19
Über Tobys Knöchel krabbelte etwas. Das konnte er nur merken, weil er sich nicht die Mühe gemacht hatte, Socken anzuziehen. Er schnippte es mit dem Finger weg. »Ich kann nicht einfach so hierbleiben.«
»Ich weiß … nur noch ein bisschen.« Talia umschlang die Knie enger mit ihren langen, dünnen Armen. Talia war zwei Jahre älter als er und Justin und zehn Zentimeter größer. Toby mochte sie gut leiden, auch wenn sie seit Kurzem angefangen hatte, ihre Nägel zu lackieren und sich Gedanken um ihre Haare zu machen.
Der Wind war gerade stark genug, dass die Bäume sich Geheimnisse zuflüsterten. Das war gut. Toby mochte es nicht, wenn das Baumhaus – das eigentlich nur eine Plattform war, ohne Wände, aber alle nannten es immer das Baumhaus – hin- und herschwankte, weil die Äste sich bewegten.
Komisch, wie stabil Bäume vom Boden aus wirkten, dachte er. Sobald man hinaufkletterte, stellte man fest, dass sie sich ständig bewegten.
»Wir müssen uns etwas einfallen lasen«, sagte Justin entschlossen.
»Klar«, murmelte er. »Sicher. Dann fang mal an, da dir ja meine Ideen nicht gefallen.«
»Wir können es ihnen nicht sagen!« Aus Versehen war Justin ein bisschen lauter geworden, und Talia machte »Pst!« und warf einen Blick zurück zum Haus. »Toby, du weißt doch, wie meine Eltern sind.«
»Ja. Sie sind nett. Ich mag sie.«
»Ganz was Neues. Aber solche Sachen kapieren sie einfach nicht.« Justin wedelte mit der Hand in Richtung seiner Schwester. »Und das weißt du auch. Und sie haben jetzt auch Angst vor dir, seitdem du in den Nachrichten gewesen bist und so, und das macht alles noch schlimmer.«
Scheiße. Toby probierte das Wort in Gedanken aus, fand, dass es gut passte, und sagte es laut. »Scheiße. Dann haben sie also diesen blöden Bericht über die Sorgerechtsanhörung gesehen, was?«
»Toby.« Talia konnte vorwurfsvoller flüstern als jeder andere, den Toby kannte. »Du sollst nicht fluchen.«
Justin brach einen dünnen Zweig ab, der aus dem Baumstamm wuchs. »Alle haben es gesehen. Alle im ganzen Land, wette ich.«
»Wahrscheinlich haben sie mehr darauf geachtet, dass Menschen erschossen wurden, als auf mich.« Toby hatte nicht viel von dem, was passiert war, mitbekommen, weil sein Vater ihn zu Boden geworfen hatte. Er hatte nur einen kurzen Blick auf Dad erhaschen können, als dieser sich mitten im Sprung gewandelt hatte, und den Furcht einflößenden Knall des Gewehrs gehört. Das Schreien der Leute. Lilys Stimme, die ihm und Grammy knapp und scharf befahl, unten zu bleiben und sich nicht zu bewegen.
Eigentlich hatte er kaum etwas gesehen. Warum also musste er immer wieder daran denken? Tobys Bauch krampfte sich unglücklich zusammen. Er schluckte.
Justin und Talia tauschten Blicke.
»Was sollen wir also tun?« Toby guckte böse, als sie nicht antworteten. »Sagt es mir.«
»Nichts.« Justin tat, als wäre er ganz damit beschäftigt, die Blätter von seinem Zweig zu zupfen.
