25
Das Mittagessen ging sehr lebhaft vonstatten. Wie Rule erwartet hatte, aß Lily nicht mit ihnen – er brachte ihr ein Stück Pizza, damit sie es während der Arbeit essen konnte –, aber Tobys Freunde gesellten sich zu ihnen. Und Louises Nachbarin. Connie Milligan war eine kleine, fröhliche Frau, ungefähr in Louises Alter, mit verblüffend braunem Haar und schelmischem Humor. Sie und Cullen kamen sofort gut miteinander aus.
»Ähä«, sagte Toby, als Louise ihre Freundin auch zum Abendessen einlud.
Rule beugte sich näher zu ihm und murmelte: »Ich dachte, du magst Mrs Milligan.«
»Das tue ich auch«, flüsterte Toby zurück. »Aber es werden immer mehr. Erst war es nur ein normales Abendessen und jetzt wird es eine Party.«
»Ist das ein Problem?«
Toby sah aus, als wäre sein Vertrauen in die Weisheit seines Vaters erschüttert worden. »Wahrscheinlich hast du Grammy noch nicht bei Partys erlebt. Sie flippt total aus. Wir werden alles saubermachen müssen.«
»Hmm.« Rule nickte, als würde er verstehen. »Schlimmer noch als Lily an Weihnachten, als ihre Eltern zu Besuch kamen?«
»Na ja … beinahe so. Lily musste ja auch noch die Wohnung dekorieren«, sagte Toby, um Gerechtigkeit bemüht. »Nur dass sie die Zeit nicht hatte, weil sie so viel arbeiten musste, deswegen war es für sie wahrscheinlich schlimmer. Aber damals hatten wir zwei Tage Zeit zum Putzen und jetzt nur einen Nachmittag.«
Als die Pizza verspeist war, sagte Rule, dass er und Cullen Justin und Talia nach Hause brächten, »sobald alle mit aufgeräumt hätten.« Das rief Proteste von Louise hervor, die darauf bestand, das allein zu übernehmen, und verblüffte Blicke von Justin und Talia, die sich durchaus in der Lage sahen, den kurzen Weg nach Hause allein zurückzulegen. Toby flüsterte Justin etwas zu, der dann wiederum Talia ansah, und beide Kinder schauten Cullen mit fragenden Augen an.
Und Toby wollte natürlich mitgehen, deshalb erinnerte Rule ihn an seine Mathematikaufgaben. Er schnitt eine Grimasse, sah aber die Notwendigkeit ein. Endlich konnten sie sich auf den Weg machen.
Die Kinder nach Hause zu bringen war sowohl notwendig als auch nützlich. Es verstand sich von selbst, dass Rule sie nicht allein gehen lassen konnte, nicht wenn jeder, der ihnen über den Weg lief, ein Killer sein konnte. Außerdem musste Cullen Talia helfen, sich besser zu schützen. Rule wusste nicht genau, was ein Wiedergänger war – Cullens Beschreibung am Telefon war sehr kurz gewesen, teilweise auch, weil Rule abgelenkt gewesen war. Ohne Zweifel hatte Lily mehr Details aus ihm herausbekommen. Aber dass die Gefahr groß war, war nach den gestrigen Ereignissen unbestritten.
Und wenn sie die Kinder abgeliefert hatten, würden er und Cullen über Toby sprechen können, ohne dass sie jemand hören konnte.
Oh Gott. Oh, Dame, bitte sorge dafür, dass Cullen mir sagt, dass keine Möglichkeit besteht, dass Toby an Krebs erkranken wird.
Doch sofort wusste Rule, dass der Gedanke dumm war. Die Möglichkeit bestand immer, aber die Nokolai bekamen nur selten Krebs, sehr selten, und bis vor Kurzem hatte Rule kaum einen Gedanken daran verschwendet. Jetzt musste er immer wieder daran denken, und es vergiftete sein Denken.
Die Luft schwitzte unter einem wolkenverhangenen, dunstigen Himmel. Wieder einmal benutzten sie den schmalen, unbefestigten Weg. Hier würden sie unter sich sein. Sie gingen auf dem Gras am Rand – der rote Lehmboden war rutschig und voller Pfützen.
Sie waren nur noch ein paar Schritte vom Tor entfernt, als Justin es nicht mehr aushielt: »Toby sagte, Sie könnten Talia helfen, Mr Seabourne.«
»Ich hoffe zumindest, dass ich ihr beibringen kann, sich selbst zu helfen.« Er lächelte Talia an. »Ich habe gehört, du bist ein sehr gutes Medium, hast aber keine Kontrolle über deine Gabe.«
Talia riss die Augen auf. »Sind Sie auch ein Medium?«
»Nein, meine Fähigkeiten liegen auf einem anderen Gebiet. Zu deiner Gabe im Speziellen kann ich dir nichts sagen, aber ich kann dir zeigen, wie man einen Schutzkreis zieht.«
»Das ist doch Magie, oder?« Talia wechselte einen Blick mit ihrem Bruder. »Daddy würde nicht wollen, dass ich Magie ausübe. Er denkt, Magie ist gefährlich.«
»Normalerweise würde ich auch nicht ein Kind ermutigen, gegen die Wünsche seiner Eltern zu handeln, aber dies ist keine normale Situation. Du könntest in Gefahr geraten.«
»Ich?«, flüsterte Talia.
