Jahre 1805
Drittes Kapitel – Enthüllungen
Seltsam, aber ohne Riccardo und Maria Baldanello fühlte ich mich plötzlich sehr einsam zwischen all den Offizieren und hoch gestellten Persönlichkeiten aus Lucca und Umgebung, die im Palazzo der Fürstin Elisa Bonaparte zu dem großen Fest zusammengeströmt waren. Colonel Chenier, der Adjutant der Fürstin, hatte meinen vorgeblichen Dienstboten einen Platz in der großen Küche zugewiesen, wo man sich, wie er sagte, um ihr leibliches Wohl sorgen würde. Hatte ich mich in den wenigen Tagen schon so sehr an Marias Nähe gewöhnt, dass ihre Abwesenheit mir schmerzliche Gefühle verursachte? Auch jetzt, als Chenier mich einigen Herren und ihren in Seide gekleideten und mit glitzerndem Schmuck behängten Gemahlinnen und Töchtern vorstellte, verglich ich diese feinen Damen unwillkürlich mit dem einfachen Mädchen, und der Vergleich fiel nicht zu Marias Ungunsten aus, Umso mehr bedauerte ich, dass sie die Schwester eines skrupellosen Banditenführers war, die von seinen Untaten gewusst, sie geduldet und womöglich sogar unterstützt hatte. Immer wieder wurde ich zu meiner Rettung beglückwünscht, fragte man mich mit echter oder vorgetäuschter Sorge nach meinem Befinden und hörte ich Verwünschungen betreffs des »Banditenpacks«, das in der Umgebung Luccas sein Unwesen trieb. Die Schmähreden machten mir nur noch stärker bewusst, dass Maria eine Ausgestoßene war und in der ständigen Gefahr schwebte, am Galgen zu enden, wenn die Wahrheit über sie und ihren Bruder bekannt wurde.
Der Gedanke veränderte meine Gefühle, und aus Bedauern wurde Angst.
Wieder bemühte ich mich, unter den Menschen, die sich neugierig um mich scharten, jenen gewiss wohlbetuchten Herrn herauszufinden, dem ich meine Reise nach Oberitalien zu verdanken hatte. Doch niemand gab sich als mein Auftraggeber zu erkennen, und Enttäuschung machte sich in mir breit. Dann aber sagte ich mir, dass dieser geheimnisvolle Herr vielleicht nicht in aller Öffentlichkeit den Kontakt zu mir aufnehmen wolle, und ich beschloss, mich in Geduld zu üben. Wer einen derartigen Aufwand traf, um mich herzuholen, würde sich gewiss bald an mich wenden. Hauptmann Lenoir trat auf mich zu und fragte mich, wie mir die Parade gefallen habe. Als ich seine Soldaten und ihre Kameraden in höchsten Tönen lobte, brachte mir das ein Stirnrunzeln von Colonel Chenier ein. Zu Recht glaubte er nicht, dass ich die Parade in der schlechten Verfassung, in der er mich vorgefunden hatte, auch nur halbwegs hatte genießen können.
Wie auf einen geheimen Wink hin wandte sich die allgemeine Aufmerksamkeit einer Dame zu, die in die Mitte des Festsaals trat. Es war die Fürstin Elisa, die eine besondere Attraktion ankündigte: ein Violinsolo, dargeboten von ihrem Gemahl. Der Beifall wollte nicht enden, als der Fürst neben seine Frau trat, sich höflich verneigte und dann sein Instrument in Position brachte. Glaubte ich erst, der Applaus entspringe bloßer Höflichkeit und dem Respekt vor der hohen Position des Künstlers, so musste ich meine Ansicht revidieren, sobald die ersten Töne erklangen. Bacchiochi war wirklich ein Künstler auf der Violine, und so bemerkte Lenoir dann auch höchst treffend:
»Der Fürst versteht es, mit der Violine umzugehen wie mit sonst kaum etwas.«
Ich glaubte, aus Lenoirs Worten einen versteckten Hintersinn herauszuhören, und blickte ihn forschend an. Wollte der Hauptmann damit andeuten, dass die Fähigkeiten seines Oberkommandierenden auf dem Gebiet der Musik bei weitem höher lagen als im militärischen Bereich? Das hätte zu dem gepasst, was Riccardo mir über Bacchiochi erzählt hatte. Aber Lenoir sah unschuldig drein, lauschte offenbar ergeben den melodischen Klängen der Violine und schien wenig geneigt, seiner Äußerung weitere Erklärungen hinzuzufügen. Vielleicht lag das auch an der Anwesenheit Colonel Cheniers. Der Colonel gab mir unvermittelt ein Zeichen und bedeutete mir, ihm zu folgen. Ich wandte mich zum Gehen und bemerkte, dass Lenoir uns einen neugierigen Blick nachsandte. Die meisten Gäste allerdings schenkten dem Künstler ihre ungeteilte Aufmerksamkeit und bemerkten nicht, dass wir uns entfernten.
