pfarrer Dottesio gefunden? Du trägst deine noch. Und die jungen Schweizer hier waren noch nicht bei der Garde, als Franz Imhoof seine Ostergaben verteilte.«
»Es war meine Kette. Ich musste daraufhin die eines Kameraden stehlen. Das war wohl der einzige Fehler, der mir unterlaufen ist.«
Eine Stimme hinter den drei Schweizern sagte: »Das würde ich nicht so sehen. Chronische Schwatzhaftigkeit gehört auch nicht gerade zu den hervorragenden Eigenschaften eines Mörders.«
Stelvio Donati bog um die Hausecke und richtete eine Waffe auf Schardt. Gleichzeitig traten aus allen Richtungen Polizisten in Zivil und Uniform aus dem Regengrau, bewaffnet mit automatischen Pistolen und Maschinenpistolen.
»Wenn denn auch ich jetzt um die Waffen bitten darf«, sagte Donati. »Und dann die Hände hübsch hoch, wie es sich für Mörder gehört, die in ihre eigene Falle gegangen sind.«
Während die drei Gardisten der Aufforderung nachkamen, stand Alexander auf und blickte Donati vorwurfsvoll an. »Du hast dir aber Zeit gelassen, verdammt viel Zeit, Stelvio!«
Der Commissario grinste. »Ich wollte eure muntere Plauderei nicht unterbrechen. Es klang so interessant.«
Werner Schardt warf Alexander einen hasserfüllten Blick zu.
»Ich hätte dir einfach eine Kugel in den Rücken jagen sollen!«
»Nicht doch«, sagte Donati und hob drohend den Zeigefinger der linken Hand. »Auf die kurze Entfernung kann das zu ernsthaften Verletzungen führen, selbst wenn man eine kugelsichere Weste trägt.«
Schardts Blick wanderte ungläubig zwischen Alexander und Donati hin und her. »Woher habt ihr gewusst, dass das eine Falle ist?«
»Nicht gewusst, aber vermutet«, sagte Donati. »Rosin zum Essen in ein Restaurant zu bestellen, das weitab vom Schuss liegt und montags geschlossen hat, ist schon mal verdächtig.«
»Ich hätte mich einfach geirrt haben können mit dem Restaurant«, wandte Schardt ein.
»Ja«, stimmte Alexander ihm zu. »Ich wäre auch nicht besonders misstrauisch gewesen, wäre ich nicht vor einer Falle gewarnt worden.«
»Gewarnt? Von wem?«
»Auch wenn für dich in ein paar Sekunden noch nicht alles vorbei ist, Werner, brauchst du dir darüber nicht den Kopf zu zerbrechen.«
Zweieinhalb Stunden später betrat Alexander frisch geduscht und in sauberen Kleidern Donatis Büro im Polizeihauptquartier auf dem Quirinal. Der Commissario saß entspannt hinter seinem Schreibtisch, hatte das Bein mit der Prothese weit von sich gestreckt und rauchte einen seiner geliebten Zigarillos.
»Ist das Rauchen im Polizeihauptquartier eigentlich erlaubt?«, fragte Alexander, als er die Tür hinter sich schloss.
»Keine Ahnung«, antwortete Donati und stieß einen großen Rauchkringel aus. »Hast du eigentlich einen Waffenschein?«
Alexander grinste breit. »Wechseln wir das Thema, Stelvio!
Du bist auffallend gut gelaunt. Haben unsere drei Schweizer etwa ein umfassendes Geständnis abgelegt?«
»Das nicht, im Gegenteil, sie sind so stumm wie die sprichwörtlichen Fische. Aber immerhin haben wir sie erwischt, und eben hat mich der Justizminister höchstselbst angerufen und mir ordentlich Honig ums Maul geschmiert. Da darf man sich doch mal freuen, oder?«
»Schon«, sagte Alexander und setzte sich Donati gegenüber.
»Aber lieber wäre mir, wir hätten auch ihren Auftraggeber.
Wenn der will, kann er neue Killer anheuern.«
»Mal den Teufel nicht an die Wand!« Donati drückte den Zigarillo im überquellenden Aschenbecher aus und erhob sich.
»Gehen wir zu deinem Freund Werner! Mal sehen, ob er jetzt bereit ist, eure Plauderei fortzusetzen.«
Als sie Schardt in dem fensterlosen Verhörraum gegenübersaßen, fühlte Alexander sich unangenehm an die Besuche bei seinem Vater erinnert. Hier herrschten dieselbe sterile Atmosphäre, dieselbe Kälte, dasselbe künstliche Licht.
Schardt, der inzwischen ebenfalls saubere Sachen trug, hockte mit gefesselten Händen auf einem der klobigen Stühle und starrte ins Nichts, tat so, als seien Alexander und Donati gar nicht anwesend.
Der Commissario schenkte dem Gefangenen ein freundliches, aber unechtes Lächeln. »Signor Schardt, wäre jetzt nicht die Zeit für ein umfassendes Geständnis? Damit könnten Sie Ihre Lage wesentlich verbessern. Wir fragen Sie zuerst. Aber wenn Sie nicht reden, kommen Ihre Komplizen an die Reihe. Wer zuerst redet, hat vor Gericht die besten Karten.«
»Niemand von uns wird reden«, sagte Schardt emotionslos.
