37
Spät am Nachtmittag brachten sie Toby nach Hause. Er war immer noch sehr schläfrig und ging ohne Widerrede ins Bett – aber ausnahmsweise bekam er die Erlaubnis, in seinem Zimmer fernzusehen. Grammy brachte ihm die »Krankenkiste«, wie sie es nannte – einen alten Fernseher, den sie immer nur dann anschloss, wenn Toby krank war.
Alicia ging es besser. Ihr Mann war bei ihr. Louise hatte vor, morgen wieder ins Krankenhaus zu gehen, aber auch sie brauchte Ruhe. Als Toby vor den Zeichentrickfilmen einschlief, beschloss sie, sich hinzulegen, um »ihre Augen zu schließen, nur kurz«.
Sie schlief beinahe so schnell wie ihr Enkel ein.
Es dämmerte, als Rule, Lily und Cullen mit dem Einmachglas voll Blut in den Garten gingen. Dämmerung, die unentschlossene Stunde, wenn die Luft schwer war von den Düften des Geißblatts und des frisch geschnittenen Grases, von Andeutungen und Möglichkeiten.
Eine gute Zeit für das Namenlose, das zwischen Leben und Tod war, sagte Cullen.
Der erste Teil war einfach, denn dafür war weder Magie noch irgendein Ritual erforderlich. Lily musste nichts weiter tun, als sich zu erinnern.
Sie setzte sich mit verschränkten Beinen ins Gras, schloss die Augen und dachte daran, wie sie gerannt war. So schnell sie konnte, rannte sie auf den Rand einer Klippe zu, während die stechende Luft von Dis in ihren Lungen brannte und sie alles, was sie liebte, hinter sich ließ.
Doch sie spürte keine Kälte.
Sie versuchte es mit anderen Erinnerungen … Fahrrädern. Sie dachte daran, wie entzückt der andere Teil von ihr, der versteckte Teil, gewesen war, als sie sich daran zurückerinnert hatte, wie sie als kleines Mädchen Fahrrad gefahren war, und ihr anderes Ich diese Erinnerung teilte. Die andere Lily hatte keine Erinnerungen, die ihr halfen, die Hölle zu überleben. Wie der Wiedergänger, dachte sie. Wie Charley.
Aber sie hatte Rule gehabt. Sie hatte ihren Namen vergessen, aber sich an Gras und Sonnenlicht und Sterne erinnert. Sie hatte nicht gewusst, ob sie je auf einem Fahrrad gesessen hatte, aber sie konnte sich an Fahrräder erinnern. Sie hatte ihren Körper gehabt, und sie hatte Rule an ihrer Seite gehabt. Er war in Wolfsgestalt gewesen …
»Komisch«, sagte sie und schnupperte. »Riecht ihr auch Zigarrenrauch?« Und in derselben Sekunde fiel sie ins Eis.
Oder wurde gestoßen.
Es war, so undenkbar es schien, noch kälter als das erste Mal. Vielleicht war es aber auch unmöglich, sich an eine solche unbarmherzige Kälte zu erinnern, die ihr den Atem verschlug und ihre Muskeln lähmte, sodass sie ins Schwanken geriet und beinahe umgekippt wäre. Aber Rule war da. Sein Gesicht war ernst, maskenhaft, als er sie stützte und ihr in die Augen sah.
»Ich erkenne dich«, sagte er, und seine Stimme schien von tief innen zu kommen. »Die Macht der Leidolf erkennt dich.«
Und als die eisige Stimme sprach, glitten die scharfen Scherben hin und her, schmerzhaft zwar, aber auf eine Art, in der beinahe so etwas wie Hoffnung lag. Leidolf?
»Nimm … meinen Mund«, hauchte sie mit letzter Kraft, »ich gebe … Erlaubnis.«
Es glitt in die Wärme, dieses Mal fast ganz hinein! Es konnte die Beine nicht bewegen, aber die brauchte es auch nicht. Es hatte ja die Worte. Es hatte die Worte festgehalten und gewartet und gewartet. Das war so schwer gewesen, aber jetzt konnte es den Mann fragen … Es konnte sich nicht erinnern. »So hungrig«, flüsterte es mit diesen fremden Lippen. »Gib mir zu essen. Gib mir zu essen, damit ich mich erinnern kann.« Er fühlte, wie die Lippen des Körpers zuckten, und wusste nicht, wer von beiden es bewirkt hatte. »Tut weh. Tut weh.«
Aber es war die andere Wärme, die reagierte, nicht der Mann. Sie öffnete etwas … ein Gefäß … und tauchte seinen Finger hinein. Er streckte den nassen, glänzenden Finger aus. Es schloss die fremden Lippen um den Finger …
Wärme? Ja. Nein. Eine andere Art von Nichtkälte als die seines Körpers. Nur ein Hauch, aber wunderbar. So wunderbar. »Mehr.«
»Hör mir zu«, sagte der Mann. »Hör mir zu, Charles.«
Charles …?