»Wir können es ihm auch sagen.« Talia setzte sich ein wenig aufrechter hin. »Daddy glaubt, die Schießerei war deinetwegen. Er sagt, Mr Hodge ist durchgedreht, weil er herausgefunden hat, was du bist, und dich erschießen wollte, oder deinen Vater und dich zusammen, und dass das nur nicht geklappt hat, weil er ein schlechter Schütze ist.«
Toby richtete sich auf. »Das stimmt nicht. Überhaupt nicht. Talia, das weißt du auch. Du musst deinem Vater sagen –«
»Das kann ich nicht! Wenn sie herausfinden, dass –«
»Ich fürchte«, sagte eine tiefe, mitfühlende Stimme unter ihnen, »dass ihr nicht umhinkommt, es zu sagen.«
Talia jaulte auf, als wenn sie der Lupus von ihnen dreien wäre. Justin schoss so schnell hoch, dass er sich den Kopf an einem Ast stieß. Toby drehte sich um und spähte über den Rand der Plattform. Er fühlte sich um ungefähr fünfzig Kilo leichter. »Hi, Dad. Das ist mein Dad«, sagte er seinen Freunden. »Bekomme ich jetzt Ärger?«
»Ein bisschen«, sagte Dad mit leiser Stimme. »Kommt jetzt erst einmal alle runter. Ich könnte auch raufkommen, aber ich bin müde. Und ich glaube nicht, dass Lily Lust auf eine Kletterpartie hat.«
Lily? Er hatte sie mitgebracht? Toby runzelte die Stirn und versuchte, durch die Blätter hindurch etwas zu erkennen, unsicher, wie er es fand, dass Lily da war. Wahrscheinlich war es ganz gut so, beschloss er. Mit Lily musste Talia sowieso sprechen. »Okay.«
Justin packte ihn am Arm. »Nein.«
»Was ist los? Hast du Angst vor dem großen, bösen Werwolf?«
Justin schüttelte heftig den Kopf, sagte aber nichts. Talia antwortete an seiner Stelle. »Ich steige runter. Ich wette, die trauen sich nicht hierher, wenn Tobys Dad da ist.«
»Komm schon«, sagte Toby zu seinem besten Freund. »Wenn wir nicht runterklettern, denkt er vielleicht, er muss es deinen Eltern sagen.«
Das gab den Ausschlag. Kurz darauf stand Toby mit Talia und Justin vor seinem Vater und Lily. Sie sahen nicht so aus, als wären sie zufrieden mit ihm.
»Ich nehme an, du musstest deinen Freunden versprechen, niemandem etwas zu sagen«, sagte Dad mit dieser ruhigen Stimme, die manche Leute glauben machte, er sei nicht wütend. Aber Toby wusste es besser.
»Ja, Sir. Na ja, ich habe schon vor langer Zeit versprochen, Talias Geheimnis nicht zu verraten –« Justin stieß ihn in die Seite. Toby warf ihm einen bösen Blick zu. »Er hat doch gehört, was wir gesagt haben. Er weiß, dass es etwas gibt, über das wir nicht reden, also weiß er auch, dass es ein Geheimnis ist.« Er sah wieder seinen Vater an. »Aber auch wenn sie mein Geheimnis jetzt nicht mehr für sich behalten müssen, heißt das nicht, dass ich ihres verraten kann. Ich hab’s versprochen.«
Dad nickte. Toby hatte gewusst, dass er es verstehen würde. Zumindest diesen Teil. »Doch das erklärt nicht, warum du dich aus dem Haus geschlichen hast.«
»Das war eine Ermessensentscheidung.«
Lily gab einen leisen erstickten Laut von sich, sagte aber nichts, und Dad wartete einfach nur, also redete Toby schnell weiter. »Justin hat doch ein Handy und ich nicht, also habe ich mir eines von diesen Telefonen besorgt, wo man die Minuten kauft. So konnte Justin mich manchmal anrufen. Und heute Abend hat er angerufen, und da es ein Notfall war, habe ich entschieden, sofort zu ihm zu gehen. Nach eigenem Ermessen, sozusagen. Nur weiß du ja erst, ob das richtig war oder nicht, wenn sie mir erlauben, dir das Geheimnis zu verraten, oder wenn sie es dir selbst sagen. Was sie, finde ich, auch tun sollten.« Er bedachte Justin und Talia mit einem strengen Blick.