Durch einen kurzen Gang gelangten wir in einen Raum, den man wohl am treffendsten als Studierzimmer bezeichnen konnte. Zwei Wände nahmen Bücherschränke ein, und auf einem großen Tisch lagen zwei oder drei Landkarten übereinander. Unruhe erfasste mich, als wir den Raum betraten.
Sollte ich hier endlich den Mann kennen lernen, der meine Schulden beglichen und meine Reise finanziert hatte? Aber durch eine kleine Seitentür betrat das Zimmer kein Mann, sondern eine Frau: die Dame des Hauses. Die Fürstin von Piombino und Lucca begrüßte mich mit einem Lächeln, hieß mich in Lucca willkommen und beglückwünschte mich zu meiner Rettung. Wieder zogen mich ihre großen Augen in den Bann, deren Blick jetzt auf mir ruhte, mit einer gewissen Erwartung, wie mir schien. »Mein Bruder hat oft von Ihrem großen Wissen und Ihren außerordentlichen Fähigkeiten erzählt«, fuhr sie fort.
»General Bona …«, begann ich, räusperte mich dann, und sagte: »Entschuldigung, Hoheit sprechen von Seiner Majestät, dem Kaiser?«
Elisa lachte amüsiert. »Ja, Sie kennen ihn noch als Bürger General Bonaparte. Er sagte einmal zu mir, ohne Männer wie Sie, Monsieur Schreiber, wäre die Expedition nach Ägypten nicht mehr als ein militärisches Abenteuer gewesen. Sie und Ihre Kollegen aber hätten durch Ihre Studien und Funde bleibende Werte für die zivilisierte Menschheit geschaffen.«
»Ich wusste nicht, dass Seine Majestät eine so hohe Meinung von mir hat«, sagte ich, angesichts des überschwänglichen Lobes etwas verlegen.
»Die hat er. Er zeigte sich sehr beeindruckt von der Art und Weise, wie Sie mit ihm im Institut von Ägypten diskutiert haben. Er sagte, Sie hätten ihm gegenüber ein sehr offenes Wort geführt und manches Mal, wenn auch nicht immer, Recht behalten.« Bei der letzten Bemerkung lachte die Fürstin erneut, und das stand ihr ganz ausgezeichnet, weil es ihrem Gesicht Ernst und Strenge nahm und es viel weiblicher erscheinen ließ.
Wieder tauchten Erinnerungen an Ägypten vor meinem geistigen Auge auf. Aber diesmal war es nicht die Wüste mit ihrer gnadenlosen Hitze und ihrer Monotonie, die urplötzlich mit tausenderlei tödlichen Gefahren aufwarten konnte. Ich sah mich in Kairo, umgeben von den Düften und Farben des Orients, die unsere europäischen Sinne so sehr zu reizen verstehen. Hier hatte Bonaparte das Institut von Ägypten errichtet, dem er selbst als Vizepräsident angehörte. Dass er nicht nur an militärischen Eroberungen interessiert war, sondern auch an kulturellem und historischem Gewinn, hatte er bereits bewiesen, als er zahlreiche Wissenschaftler, Forscher und Künstler mit auf sein großes Orientabenteuer nahm. Damals, im Jahre 1798, hielt ich mich meiner wissenschaftlichen Studien wegen in Paris auf, und kurzerhand packte ich die einmalige Gelegenheit beim Schopf, auf Kosten des französischen Staates Ägypten zu bereisen. Dort angekommen, förderte Bonaparte Künste und Wissenschaften durch die Gründung des Instituts. Sooft er konnte, nahm er persönlich an den Sitzungen teil, nicht als Kopf der französischen Ägyptenarmee, sondern als Gleicher unter Gleichen, der viele hilfreiche Anregungen gab, sich aber auch berechtigter Kritik stellte. Tatsächlich hatte ich mit ihm das eine oder andere Thema diskutiert, aber ich hatte geglaubt, dass er mich längst vergessen hatte. Zwischen damals und heute lagen der Sturz des französischen Direktoriums und Bonapartes Einzug in die Tuilerien, die Schlacht von Marengo und der Frieden von Luneville und schließlich die Kaiserkrone, die Napoleon sich selbst aufs Haupt gesetzt hatte.
