11
Rom, Sonnabend, 26. September
Oberhalb der Wolken hatte das strahlende Licht der Mittagssonne die Maschine der Alitalia überflutet, unten auf dem Boden aber sah es grau und trüb aus. Ein Wetter, das zu Enricos Stimmung passte, die noch bedrückter wurde, je näher er seinem Ziel und der Begegnung mit Alexander Rosin kam.
Sollte er diesen ehemaligen Schweizergardisten als seinen Rivalen bezeichnen? Wohl kaum, denn das hätte vorausgesetzt, dass Enrico sich Chancen bei Elena ausrechnete. Nach allem, was sie ihm gestern Abend gesagt hatte, sah er aber nicht die geringste Chance, sie für sich zu gewinnen. Nachdem er endlich seine Reisetasche, die als letztes Gepäckstück über das Laufband kam, an sich genommen hatte, verließ er die Ankunftshalle des weitläufigen Flughafens Leonardo da Vinci, der dreißig Kilometer südwestlich von Rom lag, und steuerte auf die Schlange der wartenden Taxis zu. Natürlich hätte er die Strecke von Pescia nach Rom bequem mit dem Auto zurücklegen können. Aber wenn schon der »Messaggero di Roma«, eine der bedeutendsten italienischen Tageszeitungen, seine Reise bezahlte, wollte er es so komfortabel wie möglich haben. Deshalb hatte er auch auf einem Platz in der Businessclass bestanden. Gestern Abend im Hotel und eben im Flugzeug hatte er sich das vierte und vorletzte Kapitel von Fabius Lorenz Schreibers Reisetagebuch vorgenommen. Im Taxi nach Rom dachte er über das Gelesene nach. Die Gegend rund um die Autobahn war nicht dazu angetan, seine Aufmerksamkeit zu fesseln ganz im Gegensatz zu dem alten Reisebericht. Er brannte schon darauf, sich das letzte Kapitel vorzunehmen. Enrico dachte daran, wie Fabius Lorenz Schreiber mit Maria Baldanellos unfreiwilliger Hilfe die alte Etruskerstadt entdeckt hatte. Die Totenstadt, in der Angelo lebte, kam ihm in den Sinn. War es derselbe Ort? Wohl kaum, wenn Fabius Lorenz Schreiber kein ganz schlechter Archäologe gewesen war, sprach er doch ausdrücklich von einer Stadt und nicht von einer Nekropole. Vermutlich hing beides zusammen. Die Etrusker, die einst dort gesiedelt hatten, mussten in der Nähe ihrer Stadt die Toten bestattet haben. War es Zufall, dass Fabius Lorenz Schreiber von Elisa Bonaparte auf die Suche nach der Etruskerstadt geschickt worden war und dass Enrico zweihundert Jahre später auf die Gräber des alten Volkes stieß?
Er mochte das nicht glauben, aber noch fehlten in dem Puzzle zu viele Stücke, um ein klares Bild zu gewinnen.
Während das Taxi sich über Autobahn und Schnellstraßen Rom näherte, beschlich Enrico das Gefühl, einen Fehler zu begehen. Sollte er die Klärung des Geheimnisses, das ihn umhüllte wie ein dichter Nebelschleier, nicht eher in dem kleinen Borgo San Pietro suchen als in Rom? Mit jedem Kilometer entfernte er sich von dem Ort, dem, wie ihm sein Gefühl sagte, sein Interesse eigentlich gelten sollte. Fast war er versucht, den Taxifahrer zur Umkehr aufzufordern und den nächsten Flug zurück nach Pisa zu nehmen. Aber dann dachte er an jenen Kardinal Salvati, den die Gegenkirche zu ihrem Papst gewählt hatte. Auch er stammte, wie Enricos Mutter, aus Borgo San Pietro. Ein Zufall mehr, oder gab es da eine Verbindung?
Jedenfalls war Elena damit beschäftigt, über den Gegenpapst zu recherchieren, und Rom mit dem Vatikan war das Zentrum der katholischen Kirche. Vielleicht lohnt der Umweg doch, dachte Enrico, lehnte sich im Sitzpolster zurück und versuchte, sich zu entspannen.
Er hatte Elena gefragt, weshalb Alexander Rosin nicht nach Pescia kommen könne. Sie hatte ihm etwas von wichtigen Ermittlungen über zwei Priestermorde erzählt, die sich in Rom und in den Albaner Bergen ereignet hatten. Nur kurze Zeit später war in der Toskana ein Priester zum Mörder und zum Selbstmörder geworden. Noch ein seltsamer Zufall mehr wenn es denn einer war. Vor Enrico wuchs die Silhouette Roms aus dem grauen Dunst, aber er schloss die Augen und erinnerte sich an einen Satz, den er bei Friedrich Hebbel gelesen hatte: »Der Zufall ist ein Rätsel, welches das Schicksal dem Menschen aufgibt.« Enrico war fest entschlossen, dieses Rätsel zu lösen.