Lily schlug einen ruhigen Ton an, den er schon von ihr kannte. Der war zwar ganz anders als der von Dad, aber man musste ihr einfach zuhören, so als sei das, was sie zu sagen hatte, unheimlich wichtig. »Vielleicht könntest du uns erst einmal deine Freunde vorstellen?«
Toby wurde rot. Eine korrekte Vorstellung war wichtig, darin waren sich Lupi und Grammy einig, und jetzt hatte er sie doch glatt vergessen. »Oh ja, richtig. Dad, Lily, das sind Justin und Talia Appleton. Justin und Talia, das ist mein Vater, Rule Turner, und seine Gefährtin, Lily Yu.« Moment, durfte er überhaupt »Gefährtin« sagen?
Toby runzelte unglücklich die Stirn. Nein, durfte er nicht.
»Schön, euch kennenzulernen.« Dad sah Lily an. »Vielleicht sollten wir uns setzen und über alles reden.«
Justin und seine Schwester tauschten einen ungläubigen Blick. Sie waren nicht daran gewöhnt, dass Erwachsene reden wollten, wenn sie ungehorsam gewesen waren. Die Erwachsenen, die sie kannten, verbündeten sich meistens miteinander. Kinder durften keine Geheimnisse haben. »Okay. Kommt schon, setzen wir uns. Er hört euch zu«, sagte Toby aufmunternd zu seinen Freunden.
»Heißt das, Sie werden es nicht unseren Eltern weitersagen?«, fragte Talia.
»Das weiß ich noch nicht. Das müssen wir erst noch entscheiden.«
Also setzten sich alle im Kreis ins Gras, das kühl und feucht war und sehr gut roch. Der Mond, der jetzt beinahe direkt über ihnen stand und zu drei Viertel voll war, schien hell.
»Zuerst einmal muss ich wissen«, sagte Dad und blickte Justin an, »ob deine Eltern böse sein werden, wenn sie Toby hier finden?«
Justin zog ein Gesicht. »Sie werden sauer sein, dass wir ohne Erlaubnis aus dem Haus gegangen sind. Und dass ich ihn angerufen habe. Sie …« Er sah Toby entschuldigend an. »Sie sind supersauer, dass er ein, Sie wissen schon … ein Lupus ist. Sie hatten keine Ahnung davon, bis es in den Nachrichten war.«
Dad nickte. »Ich nehme an, wenn sie mich hier sehen, werden sie noch böser, also werde ich, falls sie kommen sollten, schnell verschwinden. Also, Talia, du hast ein Geheimnis, über das du mit deinen Eltern nicht sprechen willst.«
Sie nickte. Ihr Blick war wachsam.
»Und wegen dieses Geheimnisses habt ihr Toby heute Abend hierherbestellt.«
Wieder nickte sie.
»Toby, ist mit Talias Geheimnis irgendetwas Kriminelles verbunden oder bringt es sie oder andere in Gefahr?«
»Nichts Kriminelles! Aber … es ist gefährlich, aber nicht lebensgefährlich oder so. Es ist …« Er breitete die Arme aus. »Es geht um sie.«
Lily sagte ruhig: »Talia hat eine Gabe, nicht wahr? Eine, von der ihr annehmt, dass ihre Eltern sie nicht gutheißen werden.«
Eine Weile sagte niemand etwas. Dann stieß Talia einen tiefen Seufzer aus. »Wahrscheinlich sage ich es Ihnen besser. Sie wollen es sowieso.«
»Sie?«
»Die Geister.« Talias längliches Gesicht wirkte im Mondlicht noch blasser als sonst. Und angespannt, als wenn ihre Muskeln sich weigerten, etwas preiszugeben. »Sie lassen mich in letzter Zeit nicht in Ruhe. Sie kommen immer wieder, und die neusten …« Sie hielt inne und schluckte.