»Mein Bruder lobte Ihre großen Kenntnisse der Antike«, fuhr die Fürstin fort. »Vielleicht können Sie mir helfen, diese Fundstücke einzuordnen.«
Während sie noch sprach, nahm Chenier ein paar in Tücher gehüllte Gegenstände aus einer großen Truhe, legte sie vorsichtig auf den Kartentisch und schlug den Stoff zur Seite.
Vor mir lagen beschädigte Vasen und Krüge, zum Teil nur noch in Bruchstücken erhalten, aber alle mit interessanten Verzierungen versehen. Mein Forscherdrang erwachte, ich nahm die Stücke eins nach dem anderen in die Hand und trat, um sie bei bestem Licht zu betrachten, zu den großen Fenstern.
»Dies hier ist eine römische Arbeit aus der Zeit der ersten Kaiser«, begann ich meine Einordnung. »Und das hier auch.
Diese Vase hier ist eindeutig etruskischen Ursprungs. Der Krug auf den ersten Blick ebenfalls, betrachtet man ihn aber genauer, stellt man fest, dass man hier den etruskischen Stil kopiert hat.
Vermutlich stammt die Bemalung von einem Griechen.«
»Bravo!«, rief Elisa und klatschte begeistert in die Hände.
»Bravo, Monsieur Schreiber! Mein Bruder hat nicht übertrieben, als er von Ihren Fähigkeiten erzählte.«
Als ich endlich begriff, starrte ich die Schwester des mächtigen Franzosenkaisers wohl ziemlich böse an.
»Das war eine Prüfung, nicht wahr? Sie haben vorher schon gewusst, um was für Stücke es sich handelt!«
Chenier erhob beschwichtigend die Hand. »Mäßigen Sie sich, Monsieur! Vergessen Sie nicht, zu wem Sie sprechen!«
Elisa hatte beschlossen, mir mein Aufbrausen nicht übel zu nehmen. Sanft berührte sie meinen linken Arm und lächelte mich an. »Ärgern Sie sich nicht, Monsieur Schreiber! Ich vertraue Ihnen. Aber immerhin lasse ich mir Ihre Anwesenheit einiges kosten. Darf ich angesichts dessen Ihr profundes Wissen nicht mal ein klein wenig auf die Probe stellen?«
Ihre Worte wirkten einen Augenblick auf mich, als hätte mir jemand den Teppich unter den Füßen weggezogen. Aber je länger ich über sie nachdachte, desto mehr Sinn ergaben sie für mich. »Sie sind meine Auftraggeberin!«, platzte es aus mir heraus. »Sie haben mich nach Lucca geholt!«
Elisa nickte. »Und ich war ganz schön erschrocken, als ich von Ihrer Entführung durch die Banditen erfuhr. Ich habe Colonel Chenier beauftragt, unsere besten Soldaten auf die Suche nach Ihnen zu schicken, Gott sei Dank mit Erfolg.«
»Haben Sie sich Sorgen um mein Wohlergehen gemacht oder um Ihre Investition, Hoheit?«
»Beides liegt mir am Herzen«, antwortete sie mit einem unschuldigen Augenaufschlag, der nicht zu ihrer Position und ihrem sonstigen Auftreten passen wollte. »Schließlich sind Sie sehr wichtig für mich und mein Fürstentum, Monsieur.«
»Das müssen Sie mir erklären, Hoheit!«
Elisa nahm die Vase zur Hand, die ich als etruskisches Fundstück identifiziert hatte. Die Grundfarbe war Schwarz, und der unbekannte, seit vielen Jahrhunderten tote Künstler hatte sie mit rotbrauner Farbe bemalt. Das Bild zeigte einen unbekleideten Jüngling, der auf einer Art Sockel saß und anderen nackten Personen, Männern wie Frauen, mit einer Hand ein flaches Gefäß, vermutlich eine Schale, darbot. Auffällig an dem sitzenden Jüngling war sein großes Flügelpaar, das an die christliche Darstellung von Engeln erinnerte. Wesen mit Engelsflügeln findet man sehr häufig auf etruskischen Abbildungen.