Als er die Augen wieder aufschlug, fuhr das Taxi durch einen hässlichen, von genormten Wohnblöcken geprägten Vorort, dessen Tristesse kaum wetterbedingt war. Wenn Enrico früher an Rom gedacht hatte, hatte er andere Bilder vor Augen gehabt: den Petersplatz und die Engelsburg, das Kolosseum und den Trevi-Brunnen, Audrey Hepburn und Gregory Peck auf einem Motorroller. Er lächelte über seine eigene Vorstellung. Obwohl zu hundert Prozent italienisches Blut in seinen Adern floss, war er nie in Rom gewesen, kannte er die Stadt lediglich aus Filmen und von Kalenderblättern. Zu Beginn des dritten Jahrtausends, in einer rasend schnell zusammenwachsenden und aus den Fugen geratenden Welt, konnte er kaum erwarten, das Postkartenrom aus Touristenträumen vorzufinden.
Aber plötzlich änderte sich das Bild. Das Taxi fuhr durch Straßen, die von eindrucksvollen alten Palazzi gesäumt wurden, hin und wieder wie selbstverständlich unterbrochen von antiken Ruinen. Jetzt hatte Enrico das Gefühl, wirklich in Rom zu sein.
Der chaotische Autoverkehr tat ein Übriges, ihn davon zu überzeugen, dass er sich im Zentrum einer anderen Kultur befand. Während Enrico mehr als einmal den rechten Fuß auf ein imaginäres Bremspedal presste, verschaffte sich der Taxifahrer mit aggressivem Hupen und einem noch aggressiveren Fahrstil freie Bahn.
Das Haus in der Via Catalana, in dem Alexander Rosin wohnte, war schmal und von außen eher schmucklos. Die beiden Palazzi, die es rechts und links flankierten, schienen es fast zu erdrücken. Enrico zahlte dem Taxifahrer den recht stolzen Fahrpreis und ließ sich eine Quittung für den »Messaggero«
geben. Schon nach dem ersten Klingeln ertönte der Türsummer.
Seine Reisetasche in der Linken, trat Enrico in den Hausflur und suchte vergebens nach einem Lift. Wahrscheinlich war das Gebäude für einen solchen einfach zu schmal. Seufzend stieg er die enge Treppe hoch, und seine Füße fühlten sich auf einmal sehr schwer an. Das lag nicht an der Treppe, sondern an dem Gedanken, oben im dritten Stock Alexander Rosin zu begegnen.
Vor dessen Wohnungstür holte er noch einmal tief Luft, und er wollte gerade auf den Klingelknopf drücken, da wurde die Tür geöffnet. Als Enrico den hoch gewachsenen Mann mit dem markanten Kinn, dem rotbraunen, leicht lockigen Haar und den ausdrucksstarken Augen sah, konnte er sich gut vorstellen, dass Elena sich in ihn verliebt hatte. Leider. Der andere lächelte und sagte auf Deutsch: »Willkommen in Rom, Herr Schreiber! Ich bin Alexander Rosin. Treten Sie ein! Ich mache uns erst mal einen Kaffee. Der wird Ihnen nach der langen Reise gut tun.«
Und sympathisch war er auch noch!
Enrico folgte Rosin in eine kleine, behagliche Küche, wo er seine Reisetasche abstellte. Rosin machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen, drehte sich dann zu ihm um und sagte: »Wir kennen uns zwar kaum, aber Elena hat mir so viel von Ihnen erzählt, dass ich vorschlage, wir duzen uns.«
»Ja, sicher«, kam es zögernd von Enrico, der sich von dieser Charmeoffensive überrollt fühlte. Hatte Elena ihrem Freund etwa aufgetragen, besonders nett zu ihm zu sein?
»Willst du mir von deinen Erlebnissen in der Toskana erzählen, während wir auf den Kaffee warten, Enrico?«
»Deshalb bin ich hier. Aber du wirst vieles schon von Elena wissen. Besser, du fragst mich, was dich interessiert.«
»Einverstanden«, sagte Alexander und begann mit seinen Fragen, die sich vorwiegend um Enricos Erlebnisse während Elenas Bewusstlosigkeit drehten. Besonders interessiert war der Exgardist an dem Einsiedler und seinen heilenden Kräften. Als Alexander den Kaffee eingoss, stellte Enrico eine Gegenfrage:
»Sind die ungewöhnlichen Fähigkeiten des Einsiedlers mit denen des Papstes zu vergleichen?«
»Im Ergebnis mit Sicherheit«, antwortete Alexander und setzte sich wieder an den kleinen Küchentisch. »Interessanter finde ich die Frage, woher dieser Angelo seine heilende Gabe hat.« Enrico schüttelte leicht den Kopf.
»Was hast du?«, fragte sein Gegenüber.
»Wir sind zwei erwachsene Männer, nicht gerade mit Dummheit gesegnet, und hier sitzen wir und unterhalten uns über mysteriöse heilende Kräfte so selbstverständlich wie über das Wetter.«
»Du hast doch selbst erlebt, wie der Einsiedler mit seinen Kräften Elena gerettet hat. Worüber ich verdammt froh bin! Und ich war Zeuge, wie der Papst einer gelähmten Frau aus dem Rollstuhl half.«
»Stammt Papst Custos wirklich von Jesus ab?«, fragte Enrico zweifelnd.
