28
Das Abendessen hätte schlimmer verlaufen können. Das hatte sich Lily mehr als einmal gesagt, während sie aßen. Der Wiedergänger hätte auftauchen können, oder eine besessene Alicia hätte Lily den Dolch in den Rücken bohren können, statt sie nur verbal zu traktieren. Das wäre schlimmer gewesen.
Aber dagegen hätte sie sich leichter verteidigen können. Alicia war clever genug, sie nicht offen anzugreifen – eher so, als würde sie zu viel Salz statt Gift ins Essen geben. Die anderen bemerkten es sicher gar nicht. Normalerweise hätte Rule sich längst eingemischt, aber er war, obwohl er wie immer perfekte Manieren an den Tag legte, abgelenkt. Erschüttert sogar, vermutete Lily. Möglicherweise war dies nicht der beste Zeitpunkt gewesen, ihn darauf hinzuweisen, dass er zwei Clans hatte.
Glücklicherweise war Lily für Alicia, die ihre Aufmerksamkeit vor allem ihrem Sohn schenkte, nur eine Beilage.
Lily saß nahe genug, um mitzuhören. Zuerst war Toby steif und abweisend. Alicia ließ nicht locker und stellte ihm Fragen, bis sie ihn so weit hatte, dass er über Fußball, Die Simpsons und seinen sehnlichen Wunsch nach einem kleinen Hund sprach, den sein Vater ihm versprochen hatte, wenn sie auf das Clangut zogen. Von diesem Versprechen wusste Lily; sie war bei den Verhandlungen dabei gewesen.
Als er von dem Hund sprach, schob Toby herausfordernd das Kinn vor. Alicia fragte ihn, welche Art von Hund er sich wünschte, und dann besprachen sie die Vor- und Nachteile von Beaglen und Dänischen Doggen, die, so schien es, beide für Toby akzeptabel waren. Alles in allem zeigte Alicia sich geduldig, aufmerksam und interessiert. Nicht wirklich mütterlich vielleicht – eher wie eine große Schwester oder eine Lieblingstante. Aber sie stellte sich nicht schlecht an. Eigentlich sogar recht gut.
Wo war denn dann die Vorsitzende des Narzissten-Clubs geblieben, die Lily heute schon kennengelernt hatte?
Lily wandte sich wieder ihrer Aufgabe zu, ein guter Gast zu sein. Alex, der zu ihrer Linken saß, war die Sorte Mann, die so tat, als habe sie bei der Geburt nur eine beschränkte Anzahl Wörter zugeteilt bekommen, und müsse nun sparsam damit umgehen. Es kostete sie einige Mühe, ihn zum Reden zu bringen, aber als sie ihn auf seine neue Sig Sauer ansprach, taute er auf. Wie die meisten Lupi hatte er eine Abneigung gegen Schusswaffen – aber nach den Ereignissen im letzten Dezember hatte er beschlossen, sie zu überwinden.
Cullen war damit beschäftigt, bei allen Anwesenden seinen Charme spielen zu lassen – inklusive dem neuen Ehemann. Sie waren in eine Diskussion über Schakale vertieft – die anscheinend enge Verwandte der Wölfe waren – und die Vorteile von Tryptophan in der Ernährung von Canis.
James French gab Lily Rätsel auf. Er war so … nichts sagend. Das Einzige, was an ihm auffiel, war sein brauner Teint, der, wie sie erfahren hatte, daher rührte, dass er so viel Zeit wie möglich mit der Beobachtung der Fauna im Libanon verbrachte. Er war zwar Ökonom von Beruf, aber in seiner Freizeit ein leidenschaftlicher Naturkundler. Er war dünn, vielleicht eins dreiundsiebzig groß, hatte sanfte braune Augen und trug eine Goldrandbrille. Lily fragte sich, ob sie schon einmal eine harmloser wirkende Person getroffen hatte.
Selbst ohne Rubens Ahnung hätte sie so viel Farblosigkeit verdächtig gefunden.
Endlich war es Zeit für die milchfreien Brownies im Wohnzimmer. Schokolade und Kaffee schmeckten immer, auch wenn der Kaffee besser geschmeckt hätte, wenn er nicht entkoffeiniert gewesen wäre. Er war recht gut, doch Lily bemerkte, dass Rule kaum an seiner Tasse nippte.
Er behauptete hartnäckig, dass Koffein keine Wirkung auf ihn hatte. Sie hatte ihre Zweifel.
