7
Pescia, Donnerstag, 24. September
Enrico hatte bis weit nach Mitternacht gelesen. Dann hatten die Aufregungen des Vortags ihr Recht gefordert. Er konnte gerade noch Fabris Lorenz Schreibers Tagebuch weglegen und das Licht ausknipsen, bevor er in einen tiefen Schlaf fiel. Er schlief so fest, dass er keine Erinnerung an seine Träume hatte, und das war ihm nur recht. Der neue Tag begrüßte ihn mit einem diffusen Grau. Der Sommer schien sich zu verabschieden. Eine dicke Wolkendecke lag über den Bergen und schob sich beständig weiter nach Süden. Als Enrico aus dem Bad kam, erinnerte ihn ein schmerzhaftes Gefühl in der Magengegend daran, dass er seit ungefähr vierundzwanzig Stunden nichts gegessen hatte. Er nahm seinen Toskana-Reiseführer mit in den Frühstücksraum, um mehr über jene Stadt Lucca zu erfahren, in die es Fabius Lorenz Schreiber verschlagen hatte. Unterwegs fragte er an der Rezeption, ob eine Nachricht für ihn vorliege. Er wusste nicht, ob er hoffen oder fürchten solle, dass jemand aus dem Krankenhaus für ihn angerufen hatte. Als die hübsche Blondine am Empfang ihm mitteilte, dass sie nichts für ihn habe, verspürte er Erleichterung. Wenigstens schien es Elena nicht schlechter zu gehen. Er nahm sich vor, gleich nach dem Frühstück zum Krankenhaus zu fahren. Während er mehr mechanisch als mit Lust aß und dazu einen Capuccino und Orangensaft trank, dachte er über die Aufzeichnungen in dem Tagebuch nach. Er wusste nicht recht, was er von diesem Fabius Lorenz Schreiber halten sollte. Seine Erlebnisse erschienen Enrico zuweilen sehr abenteuerlich. Hatte der Chronist sich strikt an die Fakten gehalten? Oder hatte er seiner Phantasie freien Lauf gelassen, um seinen Ruf bei seinen Zeitgenossen und für die Nachwelt aufzuwerten? Enrico wusste es nicht, aber zumindest war der Reisebericht sehr unterhaltsam.
Er schlug seinen Toskana-Führer auf und suchte den Abschnitt über Lucca. Die Stadt wurde als malerisch beschrieben, ihr Kern umgeben von einer vollkommen intakten alten Stadtmauer. Die Straßen dort mussten auch heute noch so ähnlich aussehen, wie Fabius Lorenz Schreiber sie beschrieben hatte. Die Herrschaft Elisa Bonapartes wurde in nur wenigen Zeilen erwähnt, aus denen Enrico keine neuen Erkenntnisse gewann. Für kulturhungrige Touristen schien Lucca ein wahrer Schatz zu sein, aber was hatte die Stadt für Fabius Lorenz Schreiber bereitgehalten? Sicher würde er es erfahren, wenn er Muße fand, die Lektüre fortzusetzen.
An diesem Morgen aber trieb ihn die Sorge um Elena zum Krankenhaus in Pescia, wo er sich nach Dr. Addessi erkundigte.
Die Ärztin war nicht im Haus, und er wurde an einen gewissen Dr. Cardone verwiesen, den Leiter der Intensivstation. Laut Cardone war Elenas Zustand unverändert.
»Darf ich sie sehen?«, fragte Enrico.
»Es ist kein erheiternder Anblick«, warnte ihn der Arzt.
»Vielleicht hilft es mir trotzdem.«
»Va bene«, sagte Cardone nach kurzem Überlegen und führte ihn zu Elenas Krankenzimmer.
Der Arzt hatte Recht gehabt, der Anblick war deprimierend.
Mit geschlossenen Augen, einen dicken Verband um den Kopf, lag Elena in einem Bett, über dem Überwachungsgeräte ein monotones Dauerfeuer an optischen und akustischen Signalen ausstießen. Die zahlreichen Kabel und Schläuche, durch die Elena mit den Geräten verbunden war, erweckten in Enrico die Erinnerung an Horrorfilme, in denen durchgeknallte Wissenschaftler mit menschlichen Körpern experimentierten.
Einerseits konnte er den Anblick kaum ertragen, aber er konnte sich auch nicht von Elena lösen. Cardone schien zu ahnen oder aus Erfahrung zu wissen, was in Enrico vorging, und schob ihn mit sanfter Gewalt aus dem Zimmer.