»Ich glaube ihm das. Warum sollte er lügen?«
»Vielleicht, um ein besonders glaubwürdiger Papst zu sein.«
»Du bist aber sehr misstrauisch, Enrico!«
»Ich bin Jurist und damit gewohnt, sowohl von Prozessgegnern wie auch von den eigenen Mandanten mit Lügen gefüttert zu werden.«
»Ich habe Papst Custos als klugen und ehrenwerten Mann kennen gelernt. Er hat mir nie einen Grund gegeben, an ihm zu zweifeln. Sprechen wir lieber von den Ereignissen in Borgo San Pietro und Pescia. Auch du sollst über die heilende Kraft verfügen.«
»So hat es Angelo gesagt.«
Enrico betrachtete seine Hände. Die roten Flecken waren fast vollständig verblasst.
»Was ist mit deinen Händen?«
Enrico erzählte ihm von den Flecken, die bei Angelo noch ausgeprägter gewesen waren.
»Wie Wundmale«, meinte Alexander.
»Ja, wie Wundmale«, bestätigte Enrico und dachte zum wiederholten Mal an das Bildnis in der Kirche San Francesco.
»Früher hast du das nicht gehabt?«, setzte Alexander die Fragestunde fort.
»Nein. Und ich hatte auch keine Ahnung, dass ich über irgendwelche heilenden Kräfte verfüge, falls es denn stimmt.«
»Warum sollte der Einsiedler lügen? Elenas Heilung beweist, dass er alles andere ist als ein Scharlatan.«
Alexander bat Enrico, sich Rosalia Baldanellos Zeitungsartikel ansehen zu dürfen. Enrico nahm den Schuhkarton aus seiner Reisetasche und stellte ihn mitten auf den Tisch. Alexander überflog die Artikel und murmelte:
»Seltsam, sehr seltsam. Offenbar hat sich deine Großtante für Päpste interessiert.«
»Besonders für die heilenden Kräfte von Papst Custos«, ergänzte Enrico.
»Aber was hat das alles mit dem Gegenpapst zu tun?«
»Vielleicht gar nichts. Vielleicht hat sie die Berichte über ihn nur gesammelt, weil er aus ihrem Heimatdorf kommt.«
»Dafür interessiert sich eine todkranke Frau?«
»Wenn sie ans Bett gefesselt war, hatte sie kaum was anderes zu tun.«
»Möglich«, sagte Alexander und setzte den Deckel wieder auf den Schuhkarton. »Darf ich das bis morgen behalten und mir Kopien davon machen? Du übernachtest doch in Rom oder?«
Enrico grinste. »Eure Zeitung spendiert mir eine Übernachtung. Ich wohne im Hotel ›Turner‹.«
Alexander stand auf und streckte zur Verabschiedung seine Hand aus. »Dann komme ich morgen Vormittag ins ›Turner‹
und bringe dir den Karton zurück. Sagen wir gegen zehn?«
»Ist mir recht«, erwiderte Enrico, während er aufstand und die Hand ergriff. Er fühlte sich von Alexanders freundlichem Rauswurf etwas überrumpelt.
Alexander schien seinen missmutigen Blick zu bemerken und sagte: »Tut mir Leid, dass ich jetzt keine Zeit mehr habe. Ein dringender Termin. Aber ich rufe dir ein Taxi.«
Das Taxi hielt ein paar Häuser weiter in einer Parklücke, und Enrico verstaute seine Reisetasche im Kofferraum. Als er dem Fahrer das Ziel nennen wollte, klingelte dessen Handy. Ohne Enrico weiter zu beachten, sprach der Fahrer mit einer Frau namens Monica, und sein Lächeln, als er für den Abend eine Verabredung traf, sprach Bände. Enrico übte sich in Geduld und blickte zu dem schmalen Haus, aus dem er vor wenigen Minuten hinauskomplimentiert worden war. Er kam sich ein wenig ausgenutzt vor. Erst hatte er Alexander Rosin geduldig geantwortet, aber selbst war er kaum dazu gekommen, Fragen zu stellen. Er hätte von Alexander gern gehört, was der über Borgo San Pietro und den Einsiedler dachte. Aber irgendwie hatte der Schweizer es verstanden, seine eigenen Erklärungen sehr kurz zu halten. Nun gut, er war Journalist, und das gehörte vermutlich zu seinem Job. Während Enrico das Haus betrachtete, trat Alexander vor die Tür, ging mit schnellen Schritten zu einem am Straßenrand geparkten Wagen und stieg ein. Der hellgrüne Peugeot reihte sich in den fließenden Verkehr ein und fuhr an dem Taxi vorbei, ohne dass Alexander den Insassen einen Blick zuwarf. Er schien es wirklich eilig zu haben.
»Wohin, Signore?«, fragte der Taxifahrer, als er sein Telefonat beendet hatte.
Einer Eingebung folgend, zeigte Enrico auf Alexanders Wagen und sagte: »Folgen Sie dem grünen Peugeot!«
Der Taxifahrer lächelte gequält. »Das höre ich jeden Tag fünfmal. Und wohin möchten Sie wirklich?«
Enrico drückte ihm einen Fünfzigeuroschein in die Hand.
