12

Ob Winter oder Sommer, im Garten hielt Toby sich am liebsten auf. Er liebte alles an ihm – die Laube, das Gras, die Blumen und die Bäume. Selbst wenn es sehr heiß war, gab es immer genug Schatten.

Nicht dass die Hitze Toby etwas ausgemacht hätte. Kälte, soweit er wusste, auch nicht, aber er hatte bisher noch nie richtige Kälte kennengelernt, nicht hier in Halo. Dad sagte, dass den meisten Lupi weder Hitze noch Kälte etwas ausmachte. Die Magie in Toby war noch nicht aktiv, aber sie war da, und sie hatte schon ein Muster für ihn. Schon jetzt, Jahre bevor er auf vier Beinen statt auf zweien lief, orientierte er sich an diesem Muster.

Dad begann, langsam am Zaun entlangzugehen. Es fühlte sich komisch an, mit seinem Dad in seinem Garten herumzugehen. Bald würde er nur noch zu Besuch hier sein. Dann wäre es nicht mehr wirklich sein Garten.

Dad schien das zu wissen. »Du wirst das hier vermissen.«

»Ja.«

»Macht dich das unglücklich?«

Toby blieb stehen und starrte seinen Vater an. Manchmal zog Dad die Gedanken einfach aus seinem Kopf, wie an einem Band, an dem er bloß zu ziehen brauchte. »Ich verstehe nicht, warum ich unglücklich bin. Ich will zu dir. Ich weiß, dass es gut für mich ist. Wieso werde ich dann unglücklich, wenn ich daran denke, dass ich nicht mehr hier in meinem Garten sein kann?«

Dad lächelte. »Du hast ein starkes Territorialverhalten. Das haben die meisten von uns, aber bei manchen ist es stärker entwickelt als bei anderen. Du warst der einzige Wolf hier, deswegen gehört der Garten ganz dir. Dem Wolf in dir ist es egal, dass deine Grammy für dich verantwortlich ist – in seinen Augen geht das nur den Menschen in dir an. Deshalb ist dieser Ort so etwas wie ein Clangut für dich. Das andere ist das Territorium deines Großvaters – das er zwar mit allen anderen Nokolai teilt, aber es ist seins. Egal wie gern du dort sein möchtest, du willst nicht aufgeben, was dir gehört.«

»Ja! Ja, ganz genauso ist es. Ich will auf dem Clangut sein, aber das hier … das hier gehört mir. Aber wie kommt es, dass ich so fühle, wenn mein Wolf noch schläft?«

»Das ist unerheblich, er ist trotzdem da. Außerdem sind Menschen beinahe so territorial wie Wölfe, deshalb stärken sich beide Instinkte gegenseitig, statt miteinander zu rivalisieren. Doch dein Wolf versteht vielleicht etwas anderes unter Territorium als dein Mensch.«

Sie waren am hinteren Teil des Gartens angelangt, wo Grammys Azaleen besonders dicht und üppig waren und gut dufteten. »Ich glaube nicht, dass ich auseinanderhalten kann, was der Wolf und was der Mensch ist. Ich fühle mich immer nur einfach wie ich.«

»Du bist ja einfach du. Was hast du letzte Nacht geträumt?«

»Was?« Er brauchte einen Moment, um sich zu erinnern. »Ich habe Baseball gespielt, aber unser Team hatte nicht genug Leute, und wir waren dabei zu verlieren. Das Fernsehen war da, weil es ein wichtiges Spiel war, und einer von den Fernsehleuten hatte viele Hunde dabei, und die Hunde wollten auch spielen. Grammy sagte, dass Hunde kein Baseball spielen dürften, so lauteten die Regeln. Sie fragte, wie sie denn überhaupt den Ball schlagen sollten? Aber du hast gesagt, dass es doch ginge, und so kamen die Hunde in mein Team. Und dann haben wir gewonnen.«

Dads Mundwinkel hoben sich, und er sah erfreut aus, als wenn der dumme Traum ihm etwas bedeutete. »Der Toby, der von Baseball geträumt hat, ist nicht genau derselbe Toby, der Baseball spielt, nicht wahr?«

