Nahe Borgo San Pietro

Sie hatten den Streifenwagen auf einer kleinen Lichtung abgestellt und schlugen sich, angeführt von Ezzo Pisano, durchs dichter werdende Unterholz. Dornenranken verhakten sich in Enricos Hose, und Zweige peitschten ihm als Strafe für jede Unachtsamkeit ins Gesicht. In ihm wurden unangenehme Erinnerungen an seine Flucht mit Elena vor den aufgebrachten Dorfbewohnern wach. Längst hatte er jede Orientierung verloren, und Fulvio Massi erging es wohl kaum besser. Pisano aber schien auch in dem größten Dickicht noch einen Weg zu erkennen, so zielsicher ging er voran. Hin und wieder schlug er mit einem Stock, den er unterwegs aufgelesen hatte, ein widerspenstiges Gestrüpp zur Seite. Trotz seines Alters bewegte er sich erstaunlich behände. Er war hier zu Hause und hatte die Wälder rings um Borgo San Pietro wohl schon seit frühester Kindheit erforscht. Den schlammigen Pfützen, die der Regen hinterlassen hatte, wich er mit geschickten kleinen Sprüngen aus, wogegen sowohl Enrico als auch Massi sich längst schmutzige, nasse Schuhe eingefangen hatten.

»Kaum zu glauben, dass jemand in dieser Abgeschiedenheit sein Haus gebaut hat«, brummte der Commissario, nachdem er in letzter Sekunde an einem Matschloch vorbeigeschlittert war.

»Man muss schon ein ausgesprochener Einsiedler sein, um sich hier wohl zu fühlen.«

»Angelo ist ein Einsiedler«, kam es von Pisano. »Und er lebt nicht in einem Haus. Jedenfalls nicht in so einem, wie Sie und ich es gewohnt sind.«

Enrico fielen Mauerreste auf, die links von ihm hinter einem Dornbusch aufragten. Bald sah er ein ganzes Gebäude, eine jener runden Steinhütten, wie sie ihm auf seiner Flucht vor zwei Tagen bereits untergekommen waren. Gräber der Etrusker, wie jener geheimnisvolle Angelo gesagt hatte. Das Unterholz wurde lichter, und bald erhoben sich mehrere solcher Steingräber links und rechts von ihnen, teils derart von Grün überwuchert, als wären sie eine Symbiose mit der Natur eingegangen.

»Sind das alles Gräber?«, fragte Enrico.

»Hier gibt es noch viel mehr davon«, antwortete Pisano.

»Borgo San Pietro steht auf den Ruinen einer Etruskerstadt. Und hier in diesen Wäldern haben die Etrusker ihre Toten bestattet.«

Er blieb zwischen einigen der teilweise sehr großen Graberhebungen stehen und blickte sich suchend um. Zum ersten Mal, seit sie den Wald unter Pisanos Führung betreten hatten, zeigte er ein Zeichen von Unsicherheit.

»Hier irgendwo muss es sein«, murmelte er und drehte sich im Kreis. »Ah ja, dort, das ist die richtige Richtung!«

Sie folgten ihm weiter, bis er vor dem Eingang zu einer der Steinhütten stehen blieb. Es war ein großes Grab von mindestens fünfzehn Metern Durchmesser. Eine Treppe, aus der Wind und Wetter schon beträchtliche Stücke herausgebrochen hatten, führte in die Tiefe, wo der unverschlossene Eingang lag.

Von oben sah er aus wie ein schwarzes Loch. Was sich dahinter verbarg, war nicht zu erkennen. Pisano stieg vorsichtig die Treppe hinunter, gefolgt von Enrico und Massi. »Reichlich düster hier unten«, bemerkte Enrico, als sie vor dem Eingang standen.

»Nicht mehr lange.« Massi zog eine kleine Stabtaschenlampe aus einer Tasche seiner Uniformjacke und knipste sie an. Enrico nickte ihm anerkennend zu. »Sie sind anscheinend auf alles vorbereitet, Commissario.«

»Besser so …«, antwortete der Polizist und öffnete den Knopf seiner Pistolentasche, um im Notfall leichter an seine Waffe zu kommen.

Langsam gingen sie durch die Finsternis, die nur vom dünnen Strahl aus Massis Taschenlampe erhellt wurde. Der Gang war eng, und zu beiden Seiten taten sich türartige Durchbrüche auf.