»Folgen Sie dem Wagen!«
Der Fahrer grinste. »Wir sind schon unterwegs.«
»Gut. Achten Sie bitte darauf, dass wir nicht bemerkt werden!«
»Wie im Kino? Ich werd’s versuchen.«
Der Taxifahrer stellte sich tatsächlich sehr geschickt an und hielt sich immer zwei, drei Fahrzeuge hinter dem Peugeot. Es wurde eine lange Fahrt, und nur mit einem Auge nahm Enrico von den römischen Altertümern Notiz, die sich mit moderneren Gebäuden abwechselten. Er musste an Borgo San Pietro denken und daran, wie er und Elena dem Bürgermeister heimlich zur Kirche gefolgt waren. Sie hatten ihn tot aufgefunden. Enrico hoffte, dass dies kein böses Omen für Alexander Rosin war.
Die dichte Bebauung der Stadt nahm ab, immer mehr Grün zeigte sich links und rechts einer geraden Straße, die über zum Teil recht buckeliges Pflaster führte. Platanen überschatteten die Fahrbahn, und große Villen versteckten sich hinter Büschen und Bäumen.
»Wo sind wir hier?«, fragte Enrico.
»Auf der Via Appia«, antwortete der Taxifahrer. »Das sieht nach einer längeren Fahrt aus. Kann sein, dass Sie mit dem Fünfziger nicht hinkommen.«
»Ich zahle den Fahrpreis, egal wie hoch. Und wenn Sie den Peugeot nicht verlieren und wir nicht entdeckt werden, gibt es das Doppelte!«
»Sagen Sie das doch gleich!«, kam es fröhlich vom Fahrer, bevor er zum Funkgerät griff und seiner Zentrale mitteilte, dass er eine längere Fuhre außerhalb der Stadt hatte. Enrico hoffte, die Taxikosten irgendwie dem »Messaggero di Roma«
unterjubeln zu können. Hin und wieder teilte der Fahrer ihm mit, wo sie sich befanden. Bald zeichnete sich ab, dass die Fahrt hinauf in die Berge ging.
»Schöne Orte gibt es da, die einen Besuch lohnen«, erzählte der Fahrer im Ton eines Fremdenführers. »Darunter auch Castel Gandolfo, wo der Papst seinen Sommersitz hat.«
Eine Zeit lang sah es so aus, als sei Castel Gandolfo tatsächlich Alexanders Ziel. Wollte er zum Papst? Aber auf Enricos Nachfrage sagte der Fahrer, der Papst halte sich gegenwärtig im Vatikan auf. »Und da gehört er auch hin in einer stürmischen Zeit wie dieser!«
Als sich die Straße gabelte, fuhr Alexander nicht nach rechts, wo Castel Gandolfo lag. Er wählte den Weg zur Linken, und Enrico las auf den Straßenschildern ihm unbekannte Ortsnamen wie Pascolaro, Monte Crescenzo, Villini und Marino. Aber Alexander blieb auf der Schnellstraße, die kleinen Ortschaften schienen ihn nicht zu interessieren. Erst bei Marino bog er ab, und das Taxi folgte ihm auch hier. Der Ort schien Alexanders Ziel zu sein.
»Was wissen Sie über dieses Marino?«, fragte Enrico.
»Nicht viel«, gestand der Taxifahrer. »In Rom kenne ich mich besser aus. In Marino stellen sie einen guten, schweren Weißwein her. Übernächsten Sonntag ist dort Weinfest. Wenn Sie noch etwas länger in Rom sind, können Sie dann aus dem Brunnen auf der großen Piazza den Wein trinken. Vielleicht komme ich auch.«
Das war nicht die Auskunft, die Enrico sich erhofft hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Alexander es wegen einer Weinprobe so eilig hatte. Jedenfalls war der Ort, der größer war, als Enrico erwartet hatte, tatsächlich das Ziel des Schweizers.
Alexander steuerte einen kleinen Parkplatz an und setzte den Blinker.
»Vorbeifahren und woanders halten!«, wies Enrico den Taxifahrer an.
Der warf ihm einen schrägen Blick zu. »Weiß ich doch. Ich gehe oft ins Kino.«
Er hielt in der nächsten Seitenstraße und nannte Enrico den exorbitanten Fahrpreis. »Für Fahrten außerhalb Roms berechne ich einen Zuschlag.«
Mit einem säuerlichen Lächeln bezahlte Enrico und ließ sich eine Quittung ausstellen, während er seine Tasche aus dem Kofferraum holte. Als das Taxi wendete, ging Enrico rasch in Richtung Parkplatz. Wobei er feststellte, dass die Detektive im Film beim Beschatten aus gutem Grund keine schwere Reisetasche mit sich herumschleppten. Er hätte den Taxifahrer gegen ein Aufgeld beauftragen sollen, die Tasche im Hotel
»Turner« abzugeben, aber dazu war es jetzt zu spät. Enrico sah Alexander gerade noch in einer von vielen netten Läden gesäumten Straße verschwinden und ging ihm nach, immer darauf bedacht, sich nicht auffällig zu verhalten. Allerdings konnte er sich mit seiner Tasche auch nicht unsichtbar machen.
