Jahre 1805

Erstes Kapitel – »Banditi!«

Nun, da meine Reisekutsche an diesem heißen Sommertag des Jahres 1805 durch die waldreichen Hügel Norditaliens rumpelte, stellte ich mir zum wiederholten Male die Frage, ob ich richtig gehandelt hatte, als ich beschloss, dem höchst seltsamen Aufruf zu folgen. Die schlechte, vorwiegend aus Löchern bestehende Straße ließ den Kutschaufbau fortwährend von einer Seite zur anderen schaukeln, als sei er nicht mehr denn ein loses Blatt im Herbstwind. Längst hatte ich es aufgegeben, mich mit den Armen abzustützen, um meinen Kopf vor allzu heftigen Stößen zu bewahren. Dennoch blieb ich vor den übelsten Kollisionen meines Schädels mit den Verstrebungen des Gefährts verschont. Eine gewisse Gewöhnung an die nicht gerade komfortable Fahrt hatte sich eingestellt, wie von selbst reagierten meine Glieder und Muskeln auf die Bewegungen der Kutsche und brachten meinen Oberkörper in die jeweils günstigste Position. Fast fühlte ich mich wie ein Seemann auf schwankendem Deck, dem es in Fleisch und Blut übergegangen ist, seine Körperhaltung dem Rhythmus des Meeres anzupassen.

Im Gegensatz zu einem Seemann aber war ich nicht gegen die Auswirkung der ständigen Schaukelei auf meine inneren Organe gefeit. Schon seit Stunden kämpfte ich gegen die Übelkeit an, und die Mittagshitze tat ein Übriges, mir die dicksten Schweißperlen auf die Stirn zu treiben. Als mein vormals weißes, sauberes Taschentuch ein vom Schweiß durchtränktes graues Knäuel war, beugte ich mich aus dem offenen Fenster und rief Peppo in einem recht ungehaltenen Tonfall zu, er möge gefälligst etwas langsamer fahren und sich nach einem geeigneten Ort für eine Mittagsrast umsehen. Der hohlwangige Italiener auf dem Bock blickte mich entgeistert an, schüttelte dann den Kopf, noch heftiger, als die Kutsche wackelte, und schlug meine Bitte mit einem einzigen, inbrünstig ausgestoßenen Wort ab: »Banditi!«

Auch das noch, wir durchquerten also ein Gebiet, in dem Räuber ihr Unwesen trieben. Ob es tatsächlich so war oder ob Peppo mehr von seiner Furcht als von konkreten Verdachtsmomenten getrieben wurde, blieb sich gleich. Mein Kutscher schien nicht gewillt, in nächster Zeit eine Rast einzulegen oder die beiden kräftigen Pferde auch nur ein wenig langsamer laufen zu lassen. Ich konnte es ihm nicht einmal verübeln. Diese unwegsame Gegend bot Räuberbanden wohl die besten Verstecke, und die einsame Straße lud zu einem Überfall auf Reisende geradezu ein. Die Kriege der letzten Jahre, mit denen der frisch gekrönte Kaiser der Franzosen Europa überzogen hatte, ließen eine ständig wachsende Schar an menschlichem Strandgut zurück: Deserteure und Versehrte, Leichenfledderer und Halsabschneider, Witwen und Waisenkinder säumten den Weg der großen Armeen, brachten auch dort noch Unheil über die Menschen, wo Marschtritt und Kanonendonner längst verhallt waren. Erschöpft ließ ich mich zurückfallen in das schweißfleckige Polster der Sitze und war jetzt gar nicht mehr so unfroh über den Umstand, dass ich ohne Reisegefährten auskommen musste. Zuweilen hatte ich die Gelegenheit, ein treffliches Wort zu wechseln, schmerzhaft vermisst, zumal der Italiener vorn auf dem Kutschbock überaus maulfaul war. Jetzt aber war ich froh, dass niemand sonst Zeuge meines erbärmlichen Zustands war und dass ich selbst davon verschont wurde, die Leiden anderer Reisender ertragen zu müssen, ihr Gejammer und ihre Ausdünstungen. Ich schloss die Augen und versuchte zu schlafen, aber das ständige Gehüpfe der über Stock und Stein rollenden Kutsche ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Ich fühlte mich gefangen in einem Wachtraum, der vor drei Wochen begonnen hatte, mit dem ungewöhnlichsten Brief, den ich zeit meines Lebens erhalten habe. Ich zog den ledernen Umschlag hervor, in dem ich das Schreiben verwahrte, packte es aus und faltete es auseinander. Auf teurem Papier standen, geschrieben im saubersten Kanzleistil, jene wenigen französischen Sätze, die mich aus dem beschaulichen, für mich aber in letzter Zeit nicht sehr komfortablen Gelle fortgelockt hatten. Mit Postkutschen und Flussbooten war ich gereist, um schließlich in einem kleinen Ort an der Grenze zum norditalienischen Fürstentum Lucca die avisierte Reisekutsche zu besteigen, deren einziger Passagier ich seitdem war.