»Sie können sich darauf verlassen, dass wir Sie informieren, sobald sich der Zustand der Patientin ändert«, versicherte der Arzt, und Enrico gab ihm seine Visitenkarte mit der Handynummer.
Als er das Krankenhaus verließ, empfing ihn Nieselregen, und ein frischer Wind wehte von den Bergen herab. Mit hochgeschlagenem Kragen ging er über den Parkplatz zu seinem Mietwagen. Auf halbem Weg wurde er von der Lichthupe eines Autos geblendet, das auf den Parkplatz einbog. Es war ein Streifenwagen der Polizei, und hinter dem Lenkrad erkannte Enrico den fülligen Polizisten, der am Vortag den Einsatz in den Bergen geleitet hatte.
Der Polizist stieß die Fahrertür auf, streckte den von der Polizeimütze beschirmten Kopf heraus und rief: »Steigen Sie bitte bei mir ein, Signor Schreiber! Ich möchte mit Ihnen sprechen. Draußen im Regen ist es zu ungemütlich.«
Neugierig folgte Enrico der Aufforderung und nahm auf dem Beifahrersitz Platz.
»Fulvio Massi, Commissario«, stellte der Polizist sich vor und fügte nicht ohne Stolz hinzu: »Stellvertretender Polizeichef von Pescia. Ich war bei Ihnen im Hotel. Als ich Sie dort nicht antraf, vermutete ich, dass ich Sie hier finde.«
»Gut kombiniert, Commissario. Was gibt es so Dringendes?«
»Sie haben doch in Borgo San Pietro nach Angehörigen der Familie Baldanello gesucht, aus der Ihre Mutter stammt.«
»Stimmt. Und der Ermordete, der Bürgermeister, sagte mir, dass es keine Baldanellos mehr im Dorf gibt. Sie sind tot oder weggezogen.«
»Da hat er Sie falsch informiert. Ob absichtlich oder aus Unkenntnis, weiß ich nicht. Jedenfalls lebt in Borgo San Pietro eine alte Dame namens Rosalia Baldanello. Ihr scheint es gesundheitlich nicht sonderlich gut zu gehen. In den letzten Monaten wurde sie zweimal hier ins Hospital eingeliefert. Ich muss ohnehin nach Borgo San Pietro und wollte Sie fragen, ob Sie mich begleiten möchten. Wir könnten uns während der Fahrt unterhalten. Dann brauche ich mir nicht die ganze Zeit das Radiogedudel und den Polizeifunk anzuhören.«
»Aber ich habe hier meinen Wagen stehen.«
Massi verzog sein breites, von einem schmalen Schnurrbart verziertes Gesicht zu einem Lächeln. »Ich bringe Sie selbstverständlich wieder zurück.«
Enrico erklärte sich einverstanden. Im Krankenhaus konnte er zurzeit nichts tun, und er war neugierig, eine mögliche Verwandte kennen zu lernen. Er glaubte nicht, dass Bürgermeister Cavara nicht von der Frau gewusst hatte. In einem kleinen Ort wie Borgo San Pietro kannte jeder jeden.
Wahrscheinlich war Cavaras Auskunft hinsichtlich der Familie Baldanello ebenso eine Lüge gewesen wie seine Behauptung, der Pfarrer sei nach Pisa gefahren. Wenn man dann auch noch den Mord berücksichtigte, steckte vermutlich etwas Größeres hinter der Sache. Etwas, das über Enricos persönliche Betroffenheit hinaus seinen Spürsinn weckte. Strafrecht hatte ihn immer sehr interessiert, und das unscheinbare Borgo San Pietro schien ein düsteres Geheimnis zu hüten.
Sie überquerten den Fluss, bogen nach rechts ab, ließen das Hotel »San Lorenzo« hinter sich und fuhren in die Berge hinauf, während der Regen dichter wurde. Die Scheibenwischer des Polizeiwagens arbeiteten unentwegt, wenn auch unter protestierendem Quietschen.
»Wie kommt es, dass Sie in diesem Fall ermitteln, Commissario Massi?«, fragte Enrico. »Ich dachte, damit sei die Kriminalpolizei befasst.«
»Kriminalpolizei!«, schnaufte Massi verächtlich, während er den Wagen abbremste, um durch eine enge Kurve zu fahren.