Falls Alexander sich überraschend umdrehte, war er aufgeflogen und stand ziemlich blöd da. Überhaupt fragte Enrico sich, ob diese Beschattungsaktion nicht eine Schnapsidee war. Alexander konnte wer weiß warum nach Marino gefahren sein. Vielleicht war er aus ganz privaten Gründen hier. Enrico kam sich zunehmend vor wie ein Idiot, während er dem Schweizer durch den hübschen Ort folgte, der bei besserem Wetter gewiss eine Augenweide für Touristen war. Aber als Alexander auf eine Kirche zuging, änderte Enrico seine Meinung. Erneut musste er an Borgo San Pietro denken, und ein mulmiges Gefühl, eine Vorahnung von Gefahr, ergriff von ihm Besitz. Alexander blieb an einer Straßenecke stehen und blickte in Richtung Kirche. Der Schweizer schien bemüht, sich nicht zu offen zu zeigen. Enrico hatte plötzlich den Eindruck, der Beschatter eines Beschatters zu sein. Alexander setzte sich wieder in Bewegung und ging mit schnellen Schritten auf die Kirche zu. Er öffnete eine Tür und verschwand im Innern des Gotteshauses. Enrico blieb keine Wahl, als ihm zu folgen. Wenn er hier draußen wartete, würde er wohl kaum erfahren, was Alexander hergeführt hatte.
In der Kirche war es sehr dunkel. Enricos Augen mussten sich erst an das Zwielicht gewöhnen. Soweit er erkennen konnte, war er allein hier. Er hatte keine Ahnung, wo Alexander sich verborgen hielt. Während sein Blick noch suchend über das Kirchenschiff mit den langen Bankreihen glitt, hörte er ein seltsames Geräusch – wie ein Schrei, der abbrach, bevor er noch richtig ausgestoßen werden konnte. Wieder musste er an Bürgermeister Cavara denken, der tot in der Küche von Don Umiliani gelegen hatte, und vor seinem geistigen Auge verwandelte der Tote sich in Alexander Rosin. Hastig stellte Enrico seine Tasche neben einen Holztisch mit Informationsbroschüren und eilte durch das Kirchenschiff, auf der Suche nach der Person, die vergebens zu schreien versucht hatte. Ein Lichtschein, der von rechts in die Kirche fiel, ließ ihn anhalten. Dort stand eine Tür neben dem Beichtstuhl offen. In dem Gang dahinter brannte das elektrische Licht, das Enricos Aufmerksamkeit erweckt hatte. Es gab weitere Türen zu beiden Seiten, aber diese hier stand als einzige offen. Enrico lief zu ihr und wollte den Flur betreten, als ihn ein schreckliches Dejàvu-Erlebnis erstarren ließ. Fassungslos blickte er in den Gang und sah seine schlimmsten Ahnungen bestätigt. Wie vor ein paar Tagen in der Küche hinter der Kirche von Borgo San Pietro sah er sich einer reglosen Gestalt gegenüber, die auf dem Boden lag, wahrscheinlich einem Toten. Die klaffende Halswunde, aus der das Blut in rasch aufeinander folgenden Schüben hervorquoll, verhieß wenig Hoffnung.
Er überwand die Starre und trat auf den am Boden Liegenden zu. Es war nicht Alexander Rosin, sondern ein grauhaariger Mittfünfziger im schwarzen Anzug eines Priesters. Der ehemals weiße Römerkragen war von Blut getränkt. Der Geistliche lag in verrenkter Haltung auf dem Rücken, das Gesicht vor Furcht, Überraschung oder Schmerz verzerrt. Enrico kniete sich neben ihn und konnte weder Atmung noch Puls feststellen. Der Körper war noch warm, und es gab keine Anzeichen einer Leichenstarre. Enrico hatte keinen Zweifel, dass der Mord gerade erst verübt worden und er Ohrenzeuge der Tat geworden war. Er zog sein Handy aus der Jackentasche und musste sich angesichts des Toten konzentrieren, um sich an die Notrufnummer der italienischen Polizei zu erinnern. Er hatte sich die Nummer der Carabinieri gemerkt, weil sie dem Notruf der deutschen Feuerwehr entsprach: eins-eins-zwei. Gerade wollte er die Ziffern eintippen, als ihn Schritte ganz in seiner Nähe aufschreckten. Sie kamen aus dem Kirchenschiff. Enrico schalt sich einen Narren. Wenn der Mord gerade erst verübt worden war, musste der Mörder natürlich noch in der Nähe sein.
Wie hatte er nur so dumm sein können, das außer Acht zu lassen? Zu erklären war das nur mit dem Schock, den ihm der Anblick des toten Geistlichen versetzt hatte. Er sprang auf, lief zur offenen Tür und spähte ins Kirchenschiff. Hinter dem Beichtstuhl nahm er eine Bewegung wahr, und er hörte erneut Schritte. Jemand, den er im Zwielicht nicht genauer erkennen konnte, lief auf den Ausgang zu. In der Schule und beim Sport an der Uni war Enrico ein hervorragender Sprinter gewesen. Das kam ihm zugute, als er dem Flüchtenden nachsetzte. Das letzte Stück überwand er mit einem Sprung in den Rücken des anderen. Mit dem Verfolgten ging er zu Boden, und er wunderte sich über die vielen Haare in seinem Gesicht.