»Hochverehrter Monsieur Schreiber! Wenn Sie an einer gut bezahlten Aufgabe im sonnigen Italien interessiert sind, sollten Sie unser Angebot auf der Stelle annehmen. Über Art und Dauer Ihrer Tätigkeit können wir Ihnen gegenwärtig leider keine Angaben machen. Seien Sie aber versichert, dass Ihr berufliches Interesse nicht zu kurz kommen wird, wie übrigens auch nicht Ihre Börse. Sie müssten sich allerdings heute noch entscheiden.

Falls, was wir sehr hoffen, Ihre Antwort bejahend ausfällt, melden Sie sich beim Herrn Direktor des Bankhauses Dombrede, der Ihnen weitere Instruktionen sowie eine ausreichende Reisekasse aushändigen wird. Es versteht sich, dass in diesem Fall auch Ihre sämtlichen Verbindlichkeiten beim genannten Bankhaus als von uns getilgt gelten.«

Das war alles. Kein Abschiedsgruß und keine Unterschrift, nicht einmal ein Absender. Und dieser letzte Satz! Ich las ihn wieder und wieder, damals wie heute, und wusste nicht, ob ich in Lachen oder Weinen ausbrechen sollte. Sämtliche Verbindlichkeiten getilgt? Damit wäre die Sorge meines Lebens von meinen Schultern genommen. Gab es tatsächlich einen unbekannten Gönner, der mir solch eine Wohltat erweisen wollte? Oder wurde ich, wie ich damals befürchtete, das Opfer eines geschmacklosen Scherzes? Alles Grübeln half nichts, nur im Bankhaus Dombrede konnte ich die Wahrheit erfahren.

Als ich über den Marktplatz meiner Heimatstadt eilte, suchten meine Augen die Fassaden nach einem verborgenen Beobachter ab, der sich den Bauch vor Lachen hielt und sich über seinen gelungenen Streich freute. Aber ich konnte niemanden entdecken. Im Bankhaus fragte ich fast schüchtern nach dem Direktor und hatte zu meiner Überraschung den Eindruck, dass ich bereits erwartet wurde. Man behandelte mich nicht wie den mittellosen Schuldner, als der ich hier verschrien war, sondern wie einen willkommenen Gast, und der Herr Bankdirektor Lohmann schüttelte meine Hand wie die eines gutes Freundes, mindestens aber eines bedeutenden Kunden. Er beglückwünschte mich zu meinem generösen Auftraggeber, der meine sämtlichen Verbindlichkeiten zu tilgen bereit sei. Ich wollte mir nicht die Blöße geben, ihn erkennen zu lassen, wie wenig ich über diesen Auftraggeber wusste. Durch geschickte Fragen versuchte ich, mehr in Erfahrung zu bringen, aber entweder wusste Herr Lohmann nichts, oder er wich gewandt meinen Fragen aus. Er überreichte mir die in dem Brief genannte Reisekasse, die nicht nur ausreichend, sondern üppig genannt werden musste, und ein weiteres, ebenfalls anonymes Schreiben, das Einzelheiten über meinen Reiseweg enthielt. Am nächsten Morgen schon sollte ich Celle verlassen, und ich folgte dem, ohne zu zögern. Die Hälfte der Reisekasse ließ ich meiner Mutter und den Schwestern zurück, womit sie gut versorgt waren.