Wieder erschien die feucht glänzende Fingerspitze. Gierig saugte es an diesem Finger, spürte, wie seine Teile sich verschoben, sich aneinander rieben …
»Nimm deinen Namen an, Charles Arthur Kessenblaum.«
Die Hitze! Es tat weh, so weh – seine Teile bewegten sich zu schnell, zu heftig! Keuchend versuchte es, den Mann fortzustoßen, aber die fremden Arme gehorchten ihm nicht. »Tut weh!«, schrie es.
Der Mann packte das Gesicht seines Körpers und starrte in seine Augen. »Charles Arthur Kessenblaum, hör auf mich. Leidolf erkennt dich.«
Leidolf, keuchte es. Es kannte dieses Wort, und es bedeutete ihm so viel, dass es dieses Wort immer und immer wieder sagen musste. Leidolf, Leidolf, Leidolf.
»Knie nieder. Heute ist dein gens compleo, Charles. Knie nieder.«
Er hatte kein Wort für das Gefühl, das ihn erzittern ließ – ein schreckliches, wundervolles Gefühl. Aber die Beine, die Beine gehorchten ihm nicht … »Nimm meine Beine«, sagte seine Hülle. »Nimm meine Arme und knie nieder. Ich erlaube es dir.«
Und dann konnte es sich bewegen. Eifrig, ungelenk kniete es sich hin und starrte den Mann an, den Mann, den es nicht kannte, der ihn aber kannte. Der Mann würde ihm alles geben können, was er brauchte.
Der Mann sah ihm in die Augen und sagte: »Charley.«
Es schrie, als die Welt in Stücke brach. Die Welt zerbrach und mit ihr alle seine Teile, aber sie brachen wunderbar richtig, als würden sie tanzen, statt gegeneinanderzuwirbeln – eine herrliche Explosion, mit der sich seine Teile … wieder … zusammenfügten.
»Ich«, flüsterte er, »Ich. Bin. Charley.«
Der Mann nickte. Noch einmal sagte er: »Charley.«
Auf einmal wusste er es. Er wusste alles, was er wissen musste. Dies war sein gens compleo, und vor sich sah er – guter Gott, er machte ja alles falsch! Schnell senkte er den Kopf und entblößte seinen Nacken.
»Charley«, sagte der Mann ein weiteres Mal.
Eifrig streckte er sich im Gras aus. Es roch wundervoll. Er hatte so etwas Wundervolles nicht mehr gerochen, seit … Aber dieser Gedanke führte zu etwas Schrecklichem, deshalb schob er ihn zur Seite.
Eine warme Männerhand legte sich auf seinen Nacken. Er bebte vor Erwartung.
Doch dann stach nichts in seine Haut. Verwirrt wartete er … und fühlte dann doch die Nässe und roch Blut, aber es war, als wenn jemand es dorthin gemalt hätte, statt das Blut unter seiner Haut zu nehmen.
Und dann brauchte er nicht mehr darüber nachzudenken, weil er spürte, wie ihn die Macht durchströmte. Unbeschreibliche Freude schüttelte seinen Körper. Ich werde nie mehr alleine sein.
Aber auch dieser Gedanke ließ ihn erzittern, genau wie der andere Gedanke, den er sich nicht getraut hatte, zu Ende zu denken. Er war verwirrt. Die schwindelerregende Welle der Macht zog sich zurück, wie die Gezeiten eines Meeres, das ihn nicht wollte – und doch zog ihn das Meer nun mit. Die Macht nahm ihn auf und wies ihn zugleich zurück – und es war gut so.
»Charley«, hörte er die Stimme des Mannes sagen, und dieses Mal klang sie anders. Traurig. »Du bist vor sieben Monaten gestorben.«
Gestorben? Aber nein, das konnte nicht sein. Er lag doch hier in diesem duftenden Gras und spürte die wunderbare Ruhe, mit der die verbindende Kraft der Clanmacht ihn erfüllte.