Bedauerlicherweise hatte er keine Waffe. Der Mörder dagegen musste ein scharfes – tödliches – Messer bei sich tragen. Enrico ballte die Rechte, um den Mann mit einem schnellen Fausthieb außer Gefecht zu setzen. Im letzten Augenblick hielt er inne als er in das Gesicht des mutmaßlichen Mörders sah. Es war das Gesicht einer Frau. Ein schönes Gesicht, das von langem, rötlich schimmerndem Haar umspielt wurde. In den weit aufgerissenen grünen Augen der Frau spiegelte sich Furcht, als sie mit sich überschlagender Stimme keuchte: »Bitte, töten Sie mich nicht! Ein Mord ist doch genug!«
Die Worte verwirrten Enrico. Die Frau hielt ihn für den Mörder!
»Wer sind Sie?«, fragte er stockend.
Die Antwort kam nicht von der Frau, sondern von jemandem hinter Enricos Rücken. »Das ist Dr. Vanessa Falk. Sie hat eine unbestreitbare Vorliebe für Treffen mit toten Priestern.«
Alexander Rosin kam mit schnellen Schritten herbei. Enrico registrierte mit einer gewissen Erleichterung, dass der Schweizer kein blutiges Messer in der Hand hielt. Andererseits konnte Alexander, wenn er der Mörder war, sich längst der Tatwaffe entledigt haben.
»Rosin!«, stieß die Frau hervor, und zu Enricos Erstaunen sprach sie Deutsch. »Wie kommen Sie hierher?«
»Diese Frage wollte ich eigentlich meinem neuen Bekannten stellen«, sagte Alexander, ebenfalls auf Deutsch, und blickte Enrico an.
»Ich bin dir gefolgt«, erklärte Enrico. »Du hattest es nach unserem Treffen so eilig, dass ich neugierig geworden war.«
Die Frau sah Alexander an und sagte vorwurfsvoll: »Sie haben mich verfolgt!«
Ein weiterer Mann trat aus dem Gang, in dem der Tote lag.
Er hatte graues Haar und bewegte sich seltsam, als sei er gehbehindert. »Wir beide haben Sie verfolgt, Dottoressa, und das mit gutem Grund, wie man jetzt sieht.« Er wandte sich an Alexander und fuhr fort: »Die Kollegen sind verständigt und der Notarzt auch, sicherheitshalber.«
»Du meinst, der Priester könnte noch leben?«
»Wohl kaum. Aber das ist kein Grund, die Vorschriften zu missachten.«
»Ich verstehe nicht ganz«, sagte Enrico und sah den Grauhaarigen an. »Wer sind Sie? Und wer ist der Mörder?«
»Letzteres wüsste ich auch gern. Zu Ihrer ersten Frage: Commissario Stelvio Donati von der römischen Polizei.«
Eine Viertelstunde später sah Enrico allmählich klarer. Er hatte sich vorhin nicht getäuscht, als ihm der seltsame Gedanke gekommen war, der Beschatter eines Beschatters zu sein.
Alexander Rosin arbeitete mit dem Commissario namens Donati zusammen, und die beiden hatten von einem Treffen zwischen der rothaarigen Frau, jener Dr. Vanessa Falk, und dem Ermordeten gewusst. Dieser hieß Leone Carlini und war der Pfarrer in dieser Kirche – gewesen. Während Enrico mit der Frau, Alexander und dem Commissario in einem schmucklosen Zimmer der örtlichen Polizeistation saß, erfuhr er mehr über die beiden Priestermorde, zu denen sich jetzt ein dritter gesellt hatte.
Bei dem ermordeten Leone Carlini handelte es sich um den Cousin eines der beiden früheren Opfer. Alexander sah Enrico kopfschüttelnd an. »Ich kann es noch immer nicht fassen, dass du hier Detektiv gespielt hast. Ich hatte mich mit Stelvio in der Kapelle versteckt. Erst hörten wir den unterdrückten Schrei und dann dich mit Dr. Falk ringen. Da haben wir gedacht, die fliehenden Mörder verursachen die Geräusche. Wäre ich nicht zu den Falschen gelaufen, hätte ich die Täter vielleicht erwischt.«
»Tut mir Leid«, seufzte Enrico. »Ich habe Dr. Falk für den Mörder gehalten und sie deshalb verfolgt.«
Vanessa Falk runzelte die Stirn. »Eigentlich sollte ich froh sein, wenn die Männer derart hinter mir her sind. Aber unter diesen Umständen?«
»So kommen wir nicht weiter«, sagte Donati ernst. »Wir sollten uns an die Fakten halten. Dr. Falk, Sie haben sich in dem Beichtstuhl versteckt, bevor Sie vor Signor Schreiber weggelaufen sind. Warum?«
»Ich hatte kurz mit Carlini in seiner Wohnung gesprochen dann ging er in die Kirche, um irgendetwas wegzuschließen. Er wollte in zwei Minuten zurück sein. Da hörte ich ein seltsames Geräusch, besagten abgebrochenen Schrei. Ich folgte dem Pfarrer und fand ihn tot vor. In dem Moment hörte ich Schritte.
Ich dachte, das ist der Mörder, und habe mich nach einem Versteck umgesehen.«
»Den Beichtstuhl«, ergänzte Donati. »Ja, den Beichtstuhl.«
»Das ist ja eine richtige Posse wie im Provinztheater«, meinte der Commissario. »Einer verfolgt und verdächtigt den anderen, während der wahre Mörder, wenn es nur einer war, sich ungestört absetzt. Und das vor den Augen der Polizei. Ich werde mir einiges anhören müssen, wenn ich wieder in Rom bin.«
»Warum sind Sie mir überhaupt gefolgt?«, fragte Dr. Falk.