»Die Etrusker sind ein geheimnisvolles Volk, nicht wahr?«, fragte Elisa.
»Das kann man reinen Gewissens sagen«, stimmte ich ihr zu.
»Uns fehlen bis heute jegliche Hinweise auf ihre Herkunft. Es gibt darüber zwar verschiedene Theorien, aber keine davon vermag einer wissenschaftlichen Überprüfung standzuhalten.
Auch ihre Sprache – oder nennen wir es besser ihre Schrift –
liefert keinen Aufschluss. Sie scheint mit keiner anderen bekannten verwandt zu sein. Fast so, als seien die Etrusker aus dem Nichts aufgetaucht.«
»Und hier, wo wir uns jetzt befinden, hatten sie ihre Siedlungen«, fuhr Elisa fort.
»Ganz recht«, sagte ich, erstaunt über ihr Interesse an der alten Kultur der Etrusker; ein wenig fühlte ich mich an die Diskussionen mit ihrem Bruder im Institut von Ägypten erinnert. »Oberitalien gilt gewissermaßen als ihr Stammland, aber ihre Städte finden sich auch noch in Kampanien.«
Colonel Chenier sah mich fragend an. »Wieso nur
›gewissermaßen‹, Monsieur?«
»Wie ich eben erläuterte, fehlen uns nähere Hinweise auf die Herkunft dieses Volkes, mon colonel. Unter diesem Gesichtspunkt ist es ein wenig anmaßend, von einem Stammland zu sprechen. Aber man kann sagen, dass die Etrusker sich von hier aus über Italien verbreitet haben, bis sie der römischen Machtpolitik und dem römischen Heer unterlagen. Sulla hat das letzte Aufbäumen der Etrusker blutig niedergeschlagen, und in der Folgezeit ging dieses Volk in der römischen Kultur auf. Poetischere Geister sagen, es verschwand in das Nichts, aus dem es gekommen war.«
»Es gibt in der Geschichte der Menschheit immer wieder starke Nationen, deren eiserne Faust schwächeren Völkern die Richtung weist«, sagte Chenier, und Pathos schwang in seiner Stimme mit. »Im Altertum waren das die Römer, heute sind es die Franzosen.«
»Wenn Sie es sagen«, brummte ich nur, da ich wenig Lust verspürte, eine Lobpreisung auf die französischen Eroberungen anzustimmen. Gewiss, ich hatte mich Napoleon Bonapartes Zug nach Ägypten freiwillig angeschlossen, wenn auch nicht als Soldat. Aber was ich dort an Not und Elend gesehen hatte, sowohl bei den im Feld verwundeten Soldaten als auch bei der unter dem Krieg leidenden Zivilbevölkerung, hatte mich von jedweder Verblendung bezüglich militärischen Ruhmes geheilt.
Ich wandte mich wieder der Fürstin zu und wiederholte meine Frage, weshalb ich so wichtig für ihr Fürstentum sei.
»Weil Sie für mich eine alte Etruskersiedlung aufspüren sollen, ein Heiligtum dieses Volkes. Die Einheimischen hier munkeln, die Stadt sei bei einem Erdrutsch verschüttet worden.
Wenn das stimmt, müssen dort gut erhaltene Zeugnisse der etruskischen Kultur zuhauf anzutreffen sein. Finden Sie diesen Ort für mich, Monsieur Schreiber, und Sie werden ein gemachter Mann sein!«
»Was liegt Ihnen an diesem geheimnisvollen Ort, Hoheit?«
Elisa drehte sich zu der einzigen Wand des Zimmers um die nicht von Bücherschränken oder Fenstern eingenommen wurde.