»Setz dich auf.«
Ja. Er setzte sich, aber er fühlte sich schrecklich ungelenk dabei.
»Sieh den Körper an, in dem du bist.«
Nein. Nein, er würde nicht hinsehen. Angst, so groß, dass sie drohte, ihn zu verschlingen, ließ ihn erstarren. »Nachdem du gestorben warst, sind schlimme Dinge mit dir geschehen, sehr schlimme Dinge. Es war nicht deine Schuld, Charley, aber du hast dir Dinge genommen, an die du nicht hättest rühren dürfen. Jetzt musst du alles zurückgeben. Gib alles zurück, was du dir unrechtmäßig genommen hast.«
Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sie fühlten sich … fremd an. Falsch. »Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Reich mir deine Hände.«
Dann tat der Mann etwas Seltsames. Er rieb etwas auf seine Haut. Etwas Körniges, das roch wie … Salz? Es … es brannte. Brannte und riss ihn entzwei … wieder in Stücke. Stücke, Scherben, schreckliche Erinnerungen, die ihn überall schnitten – sein Auto, das gegen einen Baum fuhr, der Schmerz! Das Steuer, das ihn zerdrückte, seine Brust zermalmte, oh Gott, Mommy … Und seine Mutter, weinend, die etwas mit seinem Körper machte – lieber Gott, mit dem Körper seines Wolfs. Er hatte sich gewandelt und war gestorben, aber seine Mutter …
Kälte. Ungeheure, unaufhaltsame, furchtbare Kälte.
Jetzt flogen die Splitter schneller. Er war in dem Körper eines Hundes, nicht dem eines Wolfes. Er jagte und tötete, aber er fraß nicht das Fleisch des Waschbären. Er fraß …
Charley würgte, aber sein Körper – in welchem Körper auch immer er sich befand – brachte nichts heraus. Der Mann hielt ihn mit sanftem Griff, während er versuchte, sich von den Dingen zu befreien, die dieser Körper nie getan hatte.
»Da war ein Gewehr«, flüsterte Charley. »Ich erinnere mich … ein alter Mann und ein Gewehr. Er hat geweint.«
»Das warst nicht du«, sagte der Mann. »Das war der Wiedergänger.«
»Aber ich erinnere mich …« Dann verstand er. »Der Wiedergänger hatte kein Ich.« Es hatte nie »ich« gedacht, noch nicht einmal so viel Bewusstsein war ihm vergönnt gewesen. Nur die schwärzeste Magie hielt ihn, seine Stücke, zusammen. Und sein Leiden. Der Wiedergänger war sich nicht seines Ichs bewusst gewesen, aber er hatte gewusst, dass er litt.
»Jetzt weißt du, was du zurückgeben musst. Und du kannst es, Charley. Du hast mich einmal angegriffen. Als du erkanntest, dass ich einen Teil der Macht besitze – den Teil der Leidolf-Clanmacht –, hast du die ganze Todesmagie, die du benutzt hast, zurückgenommen. Selbst in deinem gespaltenen Zustand wusstest du, was du zu tun hattest.«
Charley erinnerte sich daran – und schob die Erinnerung schnell beiseite. »Ich will so etwas nicht mehr tun«, sagte er flehend. Was er genommen hatte … was er verschlungen hatte … Es war falsch, so schrecklich falsch. Aber wenn er alles zurückgäbe, würde er sterben. Er wollte nicht sterben. »Ich weiß es jetzt besser. Ich erinnere mich. Ich werde so etwas nicht mehr tun.«
Der Mann umfasste Charleys Gesicht fest mit beiden Händen. »Gib es zurück.«
»Nein, ich will nicht!«, schrie er.
Die dunklen Augen schlossen sich. Das Gesicht des Mannes – wer war er? – wurde regungslos, als würde er angestrengt nachdenken oder beten. Aber seine Finger fassten Charleys Gesicht fester. Er begann, schneller zu atmen – so schnell wie Charley. Und Charleys Herz hämmerte – aber, oh, es war so gut, wieder einen Herzschlag zu haben! Er wollte ihn behalten. Er würde ihn behalten.
Auf einmal schnappte der Mann nach Luft. Er schwankte, doch er ließ Charleys Gesicht nicht los. Seine Augen öffneten sich, und jetzt schienen sie noch dunkler als zuvor zu sein. Er sagte noch einmal Charleys Namen und sprach dann langsam weiter, wie jemand, dem man gehorchen musste. »Du wirst alles zurückgeben. Du wirst alles freigeben, was du genommen hast.«
Oh, dachte Charley und starrte in diese Augen. Dies war nicht irgendein Mann. Dies war sein Rho. Sein Rho gab ihm einen Befehl.