»Vielleicht, weil ich so etwas geahnt habe.«
»Wie meinen Sie das, Commissario?«
»Auch Pfarrer Dottesio verstarb kurz nach dem Treffen mit Ihnen. Sie scheinen Geistlichen kein Glück zu bringen, Dottoressa.«
»Haben Sie mich etwa im Verdacht, etwas mit den Morden zu tun zu haben?«
Donati lächelte kalt. »Das ist mein Job.«
»Signor Schreiber könnte ebenso gut der Mörder sein!«
»Vergessen Sie nicht, dass er nach Ihnen den Gang betreten hat, in dem der Tote lag.«
»Vielleicht ist er noch einmal an den Tatort zurückgekehrt«, schlug Dr. Falk vor.
Enrico warf ihr einen giftigen Blick zu. »Vielen Dank, dass Sie mich zum Mörder stempeln wollen. Wirklich reizend von Ihnen!«
Kopfschüttelnd murmelte Donati: »Provinztheater, ich habe es ja gesagt.«
»Wahrscheinlich sind wir den Mördern fast auf die Füße gestiegen«, sagte Alexander missmutig. »Möglicherweise halten sie sich sogar noch in Marino auf, oder aber sie sind schon gut gelaunt auf dem Rückweg nach Rom.«
»Jeder verfügbare Polizist in Marino hält die Augen nach Verdächtigen auf«, erklärte Donati. »Zusätzliche Kräfte sind hierher unterwegs. Überall an den Straßen nach Rom werden Kontrollpunkte errichtet. Wir haben eine gute Chance, die Kerle zu kriegen.«
»Sie scheinen davon auszugehen, dass es sich um mehrere Täter handelt und dass sie aus Rom kommen«, wunderte Enrico sich.
»Eine Vermutung, allerdings eine begründete«, sagte der Commissario. »Im Fall des ermordeten Pfarrers Dottesio können wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von mehreren Tätern ausgehen. Die Annahme, dass dieselben Leute auch hinter dem neuesten Mord stecken, liegt nicht fern.«
»Aber wenn ich Sie richtig verstanden habe, wurden die beiden anderen Pfarrer auf sehr ungewöhnliche Weise getötet beziehungsweise zugerichtet. Der eine wurde ans Kreuz genagelt, der andere im Taufbecken ertränkt. Richtig?«
Donati nickte. »Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen, Signor Schreiber. Die durchgeschnittene Kehle von Leone Carlini passt nicht so recht in dieses Bild, könnte also auf einen anderen Täter hindeuten. Doch ich gebe zu bedenken, dass die Täter heute – gehen wir einmal von mehreren aus – unter Zeitdruck gestanden haben. Vielleicht hatten sie mit dem Toten noch mehr vor. Aber als erst Dr. Falk und dann noch Sie auftauchten, haben unsere Unbekannten sich klugerweise aus dem Staub gemacht.«
»Vielleicht sollte die Polizei sich mehr um die Mörder kümmern, anstatt Unschuldige zu beschatten«, versetzte Vanessa Falk schnippisch. Donati strafte sie mit einem verächtlichen Blick. »Was genau wollten Sie eigentlich mit Leone Carlini besprechen Dottoressa?«
»Ich dachte, sein Bruder könnte ihm etwas anvertraut haben.«
»Und an was dachten Sie da?«
»Ich hatte keine konkrete Vorstellung. Mirakel, die tief im Geheimarchiv des Vatikans verborgen sind. Irgendetwas, das mir bei meiner Arbeit weiterhelfen könnte.«
»Das ist aber eine reichlich vage Motivation für eine Fahrt nach Marino«, fand der Commissario.
Dr. Falk sah ihn mit einer Mischung aus Ärger und Trotz an.
»Für mich war es Antrieb genug.«
»Als Sie Leone Carlini am Telefon sagten, Sie wollten mit ihm über seinen Bruder sprechen, klang das aber ein wenig konkreter. Ganz so, als wüssten Sie etwas über Giorgio Carlinis Tod.«
Jetzt brach Vanessa Falks aufgestauter Ärger aus ihr hervor.
Sie sprang von ihrem Stuhl auf und fauchte Donati an: »Sie haben mein Telefon abgehört! Sie sind …«
»Auch in Italien ist Beamtenbeleidigung strafbar«, ermahnte der Commissario sie.
»Ach ja? Und die Abhöraktion? War die überhaupt legal?«
Donati setzte eine gleichgültige Miene auf. »Wenn Sie das überprüfen möchten, nehmen Sie sich doch einen Anwalt!«
Enrico betrachtete Vanessa Falk und fragte sich, ob sie mit den Mördern unter einer Decke steckte. Falls ja, war sie eine ziemlich gute Schauspielerin. Ihr Zorn wirkte echt. Das leichte Beben ihres Körpers, ihre angespannte Haltung, die Blitze, die ihre Augen auf Donati abschossen, all das verriet einen Zustand hoher Erregung. Und es stand ihr gut zu Gesicht. Sie war ohnehin eine attraktive Frau mit einer starken Ausstrahlung. In diesem Augenblick wirkte sie wie eine rothaarige Amazone, die bereit war, ihr Gegenüber zu zerfleischen. Aber konnte sie so etwas wirklich tun? Er versuchte sich vorzustellen, wie sie dem Pfarrer Leone Carlini mit einem Messer die Kehle aufschlitzte.