Tausendmal und mehr hatte ich mir während der Reise den Kopf darüber zerbrochen, wer in Italien von mir gehört hatte und so sehr auf meine Hilfe erpicht war, dass er ein kleines Vermögen dafür opferte. Und welche Aufgabe harrte meiner?

Ich fand keine Antworten, hatte einfach viel zu wenig Hinweise.

Ich wusste nicht einmal, wo meine Reise enden sollte.

Etwa hier, in dieser unwirtlichen Hügellandschaft? Der Gedanke durchfuhr mich, als sich draußen Lärm erhob und die Kutsche noch bedrohlicher wankte als bisher. Ich hörte laute, heftige Schreie und das unverkennbare Krachen von Schüssen.

Pulverrauch lag auf einmal in der Luft, und dann drehte sich die Welt um mich. Die Bäume tanzten, der Himmel wollte mit dem Boden tauschen, und mir wurde noch viel übler als zuvor. Meine Stirn stieß mit böser Wucht gegen eine Holzstrebe, und ein stechender Schmerz wollte meinen Kopf spalten. Mit einer unbeschreiblichen Verrenkung meiner Glieder lag ich in der umgestürzten Kutsche und fühlte mich hilflos wie ein auf den Rücken gefallener Maikäfer. Ich drehte den schmerzenden Kopf und konnte durch das Fenster der linken Tür des Verschlags in den blauen Himmel hinaufstarren, woraus ich schloss, dass mein Reisegefährt auf die rechte Seite gefallen war. Welch belanglose Schlussfolgerungen des Menschen Verstand doch zuweilen in den unpassendsten Augenblicken anstellt! Den Himmel sah ich nur kurz, dann wurde er von wilden Gesichtern verdeckt: schmutzig, überwuchert von ungepflegtem Bartwuchs. Die Blicke der Männer glichen denen eines Raubtiers, das seine Beute sicher weiß. Ich erinnerte mich an die Schüsse und an Peppos inbrünstigen Ausruf: »Banditi!«

Die linke – oder obere, ganz wie man die Sache betrachtete –

Tür des Verschlags wurde geöffnet, und grobe Hände streckten sich mir entgegen, zerrten mich aus der Kutsche und dann hinunter auf den festen Boden. Von heftigem Schwindel gepackt, taumelte ich und ließ mich, mit dem Rücken an einen Baumstamm gelehnt, zu Boden sinken. Ich lehnte den Kopf nach hinten und empfand den Baumstamm als angenehm kühl.

Allmählich konnte ich klarer sehen, aber was ich erblickte, heiterte mich nicht auf. Die beiden Zugpferde, noch immer im Geschirr, schienen verletzt und wieherten, ja schrien qualvoll.

Nicht weit von ihnen lag Peppo, verrenkt und leblos wie eine weggeworfene Puppe. Einer der Männer – der Räuber? – beugte sich über ihn.

»Was ist mit dem Kutscher?«, fragte ich auf Italienisch, und jedes Wort führte zu neuerlichem Stechen in meinem Schädel.

Der Fremde ergriff Peppos Kopf und wackelte mit ihm wie mit einer Holzkugel, drehte ihn in jede beliebige Richtung. Dann sah er mich an. Es war ein hartes und doch schönes Gesicht, geprägt von südlicher Männlichkeit und geziert von einem imposanten Schnauzbart mit spitz zulaufenden Enden.

»Genickbruch«, erklärte der Fremde und lächelte dabei. »Der Sturz vom Bock ist ihm nicht gut bekommen, als unsere Schüsse die Pferde erschreckten. Der Kerl hätte gleich anhalten sollen, als ich ihn dazu aufgefordert habe.«

Die Gleichgültigkeit, mit der dieser Lump von Peppos Tod sprach, machte mich rasend. Ich verspürte die unbändige Lust, mich auf ihn zu stürzen und ihn windelweich zu prügeln. Aber kaum hatte ich mich von dem Baumstamm abgestoßen und war wankend auf die Beine gekommen, da spürte ich einen harten Schlag am Hinterkopf. Das Letzte, was ich sah, bevor vollkommene Finsternis mich übermannte, war das grinsende Gesicht des schnauzbärtigen Fremden.