Und Charley weinte. Doch er schämte sich seiner Tränen nicht. Sein Rho befahl ihm, sein Leben zu geben. Das war eine Ehre. »Ja«, flüsterte er. »Ich werde tun … was du sagst. Aber bitte … das Feuer? Wenn dies mein gens compleo ist … darf ich dann erst zum verbindenden Feuer?«
Der andere Mann – der, den Charley als eine warme Hülle gesehen hatte, als etwas, das er benutzen oder töten konnte – machte ein Feuer. Hier, mitten ins grüne Gras, das so süß duftete, warf er ein Feuer, so einfach wie jemand, der Körner aussät. Es war klein, aber es reichte ihm. Es war grün wie das Gras, aber heller, strahlender. Und als Charley seine Hand hineinhielt, tanzte es seinen Arm hinauf, kitzelte ihn.
Noch während das Feuer mit ihm spielte, begann er loszulassen. Eigentlich war es ganz einfach. So wie der Wiedergänger instinktiv gewusst hatte, wie er sich nähren musste, wusste Charley nun, wie er das, was er genommen hatte, loslassen musste. Jetzt war es nur noch Energie.
Doch als er fertig war, blieb etwas übrig. Etwas Mächtiges und … Geformtes. Nicht nur Energie. Etwas unglaublich Schönes.
»Bist du bereit?«, fragte jemand.
Er hob den Blick, als die letzten Zungen des grünen Feuers über seine Hände flackerten und erloschen. Ein schwarzer Mann mit einem weißen Gesicht und einem Zylinder stand nur wenig entfernt vor ihm und lächelte. Er sah merkwürdig aus, aber richtig. Irgendwie sah er richtig aus.
»Wer bist du?«
Mit einer leichten Verbeugung lüftete der Schwarze seinen Hut. »Ich bin dein Chauffeur. Ich bin gekommen, um dich abzuholen.«
»Aber was mache ich damit?« Er deutete auf eine Weise, die er nicht beschreiben konnte, auf die geformte Energie, die immer noch in ihm lag. »Alles andere ist fort, aber dies ist noch da.«
»Das bleibt auch da. Nur du gehst. Lass es einfach da, wo du es gefunden hast.« Der Mann streckte ihm die Hand hin.
Charley ergriff sie.
Lily spürte, wie er sie verließ. Und sie spürte, was er zurückgelassen hatte – genau dort, wo er es gefunden hatte. »Rule«, sagte sie staunend, »Rule, das Band der Gefährten ist –«
Aber sie konnte nicht ausreden, denn ihr Geliebter, ihr Gefährte, ihr Rule drückte sie an sich und lachte glücklich. Lachte, noch während er seine Lippen auf ihre drückte.
Am Tag nachdem Charley zum zweiten und letzten Mal gestorben war, saß Rule mit seinem Sohn auf der Verandaschaukel. Heute ohne Reporter, Gott sei Dank. Das Gras war nass von einem nächtlichen Schauer, und der graue Himmel prophezeite weiteren Regen. Dieses Mal war das Thermometer gefallen; es war sechs Grad kälter als noch gestern um dieselbe Zeit.
Gestern Abend waren Nettie und Cynna in Charlotte gelandet. Cullen hatte sie abgeholt und nach Halo gebracht, direkt ins Krankenhaus, in dem eine ungehaltene Lily festgehalten wurde, während die Fachärzte sich darüber stritten, ob man sie entlassen könne. Ihr MRT-Scan hatte nichts Auffälliges gezeigt – obwohl jeder, der von dem Wiedergänger besessen gewesen war, bislang einen Hirnschaden davongetragen hatte.
Ruben hatte Nettie die erforderliche Unbedenklichkeitsbescheinigung ausgestellt, sodass sie Zugang zu allen Untersuchungsergebnissen von Meacham und Hodge hatte. Diese studierte sie ebenso wie Lilys Testresultate. Außerdem hatte sie Lily mittels der Kräfte untersucht, die Heilerinnen eben nutzen, um einen Körper zu erspüren. Schließlich war sie dann zu einer Theorie gelangt, auf die sich auch die anderen Experten einigen konnten: Besessenheit löste Veränderungen in der Chemie des Gehirns aus – Veränderungen, die zuerst nur geringfügig waren, aber dann einen Dominoeffekt in Gang setzten, der, wenn er unentdeckt blieb, irreversible Schäden zur Folge hatte.