»Oh.« Er dachte darüber nach. »Ich verstehe, was du meinst. Wenn ich schlafe, erscheinen mir die Dinge anders, als wenn ich wach bin, und ich weiß andere Sachen und so. Aber ich bin immer ich.«

Dad nickte. »Im Moment schläft dein Wolf so tief, dass der wache Toby nicht weiß, was der schlafende Teil von ihm weiß. Wenn wir uns nicht an unsere Träume erinnern, ist es dasselbe. Denn das bedeutet nicht, dass wir nicht geträumt haben. Nur dass unser träumendes Ich zu weit entfernt von unserem wachen Ich ist; es kommt nicht an die Erinnerungen heran. Wenn der Wolf aufwacht und du seine Gestalt annimmst, wirst du dich immer an diesen Teil von dir erinnern. Du wirst vieles anders sehen. Das wird auch verwirrend sein.«

»Das weiß ich«, sagte Toby ungeduldig. Es war ja nicht so, als hätten sie nicht schon darüber gesprochen. »Verwirrend« sollte heißen, dass sein Wolf beim ersten Wandel sehr stark wäre und die Leute nach Essen riechen würden. Deshalb würde er, wenn er zwölf war, zur terra tradis gehen, wo es nur Lupi gab, damit er niemanden verletzte. Auch nach dem Wandel musste er in tradis bleiben und zu Hause unterrichtet werden, aber wahrscheinlich würde er auf eine normale Highschool gehen dürfen.

Das hatte er zumindest vor. Onkel Benedikt sagte, das müsse man erst noch sehen. Die meisten jungen Wölfe waren nicht bereit, sich lange in der Nähe von Menschen aufzuhalten, erst wenn sie wirklich alt waren – vielleicht achtzehn. Aber manche schafften es auch, wenn sie jünger waren. Dad zum Beispiel. Toby war sich sicher, dass er es auch schaffen würde.

Sie hatten ihren Rundgang im Garten beendet und standen nun vor der Terrasse. Dad blieb stehen und drehte sich zu ihm um. »Gestern Abend habe ich dir gesagt, dass ich hier bin, um einige Angelegenheiten zu regeln, die den Clan betreffen. Da deine Grammy dabei war, habe ich nicht gesagt, welcher Clan.«

»Oh. Oh! Du meinst, du bist wegen der Leidolf hier? Deswegen fahren wir dorthin?« Toby kräuselte die Nase. Er fand es nicht gut, dass Dad jetzt mit dem anderen Clan zu tun hatte, der schon seit Ewigkeiten mit den Nokolai verfeindet war. Es sei denn … Seine Miene hellte sich auf. »Ach so! Hast du herausgefunden, wie du die neue Macht an jemand anderen abgeben kannst?«

Dad schüttelte den Kopf. »Das wird nicht vor dem Großtreffen der Clans passieren.«

Noch verstand Toby nicht richtig, wie die Clanmächte funktionierten, aber sie waren wohl wie eine Art Aura, die über den Clanmitgliedern lag und sie zusammenhielt. Eigentlich konnte es gar nicht möglich sein, Teile von zwei verschiedenen Mächten zu übernehmen, so wie es auch unmöglich war, zwei Clans gleichzeitig anzugehören. Aber bei Dad war das der Fall.

Laut Grandpa war es das Werk der Dame und vielleicht der Grund für das Band der Gefährten zwischen Dad und Lily. Grandpa glaubte, dass die Dame das Band nutzte – was ja schließlich auch ihr Werk war –, um Dad zu helfen, weil sie wollte, dass die beiden Clans wieder Freunde wurden. Als Toby Dad danach gefragt hatte, hatte er mit den Schultern gezuckt und gesagt: »Vielleicht.« Das war so eines von Dads Lieblingswörtern: Vielleicht. Er sagte es oft.

Aber der Rho der Leidolf war sehr krank und würde möglicherweise bald sterben, und wenn er starb, würde die ganze Clanmacht auf Dad übergehen. Toby wusste nicht, was dann passieren würde, aber es musste wohl etwas Schlimmes sein. Niemand wollte, dass Dad die ganze Clanmacht trug. Nicht einmal Grandpa. Deswegen würden die Rhejes sie umlenken, aber dafür müssten sie erst einmal alle zusammenkommen, und das würde nicht vor dem Großtreffen geschehen, das erst in vielen Monaten stattfand.