Dieses Gesicht ließ mich nicht los, schwebte über mir, wenn die Finsternis für kurze Momente aufriss. Mal schien es mich neugierig anzublicken, dann wieder spöttisch. Aber meine wachen Momente waren zu kurz und ich noch zu kraftlos, um mir ein wirkliches Bild darüber zu machen, was das Funkeln in den dunklen, fast schwarzen Augen des Fremden bedeutete.

Jemand flößte mir vorsichtig Wasser ein, und ich trank. Jemand gab mir eine Suppe, fütterte mich wie ein kleines Kind, und ich aß. Meine Kräfte erstarkten, und als ich aus der großen Finsternis zurückkehrte, war da dieses andere Gesicht. Ebenfalls südländisch und von schönem Schnitt, anmutig geradezu. Es gehörte einer Frau, jung noch, fast ein Mädchen. Langes dunkelbraunes Haar umspielte die glatten Wagen, wenn die schöne Unbekannte sich über mich beugte, um mir zu trinken und zu essen zu geben. Als ich sie nach ihrem Namen fragte, sah sie mich erstaunt, fast furchtsam an. Hatte sie nicht damit gerechnet, dass ich schon wieder so weit bei Kräften war?

»Meine Schwester heißt Maria«, sagte eine dunkle, volltönende Stimme vom Eingang der Höhle her, in der ich lag.

Draußen musste helllichter Tag sein, denn das hereinfallende Licht blendete mich, und so konnte ich nur eine schemenhafte Gestalt erblicken, die langsam auf mich zutrat. Allmählich schälten sich die Umrisse eines großen, athletischen Mannes heraus, der kniehohe Stiefel über einer roten Hose, ein weißes Hemd und eine rote Weste trug. Um die Hüften hatte er eine blaue Schärpe geschlungen, in der ein Dolch und zwei Pistolen steckten. Jetzt konnte ich auch das Gesicht erkennen. Es war der Mann mit dem spitz zulaufenden Schnauzbart, dessen Augen mich die ganze Zeit verfolgt hatten.

»Ihre … Schwester?«, erwiderte ich überrascht. »Und wer sind Sie?«

Ein spöttisches Grinsen breitete sich unter dem großen Bart aus, während der Mann eine Verbeugung andeutete. »Verzeihen Sie meine schlechten Manieren, Signor Schreiber. Mein Name ist Riccardo Baldanello. Zu Ihren Diensten.«

»Woher kennen Sie meinen Namen?«

»Ich habe mir erlaubt, in der Zeit Ihres, hm, Schlafes Ihre Papiere zu lesen. Sie scheinen in einer sehr ungewöhnlichen Mission zu reisen. Unterwegs zu einem Auftraggeber, den Sie selbst nicht kennen. Ist es nicht so?«

»Wenn Sie meine Papiere gelesen haben, wissen Sie, dass es sich so verhält«, versetzte ich barsch. Ich dachte wieder an die umgestürzte Kutsche und an den toten Peppo, was mich mit Zorn erfüllte. »Weshalb haben Sie meine Kutsche überfallen?«

»Das ist mein Geschäft«, bekannte Riccardo Baldanello freimütig. »Meine Leute und ich leben von dem Wegzoll, den wir von den Durchreisenden kassieren.«

»Und wer sich nicht abkassieren lässt, den töten Sie!«, stieß ich verächtlich hervor.

»Falls Sie auf Ihren Kutscher anspielen, Signor Schreiber, der ist nicht ganz unschuldig an seinem Los. Hätte er auf uns gehört und sein Gefährt angehalten, wäre ihm nichts zugestoßen, und auch Ihnen wären einige Blessuren erspart geblieben. Aber der dumme Kerl wollte fliehen und trieb seine Pferde an, worauf die Kutsche umstürzte.«

»So ist Peppo Ihrer Meinung nach selbst schuld an seinem Tod?«

»Sie sagen es.«

Zornerfüllt spie ich vor diesem Baldanello aus. »Bandito!«

Ungerührt betrachtete er sein Knie, wo mein Auswurf ihn getroffen hatte. »Da Sie meinen Beruf kennen, Signor Schreiber, würde ich gern den Ihren erfahren. Was muss ein Mann können, damit man ihm ein so verlockendes und zugleich mysteriöses Angebot unterbreitet?« Während er sprach, zog er ein Papier unter der Weste hervor, und ich erkannte den anonymen Brief, der mich in dieses Abenteuer gestürzt hatte.