Rule, Alex und Lily saßen auf einer Couch, Alicia, James und Toby auf der ihnen gegenüber. Louise hatte zwei Sessel aus dem Arbeitszimmer herbeigeschafft. Cullen saß in dem bei dem Klavier, Louise in dem vor dem Fenster. Connie hatte sich gleich nach dem Essen entschuldigt und gesagt, sie könne nicht schlafen, wenn sie Schokolade äße. Lily vermutete jedoch, dass sie nicht bei der Familienbesprechung stören wollte.
Toby schlang seine Brownies herunter und sprang von der Couch auf. »Dann kann ich ja jetzt meine Sachen holen. Ich schlafe heute bei Justin, Mom«, fügte er hinzu. »Du erinnerst dich doch an Justin.«
Überrascht und wenig erfreut warf Alicia ihrer Mutter einen Blick zu. »Ich wusste nicht, dass Toby heute Abend noch weggehen würde.«
»Ganz gleich, wie die Entscheidung ausfallen wird«, sagte Louise ruhig, »wird Toby sich doch von seinen Freunden trennen müssen. Da ist es nur verständlich, dass ich ihm erlaubt hatte, Zeit mit ihnen zu verbringen, solange es noch möglich ist.«
»Trotzdem finde ich, du hättest mich fragen können.« Alicia sah Toby an. »Du musst auch mich um Erlaubnis bitten.«
Toby presste die Lippen aufeinander. Er schwieg.
Louises Gesichtsausdruck änderte sich nicht, als sie nun zu ihrer Tochter sagte: »Willst du wirklich gerade jetzt meine Autorität infrage stellen, Liebes?«
»Deine Autorität? Ich habe das Sorgerecht für meinen Sohn.«
James French lehnte sich vor und legte eine Hand auf Alicias Knie. »Licia«, sagte er warnend.
Wütend drehte sie sich zu ihm um. Ihre Blicke trafen sich. Langsam wich die Wut der Reue. »Die falsche Schlacht?«
Er nickte und lächelte schwach. »Und außerdem zur falschen Zeit am falschen Ort.«
Sie verdrehte die Augen. »Okay. Toby, ich sollte die Entscheidungen deiner Großmutter nicht infrage stellen. Aber wenn du bei mir wohnst, erwarte ich ein anderes Benehmen von dir.«
Jetzt war Toby derjenige, der wütend war. Er öffnete den Mund.
»Toby«, sagte Rule.
Dieses Mal tauschten Vater und Sohn Blicke. Dann seufzte Toby. »Ja, Ma’am. Ich denke dran, wenn ich mich entscheide, bei dir zu wohnen.«
Bevor Alicia etwas auf seinen Nachsatz erwidern konnte, sagte Rule: »Alex hat angeboten, dich zu Justin zu fahren. Keine Widerrede«, sagte er, als Toby wieder den Mund öffnete.
Toby stand auf und nickte Alex würdevoll zu. »Danke. Ich finde zwar nicht, dass es nötig ist, aber danke.«
Als Toby die Treppe hinaufging, fing James gerade an, sich mit Alex zu unterhalten, indem er ein Thema ansprach, das alle Männer verband: Football. Lily nutzte die Gelegenheit, um sich zu Rule zu beugen und ihm zuzuflüstern: »Haben Justins Eltern keine Angst, dass Toby ihn ansteckt?«
»Nachdem ich eingekauft hatte, habe ich mich ein bisschen mit Mr Appleton unterhalten«, sagte er leise. »Ich habe ein paar seiner Bedenken ausräumen können, indem ich, äh … ihm erlaubt habe, seine Hände auf mich zu legen und zu beten.«
Oje. Lilys Lippen zuckten. »Hat er dich mit einem Dämon verwechselt?«
»Benimm dich.« Aber auch Rules Mundwinkel hoben sich. »Toby sollte heute Nacht wirklich lieber dort sein. Cullen macht sich Sorgen um Talia. Sie lernt schnell, aber noch kann sie keinen dauerhaften Kreis aufbauen und ist deshalb ungeschützt, wenn sie schläft.«
Toby kam die Treppe heruntergesaust, einen Rucksack über der Schulter. »Bye, Grammy! Bye, Dad! Bye zusammen! Alex, bist du fertig?«
Doch erst rief Louise Toby noch einmal ins Zimmer, damit er sich anständig von allen verabschiedete und um ihm zu sagen, dass er Alex mit Mr Thibideux anzusprechen habe. Alex zog sich mit vollendeter Höflichkeit zurück. Noch während die Tür sich hinter ihnen schloss, fragte Toby Alex, ob er wirklich »fast so gut wie Onkel Benedict« wäre.
