Pescia

Die Ärzte, Schwestern und Pfleger im Hospital machten große Augen, als Enrico und Commissario Massi mit dem alten Angelo die Intensivstation betraten. Sie waren nur zu dritt; Ezzo Pisano hatte sich in den Bergen von ihnen verabschiedet und war zu Fuß nach Borgo San Pietro zurückgegangen.

Dr. Cardone, der Stationsleiter, baute sich vor ihnen auf.

»Was wollen Sie? Sie können hier nicht so einfach durch!«

Statt zu antworten, fragte Enrico: »Wie geht es Elena Vida?«

Ein besorgter Ausdruck trat auf Cardones Gesicht. »Nicht sehr gut, fürchte ich. Es geht mit ihr zu Ende.«

»Dann lassen Sie uns zu ihr!«, forderte Enrico und zeigte auf Angelo. »Dieser Mann kann ihr vielleicht helfen.«

»Dieser Mann?« Cardone musterte den Alten in seinen abgerissenen Kleidern und mit den nackten Füßen, die in ausgetretenen Sandalen steckten. »Ist er etwa Arzt?«

»Nein, aber er verfügt über besondere Fähigkeiten.«

»Ach ja?«, machte der Stationsleiter ungläubig. »Und die wären?«

»Wir haben jetzt keine Zeit für Erklärungen«, sagte Enrico hastig. »Lassen Sie uns doch bitte durch!«

»Den Teufel werde ich tun. Als Leiter dieser Station trage ich die Verantwortung für die Patienten.«

»Hören Sie auf den jungen Mann, Dottore!«, verlangte Massi.

»Es hat schon seine Richtigkeit.«

»Ich entscheide, was hier seine Richtigkeit hat«, schnappte Cardone. »Das ist ein Krankenhaus und kein Polizeirevier!«

Riccarda Addessi trat aus einer offenen Tür und wirkte, als habe sie die Auseinandersetzung mitgehört. Sie sah Angelo an und fragte: »Ist das der Mann, von dem Sie mir erzählt haben, Signor Schreiber?«

»Ja, das ist er«, antwortete Enrico. »Und er will Elena helfen.«

»Glauben Sie, das kann er?«

»Wenn nicht er, wer sonst?«

Dr. Addessi nahm ihren Kollegen zur Seite und redete leise, aber wortreich auf ihn ein. Die beiden gestikulierten heftig, bis Cardone laut sagte: »Also gut, Riccarda, aber auf deine Verantwortung. Das meine ich so, wie ich es sage. Ab jetzt trägst du die medizinische Alleinverantwortung für die Patientin, gleich, was passiert.«

Die Ärztin bedankte sich bei ihm und bat die anderen, ihr zu Elenas Zimmer zu folgen. Cardone schloss sich der kleinen Gruppe an. Als Dr. Addessi das Krankenzimmer betreten wollte, schüttelte Angelo den Kopf.

»Nein, nicht die Dottoressa. Nur er« – Angelo blickte Enrico an – »und ich.«

»Aber das geht nicht!«, protestierte Cardone. »Was immer Sie da drin vorhaben, Sie können es nicht ohne ärztliche Aufsicht tun!«

Angelo blickte ihn ernst an. »Wir müssen unter uns sein. Nur so können wir es vollbringen.«

Riccarda Addessi legte Cardone beruhigend eine Hand auf den Arm. »Ich übernehme die Verantwortung, Filippo.« Mit Blick auf den Commissario fügte sie hinzu: »Die Polizei kann das bezeugen. Und wenn du willst, gebe ich es dir auch schriftlich.«

Cardone ließ sich beschwichtigen, und Enrico betrat mit Angelo das Krankenzimmer. Als Enrico hinter sich die Tür schloss, kreuzte sein Blick den der Ärztin, und Dr. Addessi lächelte ihm aufmunternd zu.

Als er sich umdrehte, kniete Angelo bereits neben dem Krankenbett und hatte seine Hände auf Elenas Stirn und ihren Hals gelegt. Enrico empfand die Szene als surreal. Sosehr er auch Dr. Cardone eben noch gedrängt hatte, Angelo zu Elena vor zulassen, jetzt fragte er sich selbst, ob dieser alte Mann irgend etwas für die Sterbende tun konnte. Dabei sah man Elena nicht einmal an, dass sie dem Tod nah war. Sie schien friedlich zu schlafen.

»Knie dich auf die andere Seite und leg deine Hände auf sie!«

verlangte Angelo.

»Ich? Aber wieso?«

»Weil du mir helfen sollst. Vereint sind unsere Kräfte stärker.«

» Unsere Kräfte? Ich verfüge nicht über solche Kräfte wie Sie.«

»Doch, das tust du. Ich habe es schon bei unserer ersten Begegnung gespürt. Du hast nur nie gelernt, deine Fähigkeiten zu nutzen. Jetzt ist es an der Zeit. Knie dich hin!«

Wie in Trance befolgte Enrico die Anweisung. War der Alte verrückt? Enrico wusste nichts von besonderen Fähigkeiten ähnlich denen, die er bei Angelo vermutete. Aber er legte seine Hände auf Elenas Brust, als Angelo ihn dazu aufforderte. Was auch immer dazu dienen mochte, Elena zu helfen, er würde es tun.

»Jetzt schließ die Augen, damit du dich besser konzentrieren kannst!«, sagte Angelo.