»Ich verstehe. Du bist ein Medium.« Lily sah nicht aus, als wäre sie schockiert, aber das hatte Toby auch nicht erwartet. »Das ist keine einfache Gabe. Und deine Eltern haben etwas dagegen?«
Justin mischte sich ein. »Sie wissen es nicht, und sie werden es auch nicht erfahren! Sie haben schon immer etwas gegen Magie gehabt, aber seit der Wende … dieser Reverend Barnes predigt jetzt die ganze Zeit dagegen. Er sagt, dass jeder, der mit Geistern verkehrt, mit dem Teufel im Bunde ist, aber so ist das ja gar nicht! Talia kann nichts dagegen machen!«
»Nein, das kann sie nicht. Nicht in ihrem Alter und ohne eine entsprechende Ausbildung. Talia, diese Geister, versuchen sie, äh … durch dich zu sprechen?«
»Ich will nicht, dass sie das tun.« Talia war den Tränen nahe. Deswegen hörte es sich so an, als sei sie böse. Sie hasste es, wenn sie weinen musste. »Es waren schon immer ein paar von ihnen in meiner Nähe. Ich habe sie gesehen oder gehört, aber das war nicht schlimm. Aber seit der Wende sind es mehr geworden, und jetzt sind auch noch die Neuen da. Die sind ganz schrecklich. Sie schreien in meinem Kopf und gehen nicht weg. Und ich kann nicht tun, was sie von mir wollen, ich kann es nicht! Deswegen habe ich Toby gebeten, herzukommen. Wenn er bei mir ist, bleiben sie weg.«
Lily warf Dad einen überraschten Blick zu und zog die Augenbrauen hoch, als wollte sie sagen: »Wie bitte?« Dad schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Von Geistern, die eine Aversion gegen uns haben, habe ich noch nie gehört.«
»Hmm.« Lily wandte sich wieder an Talia. »Ich nehme an, dass du seit der Wende mehr Geister siehst, weil deine Gabe stärker geworden ist. Das ist auch einigen anderen passiert, weil es mehr Magie gab. Darf ich deine Hand nehmen?« Sie lächelte. »Ich bin eine Sensitive. Ich kann feststellen, wie stark deine Gabe ist.«
Talia sah nicht sehr begeistert aus und schaute auf ihre Füße herunter. Sie zupfte erst an einem Fußnagel, dann an einem anderen. Schließlich zuckte sie die Achseln. »Es kann ja nicht schaden.« Sie streckte ihre Hand aus.
Lily ergriff sie. »Oh ja, du hast eine sehr starke Gabe. Kein Wunder, dass diese Geister dich verrückt machen. Sind jetzt gerade welche hier?«
»Ich habe doch gesagt, dass sie nicht kommen, wenn Toby in der Nähe ist. Und Mr Turner hält sie bestimmt auch fern.«
»Okay.« Lily ließ ihre Hand los. »Aber Toby kann ja schlecht die ganze Zeit an deiner Seite bleiben.«
»Vielleicht gehen sie weg, wenn ich Ihnen sage, was sie mir aufgetragen haben.«
»Sie wollen, dass du mir etwas sagst? Mir persönlich?«
»Na ja … er war nicht sehr höflich, als er Sie beschrieben hat, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er Sie meinte. Der große Mann. Er ist der älteste Geist und auch meistens vernünftiger als die anderen. Ich glaube, er stammt aus einer Zeit, als die Leute ganz anders als heute gesprochen haben.« Sie machte ein grimmiges Gesicht. »Zuerst hat er mich ›kleines Negerlein‹ genannt, aber das habe ich ihm schnell verboten. Es ist mir egal, ob damals alle es gesagt haben. Damals gab es auch noch Sklaven, und das war auch falsch. Obwohl er behauptet hat, er hätte keine Sklaven gehabt, aber ich glaube, nur weil er arm war, nicht weil er wusste, dass es falsch war.«
»Dann ist er schon sehr lange ein Geist«, murmelte Lily.