»Aber, aber.« Dad wuschelte Toby durchs Haar und nahm dann sein Gesicht in beide Hände. »Guck nicht so besorgt.«

»Aber wenn der Rho der Leidolf stirbt und du die ganze Macht übernehmen musst …«

»Mir wird schon nichts passieren, Toby. Die Rhej der Leidolf ist eine erfahrene Heilerin. Sie wird Victor am Leben erhalten, und ich werde sorgfältig darauf achten, diese Macht nicht zu nutzen.«

Dad wollte ihn aufmuntern, deswegen versuchte Toby, optimistischer zu sein. Selbst wenn der alte Rho jetzt sofort sterben würde, hätte Dad immer noch das Band der Gefährten, und die Dame würde ihm helfen können. »Dir passiert nichts«, wiederholte er. »Aber ich wünschte, du müsstest nicht gerade jetzt zu den Leidolf.«

»Da ich immer noch die Clanmacht ihres Thronfolgers in mir trage, gebietet es die Ehre, dass ich die Pflichten übernehme, die ihr Rho im Koma nicht erfüllen kann. Zwei ihrer Jugendlichen sind schon bereit für das gens compleo

Toby wusste nicht viel über das gens compleo, nur dass es bedeutete, dass ein Lupus als Erwachsener in den Clan aufgenommen wurde. Aber er wusste, dass die Clanmacht dabei eine Rolle spielte. »Sie … diese Jugendlichen … sie hören bereits die Clanmacht, oder? Sie sind schon Clanmitglieder.«

»Sie sind Clanmitglieder und haben ihren ersten Wandel hinter sich, daher kennt die Clanmacht sie bereits, aber sie ruft sie noch nicht. Dafür ist das gens compleo da.«

Das war zwar keine richtige Erklärung, aber Dad sagte, über die Clanmächte zu reden wäre, als würde man versuchen, Farben mit Worten zu beschreiben. Egal wie gut man seine Worte wählte, sie würden niemals hundertprozentig zutreffen. Er sagte auch, dass Lupi über die Clanmacht sprachen wie früher die Menschen über Sex – möglichst leise, damit andere sie nicht hören konnten.

Darüber hatte Toby lachen müssen. Die Erwachsenen, die er hier in Halo kannte, sprachen immer noch leise über Sex. »Hey – du wolltest nicht, dass jemand uns hört, oder? Deswegen sind wir nach draußen gegangen. Damit du aufpassen kannst, dass uns keiner belauscht, weil die Clanmächte das Geheimnis der Dame sind.«

»Das stimmt. Wir haben viele Geheimnisse vor den Menschen, aber nur eines auf Geheiß der Dame – die Clanmächte.«

Toby nickte. Die Dame war nicht wie der Weihnachtsmann. Sie war auch nicht wie Gott, an den man glauben musste. Obwohl das auch nicht jeder tat, und selbst die, die an ihn glaubten, stritten sich seinetwegen. Aber die Dame gab es wirklich, und die Clans mussten sich nicht ihretwegen streiten, weil die Rhejs die Erinnerung an das, was sie gesagt hatte, bewahrten. Nur dass sie meistens gar nicht mit ihnen sprach und auch sonst nicht viel tat. Aber manchmal eben doch. »Lily ist ein Mensch, aber sie weiß von den Mächten, nicht wahr?«

»Sie ist sowohl die Auserwählte als auch ein Clanmitglied. Sie weiß Bescheid.«

»Dann hat die Dame also nicht gesagt, dass die Menschen es nicht wissen dürfen. Nur die, die nicht zum Clan gehören.«

»Das ist richtig.« Dad berührte lächelnd seine Schulter. »Du hast heute Morgen aber viele Fragen. Wenn ich … Das ist Lily«, sagte er und ging zum Haus zurück.