Enrico gehorchte und fragte: »Was muss ich tun?«

»Nichts Besonderes. Denk einfach an die Frau und entspann dich! Denk daran, dass es ihr gut geht! Denk an ihre Stimme und an ihr Lächeln!«

Enricos Gedanken wanderten zurück zu seiner ersten Begegnung mit Elena. Er dachte an ihre Unterhaltung und daran, wie ihre fröhliche Art ihn beeindruckt hatte. Ein seltsames Gefühl ergriff von ihm Besitz. Erst war es nur ein leichtes Kribbeln, das von seinen Fingerspitzen in seine Hände kroch, dann seinen ganzen Körper erfasste und sich in eine Welle aus Wärme umwandelte. Wie eine warme Dusche, die ihn von innen durchströmte. Es war keineswegs unangenehm, im Gegenteil. Er fühlte sich geborgen und aufgehoben wie schon lange nicht mehr – Wie als Kind, dachte er, als er Lothar Schreiber noch für seinen leiblichen Vater gehalten hatte.

Dann aber geschah etwas Seltsames, Unheimliches: Aus dem Dunkel, das ihn umgab, tauchte eine Gestalt auf, ein hoch gewachsener Mann mit Flügeln. Nur wer diesen Traum noch nie gehabt hatte, konnte die Gestalt für einen Engel halten. Was Enrico befürchtet hatte, trat ein. Die eben noch harmonischen Züge eines Engels verwandelten sich in eine Teufelsfratze von solcher Hässlichkeit und Bösartigkeit, dass Enrico Panik ergriff.

Der Impuls, den er zu unterdrücken versuchte, wurde übermächtig: fliehen, wegrennen – nur fort von dieser monströsen Gestalt aus seinen Träumen, die mehr und mehr versuchte, in die Wirklichkeit einzudringen. Enrico fühlte sich, als verlöre er den Boden unter den Füßen. Ein tiefes Loch tat sich unter ihm auf, und er fiel hinein, tiefer und tiefer … Mit Gewalt riss er die Augen auf, und der Unheimliche löste sich von einer Sekunde zur anderen in nichts auf. Enricos Atem rasselte, und seine Hände, die noch auf Elenas Brust lagen, zitterten wie im Schüttelfrost. Er fühlte in sich noch die Panik, die der Anblick des Geflügelten ausgelöst hatte. Aber das alles zählte nicht mehr, als er in Elenas Gesicht sah. Sie hatte die Augen geöffnet und betrachtete ihn verwirrt.

»Was mache ich hier?«, kam es stockend über ihre Lippen.

Ihr Blick wanderte weiter zu Angelo, der sich langsam erhob.

»Wer …«

»Ich bin Angelo. Zusammen mit diesem jungen Mann dort habe ich dich aus dem Schlaf geholt. Jetzt müssen sich die Ärzte um dich kümmern.«

Er öffnete die Tür und winkte Addessi und Cardone herein.

Die beiden wollten ihren Augen nicht trauen, als sie Elena bei Bewusstsein vorfanden. Angelo wehrte alle Fragen ab und zog Enrico mit sich hinaus. Er ließ Commissario Massi einfach stehen und eilte mit Enrico aus der Intensivstation. In einer Ecke in der ein paar Stühle und ein kleiner runder Tisch mit Zeitschriften standen, machten sie Halt.

»Setz dich!«, sagte Angelo. »Dich hat die Sache mehr mitgenommen, als ich dachte. Was hast du gefühlt?«

Enrico schilderte seine Empfindungen und auch die Traumgestalt, die ihm erschienen war. Er berichtete Angelo, dass er dieser Gestalt in seinen Träumen schon häufig begegnet war. Er wusste nicht, warum er Angelo gegenüber so offen war.

Irgendetwas an dem Einsiedler flößte ihm Vertrauen ein.

Vielleicht war es einfach die Tatsache, dass er Elena gerettet hatte. »Was ist mit mir, Angelo?«, fragte er.

»Ich weiß es nicht. Aber mir wird klar, dass in dir mehr steckt, als ich ahnte.«

»Sie wissen auch nicht, warum ich diese Träume habe? Wie ich ihnen entfliehen kann?«

»Du kannst ihnen nicht entfliehen. Eines Tages wirst du dich dem Geflügelten stellen müssen.«

»Aber wer – oder was – ist er?«

»Vielleicht das Gute, vielleicht das Böse. Auf jeden Fall das, was du in ihm siehst.«

»Das ist keine Antwort, die mich zufrieden stellt, Angelo. Ich habe noch so viele Fragen.«

»Ich kann dir nicht mehr sagen. Ich bin müde und erschöpft.

Bitte!«

Der Einsiedler hob abwehrend die Hände, und jetzt erst bemerkte Alexander die roten Kreise in den Handtellern. Er dachte an seine gestrige Begegnung mit Kardinal Ferrio und an das Bildnis des heiligen Franz von Assisi. Die Wundmale des Herrn!

»Woher stammt das?«, fragte Enrico.

Aber Angelo schüttelte nur stumm den Kopf und wandte sich in Richtung Ausgang. Enrico fühlte sich ausgelaugt und hatte nicht die Kraft, ihn aufzuhalten. Außerdem wäre es auch nicht recht gewesen. Angelo hatte mehr getan, als er ihm jemals vergelten konnte.

Enrico wollte den schweren Kopf in seine Hände stützen.

Aber er erschrak und hielt mitten in der Bewegung inne. Auch seine Hände wiesen innen und außen die roten Flecke auf, schwächer als bei Angelo, aber eindeutig erkennbar. Vielleicht war es dieser Augenblick, in dem Enrico begriff, dass für ihn nach dieser Reise nichts mehr so sein würde wie zuvor. Hier in Italien würde sich sein Schicksal erfüllen.