Dort hing ein Gemälde, das mich sehr an einen weit verbreiteten Kupferstich erinnerte: Der junge Bürger General Bonaparte stürmt, in einer Hand einen Degen und in der anderen eine wehende Fahne, seinen Truppen bei der Schlacht von Arcole voran.
»Mein Bruder hat nicht gerade ein großes Reich unter meine Regentschaft gestellt. Erst war es nur das winzige Piombino. Als er sah, dass ich meine Sache dort gut machte, gab er mir Lucca hinzu. Aber auch das ist ein kleiner Staat. Nur zu gut kenne ich die Witze, die man sich in den Salons Europas über mein Reich erzählt. Man benötige ein Vergrößerungsglas, um es auf der Landkarte zu finden, und wenn ich einen Schritt in die falsche Richtung machte, hätte ich schon die Grenze eines anderen Landes überschritten. Doch ich bin fest entschlossen, mehr aus Piombino und Lucca zu machen. Ich habe erfahrene Verwaltungsbeamte ins Land geholt, Ingenieure und Fachleuchte für das Agrarwesen. Die Eisen- und Bleigruben von Piombino, die vollkommen heruntergekommen und verlassen waren, arbeiten bereits wieder. Ich habe den Marmorbrüchen von Carrara neue Aufträge verschafft und lasse heruntergewirtschaftete Fabriken renovieren. Dichter, Musiker, Bildhauer und Maler rufe ich an meinen Hof, damit hierzulande nicht nur die Wirtschaft floriert, sondern auch die schönen Künste blühen. Und Sie, Monsieur Schreiber, sollen meinem kleinen Land zu einer exquisiten Sammlung etruskischer Fundstücke verhelfen.«
»Sie meinen den Aufbau eines Museums, Hoheit?«
Elisa nickte. »Ich hoffe, Sie werden den Posten eines Direktors nicht abschlagen, wenn es so weit ist.«
»Das ist sicherlich eine reizvolle Aufgabe, aber ich verstehe das alles noch nicht ganz.«
»Was verstehen Sie nicht?«
»Den Aufwand, den Sie betrieben haben, Hoheit. Warum die ganze Heimlichtuerei?«
»Wegen meines Bruders. Ihre Heimat gehört zu seinem Reich, und er soll nicht erfahren, was ich plane. Erst wenn wir das etruskische Heiligtum gefunden haben, will ich Napoleon einweihen. Es soll eine Überraschung für ihn sein. Ich weiß, wie sehr ihn die Geschichte Europas interessiert, der Ursprung unserer Zivilisation. Wenn wir ihm eine prächtige Sammlung von Fundstücken und neue Erkenntnisse über das Volk der Etrusker präsentieren, wird er mir … wird er uns sicherlich sehr verbunden sein. Was sagen Sie, Monsieur Schreiber, wollen Sie mir dabei helfen?«
Angesichts der Tatsache, dass die Fürstin mich von meinen exorbitanten finanziellen Verbindlichkeiten befreit hatte, besaß ich wohl kaum eine echte Wahl. Außerdem reizte mich die Aufgabe, mehr über das geheimnisvolle Volk der Etrusker in Erfahrung zu bringen. Und, ich muss es gestehen, ich dachte auch an den enormen wissenschaftlichen Ruhm, den ich im Erfolgsfalle erwerben würde. Also trat ich ein zweites Mal in meinem Leben in die Dienste der Familie Bonaparte, nicht ahnend, dass mein italienisches Abenteuer nicht weniger aufregend und beschwerlich verlaufen sollte als meine Reise nach Ägypten.