»Hm-hm. Jetzt nennt er mich nur ›Kleine‹. Er kann meinen Namen nicht sagen. Ich weiß nicht, ob es eine Regel ist oder ob sie sich meinen Namen nicht merken können, nicht einmal für eine Minute, aber keiner von ihnen nennt mich beim Namen. Auf jeden Fall ist er derjenige, der gesagt hat, ich soll es Ihnen sagen.«
»Okay. Was sollst du mir sagen?«
»Das von ihm. Von dem, der … ich glaube, er ist der, der die ganzen Leute getötet hat. Sie sagen, er mache Geister. So nennen sie ihn: den Geistermacher. Sie meinen wahrscheinlich, dass er Leute umbringt. Aber es gibt mehr als einen Killer, oder? Also ergibt es keinen Sinn. Aber Geister reden sowieso viel Unsinn.«
»Haben sie genau das gesagt?« Lily sprach mit leiser Stimme, wie Grammy, wenn Toby einen Albtraum gehabt hatte. »Dass dieser jemand Geister macht, nicht, dass er Leute tötet?«
»Geister reden nie über den Tod. Manchmal erzählen sie, warum sie Geister geworden sind, manchmal auch nicht. Aber sie sagen nie, dass sie gestorben sind. Sie wollen, dass du ihn aufhältst. Das kleine Mädchen sagt, dass er sehr kalt ist, immer kalt. Ihr Bruder redet nicht – ich sehe ihn nur undeutlich – und sie weint meistens, aber das hat sie gesagt. Und ihre Mutter sagt immerzu: ›Er weiß es nicht‹, und guckt mich dabei an, als sei es ganz wichtig. Ich glaube, das sollte ich Ihnen sagen. Und der große Mann … er sagt, dass sie Angst haben. Sie haben alle Angst, nicht nur die Neuen.«
»Sie?«
»Die Geister. Sie haben Angst vor ihm, wer immer er ist.«
»Ich habe verstanden, dass sie keine Namen nennen können oder wollen, aber haben sie ihn dir beschrieben?«
Talias Lippen zuckten. »Darum habe ich sie ganz oft gebeten, aber Geister sind ziemlich dumm. Sie haben nur immer wieder dasselbe zu mir gesagt. Und ›hilf uns!‹.« Ihre Augen glänzten, aber sie schob trotzig das Kinn vor. »Das sagen sie, und manchmal weinen sie auch. Nicht der große Mann, aber manche weinen wirklich oft. Ich hasse das. Aber die Neuen … das sind die Schlimmsten. Heute Nacht haben sie in meinem Kopf geschrien, und das ist, als wenn … als wenn sie an meinem Gehirn reißen würden. Schrecklich.«
Lily nahm Talias Hand. »Es tut mir sehr leid, dass du damit leben musst. Damit könnten selbst viele Erwachsene nicht umgehen. Tut das Schreien dir körperlich weh?«
»Nein, aber es … es fühlt sich einfach furchtbar an.«
Lily nickte. »Schmerz muss nicht unbedingt körperlich spürbar sein. Diese neuen Geister … Ich muss wissen, wie viele es sind und was an ihnen anders ist.«
»Fünf. Der Junge, das Mädchen und ihre Mutter – das sind die, die von ihrem Vater getötet wurden. Ich bin mir ziemlich sicher, obwohl sie es mir nicht sagen wollen. Und die beiden Neuesten sind heute erschossen worden.«
»Ich verstehe. Und sie sind anders als die anderen?«
Talia nickte. »Normalerweise sind es die Älteren, die ganz dünn und durchsichtig sind, wie zerknittertes Seidenpapier. Es ist irgendwie, als würden sie sich abnutzen. Außer dem großen Mann – der ist zwar alt, aber ich sehe ihn noch scharf, und er ist auch vernünftiger als die anderen. Ich weiß nicht, warum. Aber die … sie sind neu, aber verschwommen und ausgefranst, als wären sie schon sehr alt. Und sie schreien mich an. Die anderen tun das nicht.« Talias bebende Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Sie halten mich doch nicht für verrückt? Oder … oder für besessen? Oder denken Sie, dass ich das alles nur erfinde?«
»Nein. Du weißt doch, ich kann deine Gabe spüren.«
»Sagen Sie es meinen Eltern?«
»Ich hoffe, du tust das. Moment, Moment«, sagte Lily, als Justin und Talia beide auf einmal zu reden anfingen und ihre Worte übereinanderstolperten wie aufgeregte Hundewelpen. »Ich weiß, ihr glaubt, sie würden es nicht verstehen. Ihr habt Angst, dass sie glauben, deine Gabe sei böse. Manche Leute denken wirklich so, weil Magie unheimlich sein kann und sie sie nicht verstehen. Ihr habt vielleicht sogar recht. Möglicherweise reagieren sie wirklich so, wie ihr befürchtet. Ich weiß es nicht. Aber wenn ihr nichts dagegen habt, möchte ich euch etwas über mich erzählen.«
Talia und Justin sahen sich an. Talia nickte.