Es war ein Bild, das ihm nicht behagte. Nicht nur wegen des Toten, sondern auch wegen Vanessa Falk.
»Brauche ich einen Anwalt?«, fragte sie, und das Zittern ihrer Stimme verriet, dass sie sich nur mühsam unter Kontrolle hielt.
»Wie meinen Sie das?«, entgegnete der Commissario.
»Bin ich festgenommen?«
Donati schüttelte den Kopf. »Aber nicht doch. Ich muss Sie lediglich bitten, sich zur Verfügung der römischen Polizei zu halten. Und verlassen Sie Rom bitte nicht, ohne mich vorher anzurufen!« Er gab ihr seine Karte.
Mit einer schnellen Bewegung steckte sie die Karte ein, als wolle sie mit dem Commissario so wenig wie möglich zu tun haben. »Dann kann ich jetzt gehen?«
»Meinetwegen.«
Sie verließ den Raum, ohne sich zu verabschieden.
»Lassen wir gerade unsere Mörderin laufen?«, sprach Alexander laut aus, was wohl jeder im Raum dachte.
»Laufen vielleicht, aber nicht entkommen«, antwortete Donati. »Eine Zivilstreife wird ihr unauffällig folgen.«
»Haben Sie dasselbe mit mir vor?«, fragte Enrico. Donati schüttelte den Kopf. »Sie haben doch gar keinen Wagen hier.
Ich schlage vor, Sie fahren mit Alexander zurück nach Rom. Ich würde Sie auch mitnehmen, aber ich werde noch ein paar Stunden brauchen, bis hier alles geregelt ist.«
»Ich dachte schon, ich bin neben Dr. Falk Ihr Hauptverdächtiger. Schließlich scheine auch ich den Tod magisch anzuziehen.«
»Sie sprechen von der Sache in Borgo San Pietro«, stellte Donati fest.
»Sie haben davon gehört?«
»Ja, von Alexander. Wenn es dort nicht den Bürgermeister erwischt hätte, sondern den Pfarrer, wäre ich versucht zu glauben, dass der Fall mit den Morden hier zusammenhängt.
Aber unter den gegebenen Umständen glaube ich das kaum.
Jedenfalls ist die Sache in Borgo San Pietro nicht weniger mysteriös.«
»Und Elena hätte sie fast das Leben gekostet«, fügte Alexander düster hinzu.
Donati blickte ihn mitfühlend an. »Möchtest du zu ihr fahren?«
»Am liebsten sofort. Aber derzeit komme ich aus Rom nicht weg. Den heutigen Abend werde ich damit verbringen müssen für den ›Messaggero‹ einen Bericht über den neuesten Priestermord zu schreiben. Ein Augenzeugenbericht, wenn man so will.«
Enrico fuhr mit Alexander nach Rom zurück, wie der Commissario vorgeschlagen hatte. Dank eines von Donati ausgestellten Schreibens passierten sie die Polizeikontrollen unangefochten. Alexander setzte Enrico vor dem Hotel
»Turner« ab und fuhr weiter in die Redaktion, um seinen Artikel zu schreiben.
Nach einem kurzen Blick auf das luxuriöse Zimmer, das er auf Kosten des »Messaggero« bewohnte, stieg Enrico unter die Dusche. Anschließend ging er ins Hotelrestaurant, weil sein Magen gehörig knurrte. Er hasste es, allein in Gaststätten zu gehen, aber außer Alexander kannte er niemanden in Rom. Das Essen war sehr gut, in netter Gesellschaft hätte er es jedoch mehr genossen.
Er dachte an Elena, und hin und wieder vermischte sich ihr Bild mit dem von Vanessa Falk. Hatte die Deutsche ihn so sehr beeindruckt? Warum auch nicht, schließlich hatte er sie unter sehr ungewöhnlichen Umständen kennen gelernt. Er zerbrach sich den Kopf darüber, ob sie tatsächlich eine Mörderin sein konnte. Sein Gefühl sagte nein, doch sein Verstand stellte das sogleich in Frage. Nur weil sie eine sehr attraktive Frau war, machte sie das nicht automatisch zum Unschuldslamm. Zum Essen hatte er einen guten Wein getrunken, nun bestellte er an der Hotelbar einen Frozen Margarita, zu dem sich noch zwei oder drei weitere gesellten. Der Tag war aufregend gewesen, aber auch frustrierend. Der Alkohol würde ihm hoffentlich helfen, die nötige Bettschwere zu finden. Als er auf sein Zimmer ging, stellte er fest, dass die Kombination von Rotwein und Tequila eine stärkere Wirkung hatte als beabsichtigt. Eigentlich wollte er vor dem Einschlafen noch das letzte Kapitel von Fabius Lorenz Schreibers Reisebericht lesen, aber kaum hatte er sich ins Bett gesetzt und das Buch aufgeschlagen, fielen ihm auch schon die Augen zu. Als er das Buch weglegte und das Licht ausschaltete, hoffte er, dass der Alkohol ihn wenigstens traumlos schlafen ließ.