»Ich forsche nach Altertümern.«

» Come?«, fragte Baldanello. »Wie?«

»Ist mein Italienisch so schlecht? Ich habe mich den Altertumswissenschaften verschrieben.«

»Was will man hier von Ihnen? Sollen Sie die Überreste unserer römischen Vorfahren ausgraben?«

»Das werde ich wohl erst in Erfahrung bringen, wenn ich meinen Auftraggeber treffe. Jetzt, wo Peppo tot ist, weiß ich allerdings nicht, wie ich das anstellen soll.«

Die Unterhaltung zerrte zunehmend an meinen Kräften, und ein dumpfer Schmerz, der die ganze Zeit über meinen Kopf gepeinigt hatte, wurde von Minute zu Minute stärker. Plötzlich verwandelte er sich in ein scharfes Stechen. Ich verzog das Gesicht und stöhnte auf.

»Wir sollten uns später weiter unterhalten, Signore«, sagte Baldanello in einem Tonfall, als befänden wir uns aus gesellschaftlichem Anlass in einem feinen Salon. »In der Zwischenzeit wird meine Schwester dafür sorgen, dass es Ihnen bald besser geht.«

Während er sich zum Gehen wandte, löste die schöne junge Frau vorsichtig den Verband um meinen Kopf, der an der Stirnseite blutgetränkt war. Sie säuberte meine Wunde so sanft, wie es ihren zarten Händen möglich war, und griff dann zu einer Tonschale, um eine grüngelbe Paste auf meine Stirn zu streichen.

»Was ist das?«, fragte ich misstrauisch.

»Ein gutes Mittel zum Heilen von Wunden«, antwortete Maria und blickte mich offen an. »Schon meine Großmutter hat es oft angewandt.«

»Kein Wunder bei solchem Banditengezücht!«

Als ein Schatten sich auf Marias Gesicht legte, bereute ich meine harten Worte.

Ich hatte zwei Kopfverletzungen. Eine in Form einer großen Beule am Hinterkopf, wo mich der Kolbenhieb einer Muskete getroffen hatte. Die zweite Verletzung war die klaffende Wunde an der Stirn, die ich mir beim Umstürzen der Kutsche zugezogen hatte. Wenn Maria auch nicht in den medizinischen Künsten geschult war, so kümmerte sie sich doch sehr sachkundig um mich. Als Schwester eines Banditenführers hatte sie wohl gelernt, wie man Wunden versorgte.

Aber Banditenschwester oder nicht, Maria gefiel mir, und ich versuchte, mich mit ihr zu unterhalten. Anfangs war sie sehr einsilbig, besonders wenn ich das Gespräch auf ihren Bruder und seine Räuberbande brachte. Doch wenn es um meine Heimat und um mein Leben ging, leuchteten ihre Augen wissbegierig auf, stellte sie Fragen über Fragen, als sei ihr das Leben hier in Norditalien nicht genug. Hin und wieder lachten wir, wenn mein nicht ganz perfektes Italienisch oder Marias Unkenntnis zu kuriosen Missverständnissen führte, und ich vergaß fast, dass ich ein Gefangener war.

Ich erfuhr, dass sich der Überfall bereits am Vortag ereignet hatte und dass ich lange Zeit ohne Bewusstsein zugebracht hatte.

Aber es ging mir zusehends besser, und ich verbrachte eine verhältnismäßig ruhige zweite Nacht im Lager der Banditen.

Gedanken an Flucht tauchten auf, aber ich verwarf sie schnell.

Riccardo Baldanello hatte eine ständige bewaffnete Wache am Eingang der Höhle postiert. Der Wächter hätte mich vermutlich niedergeschossen, bevor ich überhaupt in seine Nähe gelangt wäre.