»Ich bin eine Sensitive. Das habe ich euch schon gesagt. Aber bis vor acht Monaten hätte ich es euch verschwiegen. Meine Familie wusste davon, das unterscheidet mich von euch. Und sie akzeptierten es, aber ich wusste auch, dass sehr viele Leute anders dachten. Ich wollte normal sein – oder das, was ich für normal hielt – und ich wollte mich nicht mit den merkwürdigen Vorstellungen auseinandersetzen, die die Leute von Sensitiven hatten. Deswegen habe ich es bis vor Kurzem niemandem gesagt.«
»Aber jetzt tun Sie es.«
Lily nickte. »Ja, jetzt tue ich es. Und wisst ihr was? So ist es besser. Manche Menschen verstehen es nicht und machen sich deswegen ein falsches Bild von mir. Manche sind auch unhöflich, aber die meisten sind es nicht. Und ich atme jetzt leichter, weil ich mich nicht mehr verstecken muss. Habt ihr euch schon mal etwas gebrochen?«
Talia blinzelte überrascht. »Ja, Ma’am. Meinen Arm. Hier, sehen Sie? Jetzt ist es wieder gut. Ich habe ihn mir in der dritten Klasse gebrochen.«
»Weißt du noch, wie es sich anfühlte, als der Gips abkam? Die Haut war ganz weich und zart und dein Arm schwach, weil du ihn so lange nicht benutzt hattest. Du hattest das Gefühl, du müsstest immer noch so vorsichtig damit umgehen, als ob er ganz verletzlich wäre – aber ich wette, du wolltest den Gips trotzdem nicht zurück. Stimmt’s? So habe ich mich gefühlt, als ich aufgehört habe, meine Gabe zu verheimlichen.«
Talia dachte eine Weile nach. »Aber Ihre Familie wusste es schon. Sie hatte nichts gegen Ihre Gabe.«
Lily nickte. »Und das ist ein bedeutender Unterschied. Aber auch du hast jemanden in deiner Familie, der von deiner Gabe weiß und dir zur Seite steht. Dein Bruder. Und er denkt nicht, dass du böse bist. Oder nicht mehr als jeder andere kleine Bruder auch.« Sie lächelte Justin zu, und er grinste zurück. »Was du nicht hast – und was du brauchst –, ist ein Erwachsener, der dich unterstützt, in der Zeit, die deine Eltern benötigen, um sich an den Gedanken zu gewöhnen. Ich glaube nicht, dass meine Mutter sehr erfreut über meine Gabe gewesen wäre, wenn es Großmutter nicht gegeben hätte, die es ihr beigebracht hat … Nun, Großmutter ist nicht immer höflich.«
Toby gluckste. »Schade, dass ihr sie nicht kennt. Lilys Großmutter ist echt super. Sie kriegt jeden dazu, das zu tun, was sie sagt. Sie hat sogar die Präs –«
»Darüber sprechen wir nicht, Toby«, sagte Dad schnell.
»Oh, stimmt ja.« Toby lächelte immer noch breit, als er daran zurückdachte, wie er auf dem Rasen des Weißen Hauses neben der Präsidentin gestanden hatte, weil Großmutter darauf bestanden hatte, dass er dabei war, als die Drachen kamen. »Aber sie ist echt super.«
Lily lächelte, wandte aber den Blick nicht von Talia ab. »Fällt dir ein erwachsener Verwandter ein, der dich unterstützen würde?«
Justin antwortete sofort. »Tante Sherri. Nein, wirklich«, sagte er, als Talia zweifelnd guckte. »Sie sagt immer, dass Reverend Barnes Unsinn redet. Manchmal sagt sie auch etwas anderes als Unsinn«, ergänzte er grinsend.