Wir kehrten zu den Feiernden zurück, und ich verbrachte ein paar unbeschwerte Stunden bei Musik, Gesang, Tanz und einem wahrhaft fürstlichen Mahl. Als draußen das Dämmerlicht schwand und sich die Reihen der Gäste zusehends lichteten, wollte auch ich mich verabschieden. Aber Colonel Chenier, der sich, wie mir jetzt auffiel, immer in meiner Nähe aufgehalten hatte, wollte davon nichts wissen. »Ihre Hoheit will Sie noch einmal sprechen und erwartet Sie bereits, Monsieur Schreiber.«
»Aber es ist schon spät. Meine Diener werden sich um mich sorgen, wenn ich nicht bald komme.«
»Das soll Sie nicht kümmern, Monsieur. Man hat den beiden bereits Zimmer im Dienstbotentrakt dieses Hauses angewiesen.
Auch für Sie ist ein Gästezimmer hergerichtet. Es ist also für alles gesorgt. Wenn Sie mich jetzt zu Ihrer Hoheit begleiten würden!«
Das war keine Frage, sondern ein Befehl. Chenier führte mich in das bereits bekannte Studierzimmer, trat aber nicht mit mir ein, sondern schloss hinter mir die Tür. Elisa Bonaparte stand an einem Fenster und starrte hinaus in den von zahlreichen Laternen erhellten Garten. Ohne sich zu mir umzudrehen, sagte sie: »Jetzt kehren die braven Bürger zurück nach Hause und erzählen ihren Lieben von Soldaten und Banditen und von dem Deutschen, der in ihrer Stadt ein neues Museum errichten soll.
Ich habe übrigens nicht erwähnt, dass Sie speziell nach dem alten etruskischen Heiligtum suchen sollen. Ich will keine Grabräuber anlocken. Bitte bewahren auch Sie strengstes Stillschweigen über die Angelegenheit! Wollen Sie mir das versprechen?«
»Sehr gern, Hoheit.«
Jetzt erst drehte sie sich zu mir um, und auf ihrem Gesicht lag wieder dieses Lächeln, das aus der eher maskulinen Herrscherin eine Frau machte. »Wenn wir unter uns sind, sagen Sie einfach Elisa zu mir, das ist bequemer!«
Ich nickte und sagte zögernd: »Danke … Elisa.«
»Ich habe Ihnen zu danken, Fabius. Hinter Ihnen liegt eine lange, anstrengende Reise. Hinzu kommen die Ungewissheit über Ihr Ziel und das ungeplante Abenteuer mit den Banditen.
Und doch haben Sie sich kein einziges Mal beklagt.«
»Es steht mir nicht an, mich zu beklagen, Hoh… –
Verzeihung, Elisa. Sie haben sich meine Anwesenheit hier einiges kosten lassen und mich aus einer Verlegenheit befreit, die nur zu rasch zu einem Ende im Schuldturm hätte führen können.«
»Aber nicht Sie haben diese Schulden angehäuft, sondern Ihr Vater, der sich mit seinem Geschäft finanziell übernommen hatte.«
»Das war den Banken egal, für sie waren es die Schulden der Familie Schreiber. Und nach dem Tod meines Vaters waren es meine Schulden. Sie haben mir wirklich sehr geholfen, Elisa!«
Sie trat auf mich zu und nahm meine Hände in die ihren.
»Wir beide können einander helfen, Fabius, und wir haben vieles gemeinsam. Sie und ich sind fremd in diesem Land, einsam, und deshalb sollten wir einander beistehen.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie einsam sind. Heute habe ich erlebt, wie das Volk Ihnen zugejubelt hat.«
»Der Jubel galt nicht der Frau, sondern der Fürstin. Und täuschen Sie sich nicht: Nicht zu jeder jubelnden Stimme gehörte auch ein jubilierendes Herz. Wie viel Berechnung, wie viel Opportunismus mag in dem Jubel gelegen haben? Vielleicht mehr, als mir lieb sein kann. Als ich nach Italien kam, hat kaum einer gejubelt. Ich war für die Menschen hier nur die Schwester eines Kaisers, der das Land mit Gewalt unterworfen hatte und der es seiner Schwester nun gleichsam als Brosamen vorwarf.