Alicia blickte Rule an und fragte zweifelnd: »Bist du sicher, dass er gut bei diesem Alex Thibideux aufgehoben ist?«
Lily fragte sich, ob Alicia sich Sorgen machte, weil sie den Mann nicht kannte oder weil sie Vorurteile hatte. Alex musste ein Mischling sein – sein Vater war wohl weiß gewesen, denn die Leidolf waren ursprünglich ein germanischer Clan gewesen –, aber er sah nicht wie einer aus. Er war sehr groß und sehr dunkel. Zufällig wusste Lily, dass er einen Abschluss in Soziologie hatte, aber das, wie auch die Herkunft seines Vaters, sah man ihm nicht an.
»Sehr sicher. Er würde lieber sterben, als zuzulassen, dass Toby etwas geschieht.« Rule verzog die Lippen langsam zu einem wölfischen Lächeln. »Und Alex ist nicht einfach zu töten.«
»Das kann man sagen«, sagte Cullen fröhlich. »Wollt ihr, dass ich auch gehe? Ich hoffe nicht. Jetzt kommen wir doch zum interessanten Teil des Abends.«
Alicia sah Rule an und seufzte leise. »Ich nehme an, du hast dafür gesorgt, dass Toby nicht hier ist, damit wir uns ungestört unterhalten können.«
»Das ist ein Grund, ja. Wir müssen über deinen plötzlichen Sinneswandel beim Sorgerecht sprechen.«
»Da gibt es nichts zu besprechen. Hör zu, Rule.« Sie lehnte sich vor, ihre Hände umfassten die Knie. Da sie ein kurzes, grün-weißes Kleid mit tiefem Ausschnitt trug, hatte er freien Blick auf ihre Brüste. »Ich habe Toby von dem Moment an geliebt, als ich das erste Mal sein faltiges, rotes Gesichtchen sah, aber ich gebe zu, dass ich eine Weile gebraucht habe, um meine Verantwortung für ihn zu akzeptieren. Der Beinbruch meiner Mutter dieses Jahr hat mich wachgerüttelt.«
Rules Gesicht war ausdruckslos. »Du liebst ihn? Nein. Du magst ihn sehr gern, aber dein eigenes Leben kam immer an erster Stelle.«
»Sag mir nicht, was ich fühle! Du findest, ich habe Fehler gemacht. Gut. Darüber können wir reden, aber –«
Lilys Handy spielte die ersten Takte von »The Star-Spangled Banner«. »Sorry«, sagte sie, stand auf und zog das Telefon aus ihrer Jackentasche.
Der Klingelton sagte ihr, dass es Ruben war. Er informierte sie kurz und bündig, ohne dass sie eine einzige Frage stellen musste. »Verdammt«, sagte sie leise. »Nein, ich bin Ihrer Meinung. Noch nicht, zumindest. Danke, Ruben.« Sie legte auf und ließ sich dann einen Moment Zeit, um ihre Gedanken zu ordnen.
Als sie wieder ins Zimmer trat, redete Alicia über die Möglichkeit eines gemeinsamen Sorgerechts. »… nur probeweise. Wenn wir uns einigen können, müssen wir Toby nicht den Strapazen einer gerichtlichen Sorgerechtsanhörung aussetzen.«
»Wenn unsere Einigung schriftlich erfolgt und von einem Richter bestätigt wird«, sagte Rule höflich, »wäre es denkbar – wenn Toby einverstanden ist.«
Sie warf ihr Haar zurück. »Er ist neun Jahre alt. Eine solche Verantwortung können wir ihm nicht übertragen.«
»Ich habe eine Frage«, sagte Lily sanft.
Alicia war so überrascht, als hätte sich einer der Sessel zu Wort gemeldet. »Ja?«
»Hassen Sie Lupi immer noch?«
»Ich habe nie gesagt –«
»Alicia«, sagte ihre Mutter freundlich, »du hast vielleicht nicht dieses Wort gebraucht, aber oft genug betont, wie wenig du Rule und seinem Volk traust.«
Lily nickte nachdenklich. »Wissen Sie, ich finde es nicht gut, wenn Toby bei jemandem aufwächst, der ihn für das hasst, was er ist.«
»Er ist ein kleiner Junge«, sagte Alicia hitzig. »Vielleicht wird er einmal ein Lupus sein, aber –«
»Nein«, sagte Rule. »Er ist jetzt ein Lupus. Er kann sich noch nicht wandeln, aber er ist ein Lupus.«
Alicias Blick schoss zu James. Er sah sie an, und für einen kurzen Augenblick sah Lily so etwas wie Triumph in Alicias Augen aufblitzen. Dann war es auch schon wieder vorbei.
Mist. »Ich hatte wirklich gehofft, Sie wüssten nicht Bescheid«, sagte sie leise.