Aber Lily war noch nicht in diesem Stadium. Es gab Anzeichen für Veränderungen, aber das Band der Gefährten schien den chemischen Prozess aufgehalten zu haben. Trotzdem hatte Nettie Lily Bettruhe verordnet – wogegen Lily Einspruch erhoben hatte, aber Netties Anordnungen widersetzte sich niemand, nicht einmal Rules Vater. Jetzt lag Lily brav in ihrem Bett im ersten Stock und schlief wahrscheinlich.
Bei Lily konnte Nettie ihre Heilgabe nicht direkt einsetzen. Auf Sensitive hatte Magie keine Wirkung, selbst wenn sie erwünscht gewesen wäre. Aber Nettie versetzte Lily in einen Schlafzustand, einen tranceähnlichen Zustand, der den natürlichen Heilungsprozess ihres Körpers unterstützte. Nettie behauptete, dies sei nur möglich, weil sie als Shamanin auch spirituelle Hilfe hinzuzöge und Lilys Gabe nichts gegen das Spirituelle habe.
Wie der Wiedergänger auf überzeugende Weise bewiesen hatte.
Die ganze Sache ärgerte Lily maßlos – aus demselben Grunde, aus dem sie sich durch das Band der Gefährten unwohl und durch religiösen Glauben verunsichert fühlte. Weder das eine noch das andere war objektiv messbar. Oder gab klare, logische Antworten auf ihre Fragen.
Eine hellgrüne Limousine fuhr vorbei. Eine Frau mittleren Alters und ein großer, fröhlicher Labrador trotteten trotz des drohenden Regens den Bürgersteig entlang. Die Frau lächelte ihnen zu und nickte. Der Labrador guckte erstaunt.
Wahrscheinlich hatte er Rule gerochen. »Was hältst du von einem Labrador?«, fragte er. »Das sind kräftige Hunde, die auch mit einem niedrigen Rang zufrieden sind, solange sie genug Futter und Liebe bekommen.« Da jeder Lupus, dem der Hund begegnen würde, im Rang über ihm stehen würde, war das ein wichtiger Faktor. Es gab Rassen, die waren zu dominant für ein Leben auf dem Clangut.
»Vielleicht.« Toby sah dem Hund nach, der zweimal stehen blieb, um über die Schulter zu ihnen zurückzusehen. Er kicherte. »Traut seiner Nase wohl nicht, was?«
Alicia war immer noch im Krankenhaus. Sie hatte irgendetwas mit ihrer Schulter angestellt – was es war, hatte Rule nicht so genau verstanden –, das die Ärzte veranlasst hatte, sie noch einen Tag länger dazubehalten. Morgen würden sie und James zurück nach D.C. fahren. Rule hatte angeboten, mit Lily in ein Hotel zu ziehen, damit Alicia bei ihrer Mutter wohnen konnte, aber Alicia hatte nichts davon hören wollen.
Vielleicht war es so das Beste. Toby hatte die Vorstellung, dass sein Vater woanders wohnen würde, gar nicht gefallen. Rule sollte hierbleiben, »um Grammy zu beschützen«.
Offensichtlich war Grammy nicht die Einzige, die nach Tobys Meinung schutzbedürftig war. Ohne seinen Vater fühlte er sich nicht mehr sicher in dem Haus, in dem er aufgewachsen war, und das bereitete Rule Kummer.
Toby schien sich jedoch langsam wieder zu erholen. Als die Nachwirkungen der Droge erst einmal nachgelassen hatten, hatte er sie mit Fragen bestürmt. Ging es seiner Mutter gut? Warum hatte diese Frau ihn entführt? Was war mit ihr geschehen? Was war mit dem Wiedergänger passiert, den sie erschaffen hatte? War es in Ordnung, wenn man eine Frau tötete, wenn diese dich zuerst töten wollte?
Auf die letzte Frage hatte Rule nicht gewusst, was er antworten sollte. Er konnte mit seinem Sohn über das Töten sprechen, aber über das Töten einer Frau … Lily war da gewesen, und sie hatte nicht gezögert. »Jemanden zu töten muss immer die letzte Möglichkeit sein«, hatte sie gesagt. »Aber manchmal gibt es keine andere Möglichkeit. Ist es in Ordnung, einen Hund zu töten?«
»Nein!«, hatte Toby ausgerufen, ungläubig, dass sie ihm diese Frage überhaupt stellte.