Als Maria gegen Mittag in die Höhle trat, erwartete ich, sie würde mir etwas zu essen bringen. Doch sie kam mit leeren Händen und sagte: »Riccardo meint, Sie sollen draußen mit uns essen. Frische Luft und etwas Bewegung tun Ihnen gut, sagt er.«

»Da mag Ihr Bruder Recht haben«, stimmte ich zu und wollte mich erheben.

Ein leichter Schwindel erfasste mich, und Schweiß bedeckte meine Stirn. Als ich wankte, sprang Maria schnell hinzu und ergriff meinen rechten Arm. Ich atmete tief durch, und bald ging es mir besser. Von Maria gestützt, verließ ich die Höhle, begleitet von einem verächtlichen Blick des Wachtpostens.

Draußen blieb ich stehen und blinzelte in das Mittagslicht, bis ich mich an die Helligkeit gewöhnt hatte. Tief sog ich die klare und zugleich würzige Luft ein, während ich in die Runde blickte. Das Banditenlager befand sich in einem kleinen Tal, das ringsum von größtenteils bewaldeten Anhöhen umgeben war.

Nur ein einziger schmaler Weg schien aus dem Tal zu führen, und an ihm hockte ein weiterer bewaffneter Wächter auf einer felsigen Anhöhe, die ihm offenbar einen guten Überblick gewährte. Im Tal standen mehrere windschiefe Hütten, hastig und ohne Aussicht auf einen längeren Bestand errichtet. Ein paar Ziegen streunten zwischen den Hütten umher, und eine kleine Quelle am Rand der Lichtung spendete ausreichend Wasser. Riccardo Baldanello hatte für seine Bande, die ich auf zehn bis zwölf Mann schätzte, einen idealen Unterschlupf gefunden. Der Banditenführer saß mit einem Großteil seiner Leute um ein großes Feuer, über dem ein kupferner Kessel hing.

Als er uns erblickte, winkte er. Wir traten näher, und Maria ließ sich an seiner Seite auf einem umgestürzten Baumstamm nieder.

Ich nahm neben ihr Platz. Riccardo reichte mir einen Tonkrug, und ich trank etwas von dem frischen Quellwasser. »Wie fühlen Sie sich, Signor Schreiber?«, fragte er.

»Schon besser als gestern. Ihre Schwester hat sich vorbildlich um mich gekümmert.«

»Das will ich hoffen«, sagte Riccardo mit gespielter Strenge, während er zugleich Maria mit einem Lächeln bedachte. »Wir müssen noch etwas warten, bis die Suppe heiß ist. Vielleicht haben Sie jetzt Lust, unsere Unterhaltung von gestern fortzusetzen?«

»Sie sind ein seltsamer Mann, Signor Baldanello«, erwiderte ich. »Erst verschleppen Sie mich und töten dabei meinen Kutscher, und jetzt fragen Sie so höflich, als wären wir nicht irgendwo in der Einöde, sondern mitten in der Zivilisation.

Überhaupt sprechen Sie nicht so, wie ich es vom Anführer einer Räuberhorde erwartet hätte.«

Riccardo grinste von einer Bartspitze zur anderen. »Ich hoffe, Sie entschuldigen meinen gewählten Umgangston, aber ich habe mich nicht zeitlebens hier in den Bergen herumgetrieben, um Reisenden aufzulauern.«

»Und weshalb tun Sie es jetzt?«

»Weil mein Magen knurrt. Und der meiner Schwester und meiner Männer auch. Wir leben nicht gerade in einfachen Zeiten.«

Ich nickte und hätte gern mehr über das Schicksal Riccardos, besonders aber Marias erfahren. Doch die Situation erschien mir nicht angemessen. Deshalb fragte ich einfach nur, wie es mit mir weitergehen solle.