Verärgert sah Alicia sie an. »Spielen Sie jetzt die geheimnisvolle Orientalin oder wollen Sie mir tatsächlich etwas damit sagen?«
»Sie glauben, Sie könnten verhindern, dass Toby ein Lupus wird, indem sie seinen Wandel unterbinden. Für immer.«
Alicia war gut. Als sie sich zurücklehnte, war nichts als Verärgerung auf ihrem sinnlichen, hübschen Gesicht zu lesen. James dagegen hatte sich nicht so sehr in der Gewalt. Erst sah man Schrecken, gefolgt von Schuld auf seinem durchschnittlichen Gesicht, bis er sich schließlich dafür entschied, leicht verwirrt zu gucken.
»Lily«, sagte Rule ruhig. Nicht mehr.
Sie sah ihn an und litt mit ihm. Er hatte erraten, was sie meinte. An seinen angespannten Gesichtszügen und der gezügelten Wut in seinen Augen erkannte sie, dass er es erraten hatte. »Rubens Ahnung hat sich wie fast immer bewahrheitet. Lass mich das machen, okay?« Ich weiß, wie man einen Verdächtigen festnagelt. Lass mich.
Er hielt ihren Blick lange fest, und vielleicht sah er ihre Entschlossenheit. Er nickte.
»Es gibt«, sagte Cullen langsam, »nur einen Weg, um den Wandel zu verhindern.«
»Das stimmt. Gado wird es genannt, von Gadolinium, dem seltenen Element, das man braucht, um die Droge herzustellen. Die Regierung hat die Formel für Gado entwickelt, als Lupi sich noch zwangsweise registrieren mussten, aber die Anwendung und Herstellung von Gado ist heute illegal – weil Lupi, die man zu lange am Wandel hindert, oft verrückt werden.«
»Unsinn«, fuhr Alicia sie an. »Ich weiß, dass sie das behaupten, aber das stimmt einfach nicht.«
»Eigentlich, Alicia, sagt das FBI das. Die Abteilung für magische Verbrechen des FBI hat früher Lupi eingesperrt und ihnen die Droge verabreicht, und ihre Berichte lassen keinen Zweifel zu. Die Regierung hat sie noch nicht veröffentlicht, obwohl sie unter das Informationsfreiheitsgesetz fallen, aber ich habe sie gelesen. Die Hälfte der Lupi, denen ein Jahr lang Gado verabreicht wurde, beging Selbstmord. Von der anderen Hälfte erlitten dreißig Prozent einen psychotischen Zusammenbruch und von dem Rest wurden beinahe alle katatonisch.«
»Meine Güte«, sagte James. »Alicia –«
»Sie lügt«, sagte Alicia verächtlich. »Sie ist so vernarrt in ihn, dass sie alles sagen würde. Sie gibt ja selbst zu, dass diese angeblichen Berichte der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind. So kann sie sich jede Statistik ausdenken, die ihr passt.«
So verführerisch es war, ihre Überheblichkeit aus der Hexe herauszuprügeln, wusste Lily doch, wo das schwache Glied zu finden war. Sie wandte sich James zu. »Sie wissen vermutlich, dass die Formel gesetzlich geschützt ist. Vielleicht ist Ihnen nicht klar, dass jeder Kauf von Gadolinium registriert wird.«
Er winkte ab. »Darum geht es Ihnen? Sie ziehen voreilige Schlüsse. Ja, ich habe ein wenig Gadolinium gekauft. Es wird auch für andere Zwecke benutzt, wissen Sie, zum Beispiel bei MRT-Aufnahmen. Es weist einige interessante paramagnetische Eigenschaften auf, und ich war neugierig, wie –«
»Nein, James, egal, welche Geschichte Sie sich ausgedacht haben, sie ist nicht glaubwürdig. Unsere Agenten haben bereits mit Ihrem Freund gesprochen – der, der früher bei der Gesundheitsbehörde gearbeitet hat.« Sie warf Louise einen kurzen Blick zu. »Die Behörde hat sich um die Herstellung von Gado gekümmert, damals, als man Lykantrophie noch für eine Krankheit und eine Gefährdung für die öffentliche Gesundheit hielt. James’ Freund muss ihm die Formel für Gado gegeben haben.«
James gab sich immer noch nicht geschlagen. »Ich werde John da nicht mit hineinziehen.«
»Na gut. In diesem Moment durchsuchen Agenten Ihr Haus. Sie haben eben Eisenhut gefunden.«
Rule knurrte. Es war kein menschlicher Laut. Aber es war Cullen, der als Erster die Kontrolle verlor – und Cullen war schnell, selbst für einen Lupus.