Die Einstellung der Menschen änderte sich, als sie sahen, was ich alles für sie tat. Aber ich bin dennoch eine Fremde für sie, und vielleicht würde keiner von ihnen mehr jubeln wenn Napoleon, was Gott verhüten möge, eines Tages seine Macht verliert.«
»Danach sieht es nun wirklich nicht aus. Er hat sich einen Platz an der Spitze der europäischen Monarchen erobert.«
»Aber er hat viele Feinde – und ich auch. Und wenn man von Feinden umringt ist, sollte man wenigstens ein paar gute Freunde haben, denen man vertrauen kann.«
»Die haben Sie sicherlich, Elisa. Colonel Chenier scheint Ihnen sehr ergeben, und dann ist da natürlich Ihr Gemahl, der Fürst.«
Elisas Blick verdüsterte sich. »Ja, dem Titel nach ist er der Fürst von Piombino und Lucca, und dem Gesetz nach ist er mein Gemahl. Aber ich würde ihn nicht als meinen Mann, nicht einmal als meinen Freund bezeichnen. Es gab einmal eine Zeit, da fühlten wir so etwas wie gegenseitige Zuneigung. Ich redete mir ein, dass der hübsche Hauptmann genau der Richtige für mich sei, weil ich als älteste von drei Schwestern noch keinen Mann hatte. Und für Felix war es sicher angenehm, der Schwager von Napoleon Bonaparte zu werden. Vom Hauptmann zum General steigt man üblicherweise nicht so schnell auf, zumindest nicht, ohne auf dem Schlachtfeld Kopf und Kragen riskiert zu haben. Aber letztlich war ich Felix gleichgültig, wie ihm alles gleichgültig ist, solange er seine Musik hat und seine Frauen.«
»Seine Frauen?«
»Mätressen, wenn Sie es so nennen wollen. Wahrscheinlich ist er bereits bei ihnen. Nein, nicht hier, er trifft sie in einem anderen Haus.«
»Warum erzählen Sie mir das?«
»Weil ich Sie bitten möchte, mein Freund zu sein und bei mir zu sein … heute Nacht.«
Sie sprach aus, was ich längst schon geahnt hatte. Noch immer lagen meine Hände in den ihren, stand sie so dicht vor mir, dass mich ihr Atem streifte und ich den süßen Duft ihres Parfüms roch. Gewiss gab es schönere Frauen als Elisa, und mit Maria konnte sie sich kaum vergleichen. Aber was ihr an Schönheit mangelte, machte sie mit ihrer Ausstrahlung wett. In ihren Augen lag etwas Magnetisches, wie ich es sonst nur bei ihrem Bruder gesehen hatte, wenn er seine Soldaten dafür zu begeistern verstand, ein weiteres Mal für ihn in den Kugelhagel der Schlacht zu marschieren.
Ich blickte tief in die großen, dunklen Augen Elisas und las in ihnen das Verlangen nach mir. In diesem Blick lag eine Verletzlichkeit, die nicht zu ihrem Stand und auch nicht zu ihrem öffentlichen Auftreten passen wollte. Ich sah die andere Elisa vor mir, das Mädchen aus Korsika, das hier in der Fremde lebte und einen Rang bekleidete, den es sich in seiner Heimat wohl niemals auch nur erträumt hatte. Aber auch mit der entsprechenden Last auf seinen Schultern. Und von mir wollte sie, dass ich sie diese Last für eine Nacht vergessen ließ.
Unsicher, was ich tun sollte, war ich erschrocken und zugleich erleichtert, als ohne ein vorheriges Anklopfen die Tür aufgestoßen wurde und Felix Bacchiochi in Begleitung von Colonel Chenier eintrat. Der Adjutant warf der Fürstin einen bedauernden, um Entschuldigung heischenden Blick zu.
Meine Erwartung, dass Elisas Gemahl mir Vorwürfe machen, mich vielleicht gar tätlich angreifen würde, wurde zum Glück enttäuscht. Er bedachte mich nur mit einem kurzen Blick, und der fiel überaus gleichgültig aus. Dann wandte er sich seiner Frau zu und sagte: »Du solltest dich jetzt anderen Dingen zuwenden, Elisa! Gerade ist ein Eilkurier eingetroffen. Die Österreicher unter Erzherzog Ferdinand sind in Bayern eingefallen. Eine zweite österreichische Armee unter Erzherzog Karl ist auf dem Marsch nach Italien. Wir haben Krieg!«