»Sie werden noch einige Zeit unser Gast bleiben, Signor Schreiber«, erklärte Riccardo. »Bis wir Ihren sonderbaren Auftraggeber ausfindig gemacht haben und er uns für unsere Aufwendungen entschädigt hat.«

»Für Ihre Aufwendungen?«, wiederholte ich langsam, jede Silbe betonend. »Wie soll ich das verstehen?«

Er zeigte mit theatralischer Geste erst auf den Kupferkessel über dem Feuer und dann zu der Höhle, aus der ich gekommen war. »Signore, Sie essen und trinken bei uns, Sie schlafen bei uns. Zudem hatten wir einige Mühe, Sie herzuschaffen. Halten Sie es nicht für angemessen, dass Ihr offenbar äußerst wohlhabender Auftraggeber uns dafür entschädigt? Ihm scheint sehr viel an Ihnen gelegen zu sein. Da wird er sich gewiss nicht lumpen lassen, wenn es gilt, Sie unbeschadet zurückzuerhalten.«

»Sie wollen Lösegeld erpressen!«

»Das ist ein hartes Wort. Ich bevorzuge den Ausdruck Aufwandsentschädigung.«

»Wie Sie es bezeichnen, bleibt sich gleich! Und überhaupt, wie wollen Sie meinen Auftraggeber ausfindig machen, wenn nicht einmal ich ihn kenne?«

»Die Umstände sprechen dafür, dass Sie fast am Ziel Ihrer Reise sind, Signor Schreiber. Der Kutscher, der Sie abgeholt hat, sollte Sie wohl zu Ihrem Auftraggeber bringen. Der muss also irgendwo hier in der Nähe zu finden sein. Ich habe einen Teil meiner Leute ausgeschickt, um ihn aufzuspüren. In wenigen Tagen dürften wir mehr wissen.«

Obwohl ich Marias Gesellschaft als überaus angenehm empfand, erfüllte mich die Aussicht, auf unbestimmte Zeit der Gefangene dieser Banditen zu sein, mit Abscheu. Riccardo mochte zu mir sprechen wie zu einem Gast, aber ich war nicht freier als ein Vogel in seinem Käfig. Ich suchte Blickkontakt zu Maria, wollte herausfinden, ob sie das Vorgehen ihres Bruders billigte, aber sie blickte fast krampfhaft zu Boden.

»Sie sind ein Lump, Riccardo!«, rief ich und sprang von dem Baumstamm auf. »Trotz Ihrer gewählten Worte sind Sie ein ebenso dreckiger und gemeiner Lump wie jeder Ihrer Männer!«

Ein Bandit, der mir gegenübergesessen hatte, sprang ebenfalls auf und sagte wütend: »Müssen wir uns das von diesem feinen Pinkel gefallen lassen, Riccardo? Er beleidigt uns und unsere Ehre!« Der große, muskulöse Mann, dessen Gesicht unter dem wuchernden Vollbart fast verschwand, trug ebenfalls eine Schärpe um den Leib, und darin steckten genug Hieb- und Schusswaffen, um einen ganzen Trupp auszurüsten.

Riccardo blieb ruhig sitzen. Sein Blick wanderte zwischen mir und dem schwer bewaffneten Banditen, der seine großen Hände zu Fäusten geballt hatte, hin und her. »Mit Gästen soll man höflich umgehen, aber Gäste haben auch die Pflicht, sich rücksichtsvoll zu verhalten. Du hast Recht, Rinaldo, unser Gast hat gegen diese Pflicht verstoßen. Meinetwegen erinnere ihn daran. Aber du solltest vorher deine Schärpe leeren.«

»Sehr gern!« Mit einem breiten Grinsen legte Rinaldo seine Waffen ab und trat dann langsam auf mich zu. Maria sah mich an und warf dann ihrem Bruder einen flehenden Blick zu, der aber schüttelte den Kopf. In Rinaldos stechendem Blick lag nicht der geringste Zweifel daran, dass er mir – mit oder ohne Waffen eine fürchterliche Lektion erteilen würde. Er grinste wie ein Kind, das sich auf das Gelingen eines besonders hinterhältigen Streiches freut, während er immer näher kam. Ich machte eilig ein paar Schritte vom Feuer weg.

»Was soll das, Feigling?«, rief Rinaldo. »Willst du vor dem Kampf fliehen?«

»Nein, aber ich will vermeiden, dass du in die Suppe fällst.