Vor jedem blieb Massi stehen und leuchtete den dahinter liegenden Raum mit seiner Lampe aus. Es gab tatsächlich richtige Zimmer hier unten in dem Grab, mit aus Stein gehauenen Betten oder Tischen, ganz so, als sollten die Toten ihr gewohntes Leben weiterführen. Am eindrucksvollsten fand Enrico die Wandmalereien, die in erstaunlich kräftigen Farben erhalten waren. Szenen aus dem Alltagsleben sollten den Toten offenbar verdeutlichen, dass sie auch im Jenseits nicht von ihren Gewohnheiten lassen mussten. Auffallend waren die geflügelten Männer, die auf mehreren Bildern zu sehen waren und an christliche Engel erinnerten. Als Enrico den Commissario darauf ansprach, sagte der: »Ich muss gestehen, dass ich mich in der etruskischen Mythologie nicht sonderlich gut auskenne. Aber mit dem christlichen Glauben hatten sie, soweit ich mich erinnere, nichts am Hut. Auf jeden Fall, da stimme ich Ihnen zu, sehen diese Flügelmenschen sehr interessant aus.«

»Fällt die Erkundung alter Kulturgüter auch in die Zuständigkeit der Polizei?«

»Nur dann, wenn Grabräuber am Werk sind. Eigentlich bin ich hergekommen, um diesen ominösen Angelo zu treffen.«

»Er wird kaum der Mörder Ihres Schwagers sein.«

»Das nicht. Aber vielleicht kann er ein wenig Licht in die Sache bringen. Die Leute in Borgo San Pietro sind nicht sehr gesprächig, nicht einmal meine Schwester.« Massi lachte trocken. »Ich habe es schon als Kind gehasst, wenn meine Schwester vor mir Geheimnisse hatte.«

Enrico wollte noch einmal auf die Engelsfiguren zu sprechen kommen, die ihn aus gutem Grund beeindruckten. Mehr noch, in gewisser Weise flößten sie ihm Angst ein. Hier unten in dem großen Grab fühlte er sich wie in dem unterirdischen Labyrinth aus seinem Alptraum. Aber als er sich zu Massi umwandte, fiel ihm auf, dass ihr Führer verschwunden war.

»Wo steckt Pisano?«, fragte er deshalb nur. Massi tastete den Gang mit dem Lichtstrahl seiner Lampe ab und stieß einen leisen Fluch aus, als Pisano nirgendwo zu entdecken war.

»Sollte der Alte uns reingelegt haben?«

»Ich hatte den Eindruck, er meint es ehrlich. Aber nach allem, was ich hier in den Bergen schon erlebt habe, würde ich dafür nicht meine Hand ins Feuer legen. Wenn das hier eine Falle ist, dann ist sie hervorragend gewählt.«

»Sprach der Tiger, bevor er in die Grube sprang.«

Massi wechselte die Lampe in die linke Hand und zog mit der rechten seine Dienstpistole. Vorsichtig gingen sie weiter. Enrico hielt sich hinter dem Polizisten, um ihm nicht in die Schusslinie zu geraten.

Eine fremde Stimme sagte plötzlich: »Ihr müsst euch nicht fürchten. Hier wird euch niemand etwas tun.«

Der Lichtstrahl erfasste zwei Männer am Ende des Ganges: Ezzo Pisano und den bärtigen Alten, der Elena geholfen und sich als Angelo vorgestellt hatte.

Er war derjenige, der eben gesprochen hatte, und jetzt fuhr er fort: »Ezzo hat mir erzählt, weshalb er euch hergeführt hat. Der jungen Frau geht es sehr schlecht, nicht wahr?«

»Die Ärzte meinen, dass sie sterben wird, heute noch!«, platzte es aus Enrico heraus. »Können Sie ihr helfen?«

»Das traust du mir zu? Ich bin nur ein alter Mann. Ich habe kein Medizinstudium hinter mir wie die Ärzte in Pescia. Was soll ich bewirken, wo sie versagen?«

»Ich weiß, dass Sie besondere Kräfte haben, Angelo. Ich habe erlebt, wie Sie Elenas Blutung stillten. Wollen Sie ihr nicht noch einmal helfen?«

»Selbst wenn ich es könnte, warum sollte ich das wohl tun?«

Erst wollte Enrico erwidern, dass die Menschen aus Borgo San Pietro die Schuld an Elenas Zustand trugen. Aber das wäre unfair gewesen. Angelo traf schließlich keine Schuld, im Gegenteil, er hatte ihm und Elena beigestanden. Verzweifelt suchte Enrico nach einer Antwort, aber er konnte nur sagen:

»Sie sind doch ein Mensch, Angelo, und Elena auch!«

Angelo nickte bedächtig. »Das ist eine gute Antwort, vielleicht die einzig mögliche. Aber wenn ich dir helfe, musst du etwas versprechen. Du und der Polizist.«

»Was?«, fragte Massi skeptisch.