»Immer wenn es in Pescia eine größere Sache aufzuklären gilt als einen Handtaschenraub oder einen Einbruch, rücken die werten Kriminalpolizisten aus der großen Stadt bei uns an und glauben, sie haben die Weisheit mit Löffeln gefressen. Für die Polizei von Pescia ist es eine Frage der Ehre, den Fall selbst aufzuklären.«
»Dann sind Sie quasi in inoffizieller Mission unterwegs?«
»Ich bestimme als stellvertretender Polizeichef von Pescia selbst meine Mission. Und ich halte es für tausendmal sinnvoller, mich in Borgo San Pietro umzuhören, anstatt mich wie diese Kriminalbeamten im Verhörzimmer mit einem Pfarrer herumzuschlagen, der so stumm ist wie ein ganzes Meer voller Fische.«
»Pfarrer Umiliani schweigt immer noch?«
»Wie ein Grab. Er gibt frank und frei zu, den Bürgermeister mit dem Kerzenleuchter erschlagen zu haben. Er sagt auch, dass er keineswegs in Notwehr gehandelt habe und dass seine Tat eine schwere Sünde und ein Verstoß gegen Gottes Gebote sei.
Er lehnt sogar die Hinzuziehung eines Anwalts ab, hat nur um geistigen Beistand gebeten. Aber wenn er nach dem Grund für seine Tat gefragt wird, stellt er auf stur. So etwas habe ich in all den Jahren als Polizist noch nicht erlebt, wirklich nicht.«
»Vielleicht ist er einfach verrückt?«, fragte Enrico. Massi schüttelte den Kopf. »Den Eindruck macht er nicht. Natürlich werden psychologische Gutachten über seinen Geisteszustand angefertigt werden, aber ich wette um ein Jahresgehalt, dass nichts dabei herauskommt.«
»Das wäre auch zu einfach gewesen und hätte nicht erklärt, warum Cavara mich angelogen hat.«
Massi warf ihm einen kurzen, hoffnungsvollen Blick zu.
»Den Grund werden wir hoffentlich in Borgo San Pietro erfahren.«
»Ja, hoffentlich«, pflichtete Enrico ihm nicht sonderlich enthusiastisch bei. Seine bisherigen Erlebnisse in dem Dorf ließen ihn nicht viel erhoffen. Er musste wieder an Elena denken und fragte: »Haben Sie inzwischen Angehörige von Signorina Vida ausfindig gemacht? Ihre Familie müsste verständigt werden.«
»Bislang sieht es so aus, als hätte sie keine Angehörigen.
Aber unsere Kollegen in Rom recherchieren noch.«
»Was ist mit ihrem Handy? Wie die meisten Menschen wird auch sie die Nummern der wichtigsten Bezugspersonen eingespeichert haben.«
»Wir haben kein Handy bei ihr gefunden, auch nicht in ihrem Hotelzimmer. Vermutlich hat sie es auf der Flucht verloren.«
Der Himmel hatte sämtliche Schleusen geöffnet, als Fulvio Massi den Polizeiwagen endlich am Rande von Borgo San Pietro abstellte. Das Dorf mit seinen abweisenden Mauern wirkte unter den grau-schwarzen Wolken düster, geheimnisvoll und bedrohlich. Der Anblick jagte Enrico einen Schauer über den Rücken, falls es nicht der kalte Wind war, der ihm frech ins Gesicht blies. Er dachte an das Unheil, das gestern hier über den Bürgermeister und über Elena gekommen war, und er fragte sich, welche bösen Überraschungen Borgo San Pietro noch bereithielt.
»Haben Sie einen Schirm?«, fragte Massi.
»Nein.«
»Ich auch nicht.«
Die engen Gassen boten ein wenig Schutz vor Wind und Regen, und so waren sie nicht völlig durchnässt, als sie das Haus des Bürgermeisters erreichten. Drinnen waren viele Menschen versammelt, und alle trugen Schwarz. Enrico meinte, vorwurfsvolle Blicke zu spüren, und er konnte es den Dorfbewohnern nicht einmal verdenken. Auch wenn Pfarrer Umiliani den Mord eingestanden hatte, blieb sein und Elenas Besuch für die Menschen hier untrennbar mit dem Tod ihres Bürgermeisters verbunden. Und mit dem Verlust ihres Pfarrers.
Für einen kleinen Ort wie diesen waren das gewiss die beiden wichtigsten Männer. Insofern bedeutete der gestrige Tag nicht nur für die Familie Cavara, sondern für das gesamte Dorf eine Katastrophe.