Zu viel fettes Fleisch zu Mittag macht deine Kumpane nur träge.«

Das brüllende Gelächter der anderen ließ Rinaldo erröten, soweit das unter seinem Bartgestrüpp zu erkennen war. »Wenn ich dich erst in den Fingern habe, wird dir die Lust zu weiteren Scherzen schnell vergehen!«, knurrte er und setzte mir im Laufschritt nach. Er war jetzt weniger achtsam als zuvor, und genau darauf hatte ich gehofft. Ich tat so, als wolle ich dem Angriff standhalten, wich aber im letzten Augenblick zur Seite aus und ließ nur ein Bein ausgestreckt, über das mein Gegner stolperte. Er taumelte und schlug wenig elegant auf dem Boden auf, was bei seinen Kumpanen zu neuerlichem Gelächter führte.

Kurz sah ich Maria an und bemerkte, dass sie mich mit bangem Blick beobachtete. War es die bloße Sorge um ihren Patienten, oder bedeutete ich ihr mehr? Rinaldo kam schnaufend auf die Beine, klopfte den Staub aus seinen Kleidern und dröhnte: »Willst du nicht kämpfen, Hund? Kannst du nichts anderes als davonlaufen?«

»Das muss ich gar nicht, du stolperst ja über deine eigenen Füße!«

Meine Provokation verleitete ihn zu einem neuen wütenden Angriff. Ich wollte zwei Schritte zurückweichen, um mehr Raum zum Manövrieren zu haben. Jetzt aber war es an mir, zu stolpern. Mit den Hacken verfing ich mich in einer abgestorbenen Baumwurzel, die ausgerechnet hier aufragte. Ich fiel rücklings zu Boden, und der Aufprall raubte mir für ein paar Sekunden den Atem. Wieder hörte ich raues Gelächter, und diesmal galt es unzweifelhaft mir.

Rinaldo stand über mir und hielt einen kopfgroßen Stein in den Händen. Er grinste und hob die Arme, um den Stein mit möglichst großer Wucht auf mich zu werfen. Ich wollte mich zur Seite wegrollen, war aber noch von dem Sturz gelähmt.

Schon sah ich meinen Schädel unter dem Aufprall zerquetscht, da taumelte Rinaldo auf einmal. Fast gleichzeitig hörte ich lautes Krachen wie von einem aus heiterem Himmel hereingebrochenen Gewitter. Schreie mischten sich in den Lärm.

Rinaldo wankte und stürzte dicht neben mir zu Boden. Der Stein rollte aus seinen kraftlosen Händen. Rinaldo hatte nur noch ein Auge und ein Ohr. Seine linke Kopfhälfte war ein Brei aus Blut, Knochensplittern und freigelegtem Gehirn. Um mich herum war ein Chaos ausgebrochen. Die Banditen liefen vom Feuer weg, ohne sonderlich weit zu kommen. Immer wieder krachten die Schüsse – nichts anderes war der unaufhörliche Donner –, und ein Gesetzloser nach dem anderen brach getroffen zusammen.

Von den bewaldeten Hügeln liefen uniformierte Männer herbei, und neben mich kniete sich ein Offizier. Er trug eine französische Uniform und sagte auf Französisch: »Monsieur Schreiber? Bon, Hauptmann Jacques Lenoir, zu Ihren Diensten.«

Er half mir auf, und ich sah, dass es mit den Banditen zu Ende ging. Sie starben unter Musketenkugeln und Bajonettstichen, wenn sie nicht schon reglose Haufen verblutenden Fleisches waren. Im Schatten einer Hütte kauerten Arm in Arm Maria und ihr Bruder, von mehreren Bajonetten bedroht. Riccardo blutete aus zwei oder drei Wunden, und eine blutige Furche zog sich quer über seine Stirn.

»Halt!«, schrie ich, und Marias Anblick erfüllte meine Stimme mit Panik. »Die beiden sind meine Diener!«

Ein Wink des Hauptmanns, und die Soldaten ließen ihre Bajonette sinken. Maria sah mich dankbar an, aber Riccardos Blick konnte ich nicht deuten. Gab er mir die Schuld am Tod seiner Männer? Ich blickte um mich und fand keinen einzigen Banditen, der noch kampffähig war. Einige waren noch am Leben, aber die Bajonette der französischen Soldaten änderten das schnell. Entsetzt wandte ich mich an den Hauptmann und fragte ihn, warum die hilflosen Verwundeten getötet wurden.

Lenoir sah mich verständnislos an. »Aber es sind doch nur Banditen!«