Toby folgte ihm. Er hatte nichts gehört. Vielleicht hatte Dad nur gespürt, dass sie da war. Das Band der Gefährten sagte ihm immer, wo sie war, also … Aber dann sah er, dass dieses Mal die Verbindung zwischen ihnen viel profaner war. Dad hatte sein Handy am Ohr, sprach erst und lauschte dann.

Es hörte sich nicht an, als seien es gute Nachrichten. »Mist. Ja, ich verstehe. Sag deinem Reporterfreund, dass ich seine Warnung zu schätzen weiß … Nein, das wird nicht notwendig sein.«

»Was ist denn los?«, fragte Toby, sobald Dad das Telefon aus der Hand gelegt hatte.

»Ich fürchte, Reporter sind auf dem Weg hierher. Sie haben einen Tipp wegen der Anhörung bekommen. Ich muss mit ihnen reden, aber du und deine Großmutter nicht.«

Tobys Herz schlug schneller. »Ich glaube, ich sollte es doch tun.«

»Nein.« Dad ging zur Treppe. »Mrs Asteglio?«

Grammy rief zurück: »Fast fertig. Ich komme gleich runter.«

Toby beschloss, lieber schnell zu reden, denn er wusste, was Grammy sagen würde. »Hör doch mal! Die Leute mögen Kinder. Ich meine …« Wenn er versuchte, es in Worte zu fassen, hörte es sich dumm an, aber Toby redete trotzdem weiter. »Du bist doch so was wie das Aushängeschild für die Lupi, oder? Deswegen bist du bekannt, und deswegen machst du auch die ganzen Sachen, damit die Leute wissen, dass sie keine Angst vor Lupi haben müssen. Wäre ich nicht auch ein gutes Aushängeschild? Ich bin nur ein Kind. Das zwar mal ein Wolf sein wird, aber nicht bedrohlich aussieht oder so.«

Dad blieb am Fuß der Treppe stehen. »Willst du damit sagen, dass du gut für unser Image wärst?«

Toby nickte. »Die Menschen sollen doch aufhören, Angst vor uns zu haben, oder? Na ja, vor mir wird niemand Angst haben.« Er schnitt eine Grimasse. »Alte Frauen finden mich niedlich.«

»Das ist ein gutes Argument, und ich bin stolz auf dich, weil du an unser Volk denkst. Aber –«

»Es sind doch keine Paparazzi? Nur Reporter?«

Dad zog die Augenbrauen hoch. »Was weißt du denn über Paparazzi?«

»Na, die haben doch diese arme Prinzessin in den Tod gehetzt. Das sagt auf jeden Fall immer Mrs Milligan. Und sie erfinden dummes Zeug, wie diese blöde Geschichte über deine Liebessklaven, die in dem einen Magazin direkt neben den Fotos von dem Alienbaby abgedruckt war. Und sie versuchen, Leute zu fotografieren, wenn sie nackt sind.«

Dads Lippen zuckten. »Das ist keine schlechte Beschreibung. Paparazzi sind Fotografen, die … man könnte sie als einsame Wölfe beschreiben: ein Problem, wenn sie alleine sind, und gefährlich, wenn sie sich in Rudeln zusammentun.«

»Rule, vor dem Haus ist gerade ein Van vorgefahren. Ein Übertragungswagen.« Grammy stand am oberen Treppenabsatz und machte ein Gesicht, als hätte sie in einen faulen Apfel gebissen – und würde das Stück am liebsten ausspucken. »Woher kennen sie uns?«

»Das … muss ich erklären. Toby.« Dad kniete sich hin und legte die Hände auf Tobys Schulter. Ihm wurde mulmig zumute, denn das bedeutete, dass ihm nicht gefallen würde, was Dad ihm zu sagen hatte. »Ich muss dir etwas sagen, das dich vielleicht traurig macht. Lily hat es von einem Bekannten erfahren, der bei der AP arbeitet.«

Toby schluckte schwer und sagte kein Wort, weil er verstanden hatte. Als Dad »AP« gesagt hatte, hatte er verstanden.

Er sah Dads Augen an, dass er wütend war, aber seiner Stimme ließ er nichts anmerken. »Deine Mutter ist in der Stadt. Sie hat den anderen Reportern von der Anhörung erzählt.«