»Es ist gleichgültig, ob wir im Gefängnis sitzen oder nicht. Nur unsere Sache ist wichtig.«
»Und was ist Ihre Sache?«, hakte Donati nach.
»Das dürften Sie kaum verstehen«, lautete die abschätzige Antwort.
»Sie können ja versuchen, es mir zu erklären.«
Schardt schüttelte leicht den Kopf. »Glauben Sie wirklich, ich falle auf Ihre einfältigen Tricks rein? Ich werde Ihnen gar nichts erklären!«
Alexander beugte sich zu ihm vor. »Aber mir bist du eine Erklärung schuldig, Werner!«
»Dir, Rosin? Ich wüsste nicht, warum.«
»Aus zwei Gründen. Erstens wolltest du mich umbringen.
Zweitens hast du die Schweizergarde ein zweites Mal in Verruf gebracht, zu einem Zeitpunkt, wo sie sich noch nicht von den Aufregungen im Mai erholt hat.«
»Mir kommen gleich die Tränen. Du sorgst dich um den Ruf der Garde? Du hast unseren Verein doch verlassen!«
Das klang fast, als würde er Alexander des Verrats beschuldigen. Alexander begriff, dass in Schardt auch nicht ein Quäntchen von Unrechtsbewusstsein vorhanden war. Im Gegenteil, der Gardist schien sich, seiner nebulösen »Sache«
verpflichtet, ganz und gar im Recht zu fühlen. Schardt war ein Fanatiker der gefährlichsten Sorte: einer, der absolut kaltblütig und überlegt zu Werke ging.
»Ich glaube, wir werden wirklich nichts von ihm und den beiden anderen erfahren«, sagte Alexander zu Donati. »Warst du eigentlich dabei, als die drei trockene Sachen angezogen haben?«
Der Commissario schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht vergnügungssüchtig.«
»Aber ich«, erwiderte Alexander und zeigte auf Schardt. »Ich würde gern seinen nackten Oberkörper sehen.«
Donati warf ihm einen schiefen Blick zu. »Wie bitte?«
»Ich würde gern Schardts nackten Oberkörper sehen«, wiederholte Alexander.
Zum ersten Mal in dem Verhör zeigte der Gefangene Emotionen. Mit einem wütenden Blick auf Alexander fragte er:
»Ist das zulässig? Darf Rosin überhaupt hier sein? Seit wann ist der Presse erlaubt, Polizeiverhören beizuwohnen?«
Donati spielte den Verwunderten. »Erst ein paar Priester abschlachten und sich dann auf Recht und Gesetz berufen, das haben wir gerne!« Er gab dem uniformierten Polizisten an der Tür einen Wink, näher zu treten. »Kollege, erfüllen Sie meinem Freund doch bitte seinen Herzenswunsch!«
Ohne große Umstände zerrte der Beamte Schardts Pullover und T-Shirt in die Höhe. Der Rücken war mit zahlreichen blutigen Striemen überzogen, viele älter und vernarbt, andere noch sichtbar frisch.
Leise sagte Alexander: »Totus tuus, Domine. Hie iacet pulvis, cinis et nihil. Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa.
– Vollkommen der Deine, Herr. Hier liegen Staub, Asche und nichts. Durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine übergroße Schuld.«
So lautete die Bußformel der Mitglieder des Geheimordens Totus Tuus, wenn sie sich geißelten. Im Mai hatte Alexander solche Narben öfter gesehen, nicht zuletzt bei Elena, die in einem von Totus Tuus geleiteten Waisenhaus aufgewachsen war. Die Vermutung, die er seinem Vater gegenüber geäußert hatte, sah er jetzt bewahrheitet. Der Orden war nicht vollständig zerschlagen, sondern noch aktiv. Mehr noch, Totus Tuns war unzweifelhaft in die Priestermorde verwickelt.
»Verdammt!«, zischte Donati. »Warum bin ich nicht darauf gekommen?«
»Gönn mir doch meinen kleinen Geistesblitz, Stelvio! Ich bin sicher, dass wir auch bei den beiden anderen Gefangenen Spuren von Geißelungen finden werden. Der körperliche Schmerz ist ein unverzichtbarer Teil der Gehirnwäsche, mit dem Totus Tuus seine Mitglieder zu willenlosen Gefolgsleuten macht. Ich sehe schwarz für die Schweizergarde. Totus Tuus scheint fest entschlossen, sie auch weiterhin als ausführendes Organ zu missbrauchen.«
»Wo sonst findet man auf einem Haufen so viele überzeugte Katholiken, die in Nahkampf und Waffengebrauch trainiert sind«, sagte Donati. »Die perfekten Söldner für den Orden.«
Alexander nickte, war aber mit seinen Gedanken schon woanders. »Hat man bei den ermordeten Priestern Hinweise auf Geißelungen gefunden?«
»Nein«, lautete Donatis Antwort.
»Ist das sicher?«
»Absolut. In zwei Fällen war ich bei der Leichenschau dabei, und im Fall von Giorgio Carlini habe ich den Autopsiebericht Zeile für Zeile gelesen. Solche Narben wären darin mit Sicherheit vermerkt worden.«
Werner Schardt, noch immer mit hochgezogenem Pullover und T-Shirt, sagte: »Mir ist kalt.«
Alexander blickte ihn angewidert an. »Mir auch.«