»Alles, was ihr hier gesehen habt, und alles, was ihr noch sehen und erleben werdet, bleibt unter uns!«

Massi gab ein unwilliges Knurren von sich. »Die Gräber hier stellen wertvolle Kulturgüter dar. Es ist die Pflicht der Polizei, sie vor Grabräubern zu schützen.«

»Hierher kommen keine Grabräuber«, sagte Angelo in einem Ton, der keinen Zweifel duldete.

Pisano fügte hinzu: »Außerdem ist das Gelände im Besitz der Gemeinde Borgo San Pietro. Solange sich niemand an den Gräbern zu schaffen macht und sie im Originalzustand belassen werden, können die Behörden nichts machen. Sie als Polizist sollten die Rechtslage kennen.«

»Ich kenne sie«, versicherte Massi und steckte endlich seine Waffe zurück in die lederne Tasche an seiner Hüfte. »Ich wundere mich nur, dass Sie sie auch kennen.« Er wandte sich wieder an Angelo. »Was machen Sie eigentlich hier unten?«

»Ich lebe hier.«

»In einem Grab?«, staunte der Commissario. »Ist das nicht ein bisschen düster und vor allem einsam?«

»Wenn ich Licht brauche, zünde ich mir eine Kerze an. Und wenn ich die Menschen brauchen würde, wäre ich nicht hierher gegangen.«

»Können wir uns nicht später unterhalten?«, fragte Enrico ungeduldig. »Wenn wir zu viel Zeit vergeuden, kann es für Elena zu spät sein.« Er wandte sich an den alten Einsiedler.

»Angelo, ich verspreche Ihnen zu schweigen. Und ich bin sicher, auch der Commissario gibt Ihnen sein Wort. Werden Sie Elena helfen?«

Rom, Vatikan

Mit Schrittgeschwindigkeit fuhr Alexander auf die Porta Sant’ Anna zu, während er an das fruchtlose Gespräch mit seinem Vater dachte. Angesichts dessen, was Markus Rosin heute zu seinem Sohn gesagt hatte, fragte sich dieser, ob weitere Besuche überhaupt sinnvoll waren. Riss er damit nicht nur immer wieder von neuem die Wunden auf? Verwundert sah Alexander, wie vor ihm ein Schweizergardist auf die Straße sprang und heftig winkte. Alexander trat auf die Bremse, und der Peugeot kam einen halben Meter vor Werner Schardt zum Stehen. Der Gardeadjutant trat ans Fahrzeug, und Alexander ließ das Fenster auf der Fahrerseite herunter.

»Ist das jetzt ein Selbstmordversuch oder eine besonders auffällige Art der Kontaktaufnahme, Werner?«

»Weder noch. Ich habe einen Anruf von Don Luu erhalten.

Seine Heiligkeit möchte dich sprechen, bevor du den Vatikan verlässt.«

»Warum das denn?«

»Der Heilige Vater pflegt seine Wachen nicht in all seine Gedanken einzuweihen.«

Alexander nickte und fragte leise: »Und sonst? Gibt es etwas Wichtiges?«

»Bis jetzt nicht. Ich melde mich, wenn ich etwas habe.«

Alexander parkte auf dem Damasushof und ging zum Apostolischen Palast. Dort geleitete ihn ein junger Schweizergardist, den er nicht kannte, hinauf in den dritten Stock. Als sie aus dem Lift stiegen, erwartete sie Don Luu in dem kleinen Empfangsbereich, dem Korbsessel und mannshohe Kübelpflanzen ein heimeliges Aussehen verliehen. Der Privatsekretär des Papstes schickte den Schweizer mit einem kurzen Dank zurück auf seinen Posten und hieß Alexander willkommen. »Schön, dass Sie Zeit für Seine Heiligkeit haben, Signor Rosin. Wenn Sie mir folgen wollen!«

Der Papst saß hinter dem Schreibtisch seines Arbeitszimmers und unterschrieb eine ganze Reihe von Schriftstücken im Sekundentakt.

»Lästiger Verwaltungskram«, sagte er mit einem müden Lächeln, als er Alexander und Don Luu bemerkte.

»Danksagungsschreiben an alle hoch stehenden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die unserer Kirche trotz des Schismas ihr Vertrauen und ihre Unterstützung ausgesprochen haben.«

»Gibt es für so etwas nicht Unterschriftenautomaten?«, fragte Alexander, ein wenig erstaunt darüber, womit sich der Papst befassen musste.

»Natürlich gibt es solche Automaten«, antwortete Henri Luu.

»Aber stellen Sie sich einmal vor, das kommt raus! Ein Politiker oder ein Filmstar kann so einen Automaten benutzen, um seine Autogrammkarten zu unterschreiben, aber doch nicht der Papst!