»Mom hört ihr nicht zu – sie wechselt dann das Thema.«
»Mom will nicht zuhören, wegen Daddy. Sie will keinen Streit, weil Daddy glaubt, Reverend Barnes ist Jesus’ bester Freund. Als wenn die beiden zusammen Pyjamapartys machen oder die ganze Zeit Ball spielen und Reverend Barnes deswegen immer die neusten Nachrichten aus dem Himmel bekommt und so.« Justin hielt inne und sah auf einmal wieder besorgt aus. »Mit Daddy wird es nicht einfach werden.«
»Wenn wir es ihnen sagen.« Talia war offenbar noch nicht überzeugt.
»Vielleicht könntest du mit deiner Tante über deine Gabe reden«, sagte Lily. »Und dir anhören, was sie davon hält, es deinen Eltern zu sagen.«
»Ja. Ja!« Talias Miene hellte sich auf. »Ich glaube, sie würde auch versprechen, nichts zu verraten, solange es nicht mit Drogen oder Sex oder etwas anderem Schlimmen zu tun hat.«
»Ein Problem haben wir aber trotzdem noch«, sagte Dad ruhig. »Wenn Toby mit uns nach Hause kommt, hat Talia niemanden mehr, der ihr die Geister vom Leibe hält.«
»Kann er nicht hierbleiben?«, fragte Justin. »Nur heute Nacht. Nachts sind sie immer am schlimmsten. Sie hat es schon mit Kreuzen versucht und der Bibel, aber nichts vertreibt sie, außer Toby.«
»Nicht ohne das Wissen und die Erlaubnis deiner Eltern.« Dad hatte eine Art, manche Dinge so zu sagen, dass man wusste, Widerrede hatte keinen Sinn. »Du brauchst jemanden, der dir hilft, mit deiner Gabe umzugehen, Talia. Und diese Hilfe können weder Lily noch ich dir geben, aber fürs Erste … vielleicht sind die Geister erst einmal zufriedengestellt, weil du ihre Nachrichten übermittelt hast. Warum gehst du nicht ans andere Ende des Gartens, um herauszufinden, ob sie noch da sind? Wäre das weit genug entfernt?«
»Klar. Ich muss ganz nah bei Toby sein, um sie fernzuhalten.« Talia biss sich auf die Lippen, nickte dann und stand auf. Auch die anderen erhoben sich und sahen zu, wie sie zu der alten Schaukel auf der Südseite des Gartens ging. Dort wartete sie ein paar Minuten und sah sich um. Dann nickte sie, sagte etwas so leise, dass Toby es nicht hören konnte, und kam zurück.
Sie sah sehr viel beruhigter aus. »Der große Mann sagte, sie – die normalen Geister – werden die Neuen einkreisen, damit sie mich nicht anschreien können. Aber sie können nicht sehr lange aufpassen. Keiner von ihnen. Weil sie so schnell vergessen, warum sie es tun, und dann hören sie auf. Er sagte, dass Sie den Geistermacher unbedingt aufhalten müssen.«
»Das werde ich tun«, sagte Lily.
Es klang wie ein Versprechen. Aber Toby hatte Zweifel. Konnte sie denn tatsächlich versprechen, den Geistermacher unschädlich zu machen? Sie wussten doch gar nicht, wer er war und wie er die Leute dazu brachte zu töten.
Dad wandte seinen Gedankenlesertrick an, als er sich zu Toby hinunterbeugte und so leise sagte, dass nur dieser es hören konnte: »Das kann sie bestimmt. Sie fragt sich nicht, ob sie das Töten beenden kann. Weil sie es weiß. Sie fragt sich nur, wann es ihr gelingen wird.«
Toby schluckte. Das war wirklich ein großer Unterschied, fand er. »Okay. Aber trotzdem würde ich gerne wissen …«
»Ja?«
»Wovor haben Geister Angst? Sie sind doch schon tot.«
Dad drückte seine Schulter. »Das ist eine gute Frage.«