»Ich musste zwei Hunde erschießen, die mich angegriffen haben. Sie waren krank und besessen von dem Wiedergänger, aber obwohl das nicht ihre Schuld war, musste ich sie töten, weil sie sonst mich getötet hätten. Ich hatte keine Zeit, nach einer anderen Lösung zu suchen. Sie griffen zu schnell an. War das in Ordnung?«
Toby dachte nach. »Vielleicht ist es ein bisschen in Ordnung, aber vor allem ist es traurig.« Er überlegte und fragte dann: »War die Frau, die mich entführt hat, krank wie die Hunde?«
»Nicht auf dieselbe Weise, aber sie war krank. Sie hat ein paar schlimme Dinge getan, und als sie dich verschleppte, wusste sie nicht mehr, was sie tat.«
»Dann ist das auch traurig, finde ich.«
Als er jetzt auf der Veranda in der Schaukel saß, lächelte Rule. Seine nadia war klug. Und sein Sohn auch. Sie stellten die richtigen Fragen.
Die grüne Limousine fuhr ein zweites Mal vorbei.
»Dad?«
»Ja?«
»Wusstest du, dass Lily auch entführt wurde, als sie in meinem Alter war?«
Überrascht blickte Rule Toby an. »Ja, das wusste ich. Hat sie dir davon erzählt?«
»Hm-mm. Ein Mann hat sie und ihre Freundin entführt, und die Polizei ist gekommen und hat sie gerettet, aber es war zu spät für ihre Freundin. Sie sagte, dass manchmal schlimme Dinge passieren, für die wir nichts können, aber trotzdem denken wir immer wieder darüber nach, wie wir sie hätten verhindern können, und dass ich mit dir darüber reden soll, wenn ich solche Gedanken habe.«
»Und hast du jetzt solche Gedanken?«
»Irgendwie schon.« Toby rutschte unruhig hin und her. Dann sagte er: »Ich denke immer wieder, wenn ich nicht hätte Minigolf spielen wollen, wäre Mom nicht zu dieser Tankstelle gefahren. Dann wäre sie auch nicht verletzt worden und ich nicht entführt und Lily hätte die kranke Frau nicht töten müssen.«
»Vielleicht. Oder die kranke Frau hätte versucht, dich woanders zu entführen, und noch mehr Menschen wären verletzt worden.« Rule drückte Tobys Schulter. »Es ist ein Unterschied, ob du aus deinen Fehlern lernst oder glaubst, alles würde allein von deinen Entscheidungen abhängen, so als wären die Entscheidungen der anderen nicht wichtig. Du bist nicht verantwortlich für die Handlungen anderer.«
»Ja, aber … aber dann können wir uns ja nie sicher sein. Wir können nicht wissen, wie wir uns verhalten müssen, um nicht in Gefahr zu geraten.«
»Das Leben ist gefährlich.« Es war eine harte Lektion, aber eine, von denen die Lupi glaubten, dass Kinder sie lernen mussten. »Wir können nur wissen, ob wir im Moment sicher genug sind.«
»Ich weiß, aber …« Toby verstummte und machte ein unglückliches Gesicht.
»Aber es zu wissen ist etwas anderes, als es auch zu spüren.«
»Ja.«
»Hmm.« Es hatte noch nicht angefangen, richtig zu regnen, doch feiner Nieselregen färbte die Luft so grau wie den Himmel.