Die Witwe des Ermordeten nahm die Beileidsbekundungen Massis und Enricos mit unbewegtem Gesicht entgegen und führte die beiden in einen kleinen Raum, in dem sie ungestört waren. Es war ein Büro mit Aktenschrank und Computer, wo Benedetto Cavara vermutlich seinen Papierkram erledigt hatte.
Enrico wunderte sich, in was für einem vertrauten Tonfall Massi mit Signora Cavara sprach.
»Wie geht es den Kindern?«, fragte der Polizist.
»Sie haben alle geweint, aber den kleinen Roberto hat es besonders schlimm getroffen. Er kriegt den Anblick seines toten Vaters nicht aus dem Kopf.«
»Vielleicht sollten die fünf Borgo San Pietro für eine Weile verlassen.«
»Daran habe ich auch schon gedacht. Benedettos Schwester wird sie mit nach Montecatini nehmen.«
»Gut, sonst hätte ich mich angeboten. Die Kinder sind immer gern im Polizeiwagen gefahren. Sag Bescheid, wenn du meine Hilfe brauchst. Sag mal, was wollte Benedetto gestern vom Pfarrer?«
Signora Cavara schwieg und überlegte, bevor sie sagte: »Das weiß ich nicht. Er sagte nur, er muss Don Umiliani etwas Wichtiges sagen und ist zurück, bevor das Essen kalt wird. Als er nicht kam, habe ich Roberto geschickt, um nachzusehen.
Wäre ich bloß selbst gegangen!«
»Hatte der plötzliche Besuch beim Pfarrer etwas mit diesem Mann hier und seiner Begleiterin zu tun?«
»Das weiß ich nicht.«
»Aber sie sind kurz vorher bei euch gewesen, oder?«
»Ja.«
»Und was wollten sie?«
»Sie fragten nach der Familie Baldanello.«
»Was hat dein Mann geantwortet?«
Die Frau zögerte.
»Antonia, was hat Benedetto geantwortet?«
»Er sagte, dass es hier keine Angehörigen der Familie Baldanello mehr gibt.«
»Stimmt das?«, hakte Massi nach. »Antworte mir!«
»Nein. Signora Rosalia Baldanello lebt noch hier. Aber es geht ihr sehr schlecht. Der Arzt sagt, ihre Tage sind gezählt.«
»Warum hat dein Mann die Fremden angelogen?«
»Er … er wollte Rosalia vor unnötigen Aufregungen bewahren. Ihre Nichte Mariella Baldanello und deren deutsche Familie haben sich die ganze Zeit nicht um ihre Angehörigen hier gekümmert. Jetzt, wo Rosalia bald stirbt, muss dieser Fremde sie nicht belästigen.«
»Und weshalb hat Benedetto ihm gesagt, der Pfarrer sei nach Pisa gefahren?«
»Aus demselben Grund. Benedetto hat befürchtet, dass Don Umiliani den Fremden von Rosalia erzählt.«
»Und sobald die Besucher weg waren, ist dein Mann schnell zum Pfarrer gelaufen, um ihn einzuweihen, nicht wahr?«
Signora Cavara nickte. »Ja, Fulvio, genauso war es.«
»Ach! Eben hast du noch erzählt, du wüsstest nicht, warum Benedetto so übereilt zur Kirche gelaufen ist!«
»Ich … ich wusste nicht, ob ich es vor dem Deutschen sagen soll.«
»Und der Mord? Wie erklärst du dir den? Glaubst du, Pfarrer Umiliani wollte sich deinem Mann nicht fügen und hat ihn deshalb erschlagen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte die Witwe leise und blickte zu Boden, um ihre Tränen zu verbergen.
»Antonia, ich glaube dir nicht«, sagte Massi vorwurfsvoll.
»Du sagst mir nicht die ganze Wahrheit, nicht einmal die halbe!
Willst du dein Gewissen nicht erleichtern?«
Mit einem weißen Taschentuch trocknete die Frau ihre Tränen bevor sie den Polizisten ansah. »Mehr habe ich dir nicht zu sagen, Fulvio.«
»Schade«, brummte Massi und wandte sich zu Enrico um.
»Bevor Sie einen falschen Eindruck von der italienischen Polizei bekommen und denken, wir würden alle Zeuginnen in diesem Ton verhören, muss ich Ihnen Folgendes sagen: Antonia Cavara ist meine Schwester.«