Die Kirche wird doch besonders streng beäugt wenn es um Wahrheit und Authentizität geht.«

»Außerdem kann man bei so einer stupiden Arbeit bestens meditieren«, sagte Custos. »Und Stoff zum Nachdenken habe ich derzeit mehr, als mir lieb ist.«

Der Papst wirkte abgespannt, als er das sagte. Alexander fand, dass er in der einen Woche, die seit ihrer letzten Begegnung vergangen war, um fünf Jahre gealtert war. Seine Haut sah grau aus, die Augen waren von Schlafmangel gerötet.

Custos schien wie ein Mann, der die letzten Reserven mobilisierte, um sich aufrecht zu halten.

»Es gehört sich vielleicht nicht, das einfach so zu fragen«, begann Alexander vorsichtig. »Aber gibt es Neuigkeiten hinsichtlich der Glaubenskirche?«

Custos bot ihm einen Platz an und sagte: »Wir suchen den Dialog mit den Spaltern, aber sie ignorieren uns, tun ganz so, als seien sie die althergebrachte Kirche. Wie soll man einen Gegner überwinden, wenn man ihn nicht zu fassen kriegt?«

Alexander überlegte kurz und sage: »Man müsste ihn dazu bringen, dass er es ist, der einen fassen möchte.«

In den Augen des Papstes blitzte es auf. »Eine gute Idee! Es ist immer eine Freude, mit Ihnen zu sprechen, Alexander Rosin.

Darf ich mich erkundigen, wie Ihr Besuch bei Ihrem Vater verlaufen ist? Ich will nicht indiskret sein und in persönlichen Angelegenheiten schnüffeln, aber Don Luu sagte mir, Sie wollten Ihren Vater nach einem Zusammenhang der Priestermorde mit Totus Tuus fragen.«

»Das habe ich getan. Aber er zeigt wenig Neigung, uns zu helfen. Für ihn sind wir seine Feinde, diejenigen, die ihn um alles gebracht haben, um seine Pläne und um sein Augenlicht.«

»Ist er wirklich so verbittert?«

»Ja, offensichtlich. Aber immerhin hat er mir indirekt bestätigt, dass Totus Tuus trotz der Auflösung des Ordens noch aktiv ist.«

»Darauf deuten auch unsere Erkenntnisse hin«, sagte Don Luu. »Wir haben dem Kraken ein paar seiner Arme abgeschlagen, aber die anderen wirken im Verborgenen fort und knüpfen dort neue, unheilvolle Fäden.«

»Sie haben eine sehr bildhafte Ausdrucksweise, Henri«, bemerkte der Papst. »Haben Sie schon einmal daran gedacht, Abenteuerromane zu schreiben?«

Luu verstand den Scherz und erwiderte blinzelnd: »Wenn all dies hier vorüber ist, Heiligkeit. Noch sammle ich Stoff.« Er wurde wieder ernst und wandte sich an Alexander. »Hat Ihnen Ihr Vater keinen einzigen Hinweis gegeben?«

»Leider nein. Ich fürchte, der Besuch war ein völliger Fehlschlag. Mein Vater denkt jetzt vielleicht, dass ich ihn nur aushorchen will, dass all meine bisherigen Besuche nur diesem Zweck gegolten haben.«

Custos erhob sich, trat zu Alexander und legte eine Hand auf seine Schulter. »Es gibt zwei Arten von Menschen. Diejenigen, die sich aufgegeben haben und die nichts mehr berührt. Und diejenigen, die sich selbst prüfen, mag es auch schmerzhaft und langwierig sein. Ich kenne Ihren Vater nicht gut, aber ich glaube, er gehört zu der zweiten Sorte. Falls ich Recht habe und er sich prüft, wird er erkennen, dass er Ihnen unrecht getan hat und dass er in Ihnen einen echten Sohn hat.«

Die Berührung und die Worte des Papstes nahmen Alexander etwas von der schweren Last, die er seit dem Besuch bei seinem Vater spürte. So fern ihm vorhin im Gefängnis auch die Möglichkeit erschienen war, Markus Rosin könne so etwas wie Reue empfinden, jetzt, wo Custos zu ihm sprach, schöpfte er wieder Hoffnung. Ein beruhigendes Gefühl breitete sich in ihm aus wie körperliche Wärme. Er fühlte sich zuversichtlich und gelöst. Alexander wusste, dass Custos’ besondere Kraft ihm diese Zuversicht einflößten, und er wünschte, der Papst könnte sich angesichts der Kirchenspaltung dieselbe Hoffnung selbst vermitteln.