Kinder mochten keine Grautöne. Verzweifelt suchte Rule nach den richtigen Worten, um Toby zu erklären, was »sicher genug« bedeutete. »Der Wolf in dir schläft wahrscheinlich zu tief, um dir eine Hilfe zu sein, aber vielleicht kannst du dir vorstellen, was er zum Thema Angst und Gefahr zu sagen hat.«
»Wenn ich mich wandeln könnte«, begann Toby, stockte dann aber und guckte grimmig. »Ich wollte sagen, dann würde ich keine Angst haben, aber auch Wölfen kann etwas zustoßen, also ist das Unsinn. Weiß dein Wolf, dass ihm etwas zustoßen kann?«
»Oh ja.«
»Aber er hat trotzdem keine Angst?«
Am liebsten hätte Rule Toby die Antwort gegeben, die er von ihm hören wollte, aber er hielt sich zurück. Auf manche Antworten musste er alleine kommen. »Wölfe fühlen Angst. Wovor könnte dein Wolf Angst haben, was meinst du?«
»Gewehre vielleicht. Größere Wölfe, vor allem, wenn sie böse auf ihn sind. Etwas, das ihn in die Luft sprengen könnte.« Toby dachte einen Moment nach, den Blick in die Ferne gerichtet, als würde er seinen schlafenden Wolf befragen. »Oh, das ist alles etwas, das jetzt passiert, oder? Nicht etwas, das vielleicht passieren könnte.«
Rule lächelte. »Das stimmt. Wölfe fürchten sich vor unmittelbaren, nicht vor möglichen, erdachten Gefahren.«
»Dann hat der Wolf also recht? Wir sollten keine Angst vor etwas haben, das nicht jetzt passiert?«
»Im Großen und Ganzen, ja. Die Welt ist komplex, und Wölfe können nicht mit abstrakten Risiken oder Eventualitäten umgehen, deswegen gibt der Wolf dem Mann einen Rat für die Gegenwart, aber der Mann dem Wolf einen Rat für die Zukunft. Der Wolf braucht den Mann ebenso wie der Wolf den Mann.«
Toby sagte düster: »Ich bin noch kein Mann, und der Wolf in mir schläft. Ich weiß nicht, was eine echte Gefahr ist und was nicht.«
»Deine Aufgabe ist es jetzt, das zu lernen. Und meine ist es, dich zu beschützen …« Rule verstummte, als die grüne Limousine sich wieder näherte. »… dich zu beschützen, während du lernst.«
Auch Toby beobachtete den Wagen. »Das ist Alex. Warum hält er nicht an? Ist er jetzt eine Gefahr, weil du dir die Macht der Leidolf genommen hast und so?«
Rule wusste, dass sein Körper seine Wachsamkeit verriet und dass Toby es bemerkt hatte. »Vielleicht ist er wütend, aber er wird mir nichts tun oder auch nur den Versuch machen. Ich bin sein Rho. Aber in Zukunft könnte er vielleicht eine Gefahr für mich oder die, die mir nahestehen, oder für meine Pläne sein.« Er erhob sich und warf einen Blick auf seinen Sohn hinunter. »Geh bitte jetzt ins Haus. Nicht weil es gefährlich für dich werden könnte, sondern weil Alex darauf wartet. Es ist ein Zeichen von Respekt.« Er machte eine Pause und musste lächeln. »Und sag Lily, dass sie herauskommen kann. Als Auserwählte wird ihre Anwesenheit keine Respektlosigkeit sein.«
»Okay, aber Nettie wird es nicht gefallen, wenn Lily aufsteht.«
»Ich fürchte, sie ist bereits aufgestanden.«
Die Haustür öffnete sich. »Ich habe vielleicht nicht eure guten Ohren, aber ich bin nicht taub«, sagte Lily.
»Außerdem hast du eben das Fenster geöffnet.«
»Stimmt. Ich habe gesehen, dass Alex um den Block fuhr.« Sie trat auf die Veranda – barfuß und nur mit einem alten T-Shirt und Jeans bekleidet … und unter dem T-Shirt trug sie nichts. In ihrer Eile hatte sie keinen Büstenhalter angezogen. Sein Körper wusste das zu schätzen.
Sie sah gut aus. Sie sah wunderschön aus, aber das tat sie ja immer. Was jedoch wichtiger war: Sie roch gesund. Trotzdem hätte sie nicht aufstehen dürfen.
»Warum ist es nicht respektlos, wenn sie dabei ist, wenn ich dabei bin, aber doch?«, fragte Toby, während er widerstrebend auf die Tür zuging.
»Später.« Alex hatte gehalten. Rule hörte, wie der Motor abgestellt wurde. »Ich erkläre es dir später, aber im Wesentlichen liegt es daran, dass sie eine Auserwählte ist. Lily, setz dich lieber.«
Toby seufzte und schloss die Tür hinter sich. Lily stellte sich neben Rule. »Ich bin so ausgeruht, dass ich schreien könnte«, sagte sie. »Aber das wird Nettie nicht davon abhalten, mich wieder einschlafen zu lassen, sobald sie mich ausgeschimpft hat, weil ich aufgestanden bin. Dabei geht es mir prima. Du darfst mich stützen, wenn du willst«, sagte sie, als würde sie ihm einen Gefallen tun.
Eine Welle der Liebe erhob sich, hoch wie ein Tsunami, und brach über ihm zusammen, riss ihn mit sich fort. Es würde ihr nie in den Sinn kommen, ihm zu gehorchen. Was sie tat, tat sie, weil es ihre Wahl war. Und seine Auserwählte wählte ihn immer wieder aufs Neue.
Er kam ihrer Aufforderung nach und legte den Arm um ihre Taille, um sie zu stützen, so wie sie es zuließ … Auch sie war gekommen, um ihn zu stützen.
Gleichgestellte. Das war für einen Lupus nichts Selbstverständliches, aber sie war eine eigenständige, starke Persönlichkeit, die sich ihm weder beugen noch darauf bestehen würde, dass er sich ihr unterwarf. Sie war wie ein unerwartetes Geschenk.
Während er zusah, wie Alex über den Rasen ging, kam ihm ein Gedanke. Es war nicht das erste Mal, und er war ihm ursprünglich so fremd vorgekommen, dass er ihm wenig Beachtung geschenkt hatte. Aber mehr und mehr gefiel ihm die Idee, fühlte sie sich richtig an. So fremd und doch so richtig.
Und schwierig auch, dachte er ironisch und strich mit den Lippen über Lilys Haar. Er hatte den starken Verdacht, dass seine nadia nicht unschuldig daran war. Aber was wäre das Leben ohne Schwierigkeiten?
Er wandte seine volle Aufmerksamkeit dem Mann zu, der sich ihnen jetzt näherte.
In dem grauen Nieselregen glänzte Alex’ Haut wie geschmolzene Schokolade. Er war nicht groß – Rule überragte ihn um beinahe acht Zentimeter –, aber er war breitschultrig und muskulös.
Rule hatte Alex schon kämpfen sehen. Er war trainiert, stark und schnell – ein ausgezeichneter Gegner, egal in welcher Gestalt. Als er Toby gesagt hatte, Benedict habe eine hohe Meinung von Alex’ Fähigkeiten, hatte Rule die Wahrheit gesagt.
Aber auch Rule war trainiert, stark und schnell. Und er hatte einen Vorteil: Er war von Benedict ausgebildet worden.
»Worauf müssen wir uns einstellen?«, murmelte Lily leise.
»Wir werden wohl erfahren, wie er zu dem neuen Rho steht.« Höchstwahrscheinlich würde Alex ihn herausfordern. Es gab andere Wege, einen neuen Rho offiziell anzuerkennen, aber Rule sah ein, dass er den Anspruch auf einen friedlichen verwirkt hatte, als er Victor Frey getötet hatte.
Zumindest was diesen Mann anging. Von keinem anderen Leidolf würde Rule eine Herausforderung akzeptieren. Aber Alex war Freys Lu Nuncio gewesen und hatte ein Anrecht darauf, seine Empörung zum Ausdruck zu bringen. Deshalb würde Rule eine Herausforderung annehmen, ohne die Macht zu nutzen. Es war besser, er erlaubte dem Mann, seinen Zorn auf ehrenhafte Weise auszudrücken … Doch eines stand fest: Rule würde gut daran tun, diese Herausforderung zu gewinnen.
Alex blieb vor der Verandatreppe stehen. Er legte den Kopf nur eben so weit nach hinten, dass er Rule in die Augen sehen konnte. Die Macht der Leidolf regte sich in Rule, wurde unruhig, weil sie auf die unausgesprochene Provokation, die in diesem festen Blick lag, antworten wollte.
Rule hielt sie zurück. Keiner der beiden Männer sagte etwas.
Dann brach Alex das Schweigen mit vier knappen Worten: »Ich grüße meinen Rho.« Er fiel auf die Knie – und ließ sich dann unbeholfen vor ihm mit dem ganzen Körper nieder. Er streckte sich lang auf dem feuchten Gras aus.
Rule war so verblüfft, dass er im ersten Moment nicht wusste, wie er reagieren sollte. Er stieg die Verandastufen hinab, bückte sich und berührte Alex’ Nacken mit der Hand. »Steh auf«, sagte er leise.
Alex stand anmutiger auf, als er sich hingelegt hatte. Sein Mund zuckte – nur ganz leicht zwar, aber für diesen schweigsamen Mann war es beinahe ein Lächeln. »Du guckst aber komisch.«
»Ich bin …« Völlig überrascht. »Selten habe ich mich so sehr geirrt wie dieses Mal. Warum stellst du meinen Anspruch nicht infrage? Oder die Art, wie ich mir die Macht genommen habe?«
Alex schnaubte. »Hast ja lange genug dafür gebraucht.«