»Dein Verstand. Ich weiß nicht genug darüber, wie deine Gabe funktioniert, um ganz sicher sein zu können, aber diese schreienden Geister machen mir Sorgen. Ich möchte, dass du weißt, wie du dich nötigenfalls vor ihnen schützen kannst.«
Justin machte ein bedrücktes Gesicht. »Wir sind doch alle in Gefahr, oder nicht? Etwas bringt die Leute dazu, zu töten. Das ist doch viel gefährlicher als Geister. Geister tun Menschen nichts. Wird Ihr Kreis sie auch wirklich vor dem schützen, das will, dass die Leute töten?«
»Hmm. Wie soll ich mich ausdrücken? Ihr beiden könnt sehr gut ein Geheimnis bewahren, habe ich gehört.« Beide nickten ernst. »Nun, fürs Erste muss dieser Teil noch geheim bleiben. Das Ding, das die Leute zum Töten anstiftet, ist ein Wiedergänger. Wenn dieser Wiedergänger jemanden in Besitz nimmt, nutzt er dessen Körper, um zu töten. Ein Kreis wird dich nicht vor Kugeln schützen.«
Justins Augen wurden groß. »Kann dieser Wiedergänger jeden, ganz egal wen, in Besitz nehmen?«
»Das wissen wir noch nicht. Wahrscheinlich nicht, aber wir wissen nicht, nach welchen Kriterien er vorgeht. Talia, du hast einen Vorteil uns gegenüber. Du wirst den Wiedergänger sehen können. Wenn du etwas siehst, das … Hmmm. Sag mir doch mal, wie Geister für dich aussehen.«
»Wie Menschen, nur nicht so fest. Man kann durch sie hindurchsehen, auch wenn sie wirklich da sind. Sie sind nicht irgendwie blutbeschmiert oder unheimlich oder so. Je älter sie werden, desto farbloser und durchsichtiger werden sie, wie Nebel irgendwie, bis sie dann ganz verblassen. Außer dem großen Mann. Manchmal ist er ganz blass und durchsichtig, manchmal aber auch beinahe fest. Ich glaube, er kann entscheiden, wie er aussieht.« Sie machte ein unglückliches Gesicht. »Aber die Neuen, die, die der Wiedergänger gemacht hat, sind alle so blass und durchsichtig, als wären sie ganz alt.«
»Sehen diese neuen Geister ganz genauso aus wie die alten? Denk eine Minute darüber nach. Es könnte wichtig sein.«
Sie tat, um was er sie gebeten hatte, und sah hinunter auf ihre Füße, während sie den matschigen, ausgetretenen Pfad entlanggingen. »Sie haben Löcher«, sagte sie schließlich. »Oder nicht wirklich Löcher, aber sie sind nicht überall gleich durchsichtig. An manchen Stellen sind sie sehr viel dünner als an anderen.«
»Das ist hilfreich. Danke. Nun, dieser Wiedergänger wird vermutlich nicht wie eine Person aussehen. Er wird so durchsichtig wie ein Geist sein, aber er wird vielleicht nur ein Klecks sein oder eine Person, bei der alle Körperteile durcheinandergeraten sind, oder wie etwas, das überhaupt keine menschliche Gestalt hat. Ich vermute, er wird dunkel und trüb sein, nicht hell und blass, und möglicherweise an manchen Stellen dünner, so wie die verletzten Geister. Wenn du so etwas siehst, Talia, musst du ganz schnell weglaufen. So schnell du kannst.«
»Soll ich dann keinen Kreis ziehen?«
»Nein. Wenn du einen Wiedergänger siehst, rennst du. Punkt. Wenn du weit genug bist und ihn nicht mehr siehst, rufst du Lily an und sagst ihr, wo du ihn gesehen hast. Der Kreis ist dazu da, um dich vor den schreienden Geistern zu schützen.«
Talia seufzte schwer. »Das mag ich nicht. Überhaupt nicht.«
»So schlimm ist das auch wieder nicht«, sagte ihr mitfühlender Bruder. »Wenigstens siehst du den Wiedergänger, wenn er kommt.«
Cullen wandte sich dem Jungen zu. Er lächelte ihn an und sprach in einem freundlichen, ruhigen Ton mit ihm. »Eines jedenfalls wird uns anderen helfen: Der Wiedergänger ist nicht gut darin, sich wie ein Mensch zu verhalten. Wenn jemand, den du kennst, sich plötzlich ein wenig komisch benimmt, na ja … dann ist wahrscheinlich alles in Ordnung. Denn wenn er besessen wäre, würde er sich sehr komisch benehmen.«
Die Kinder kicherten, nicht nur über Cullens Scherz, sondern auch, weil sich ihre aufgestauten Gefühle Luft machen mussten. Cullen begann, Talia das Ziehen eines Kreises zu erklären. Und Rule dachte wieder über das nach, was ihm am meisten Angst einjagte.
Er hatte Zeit gehabt, nachzudenken … oder hatte endlich angefangen, nachzudenken, statt sich von seiner Angst beherrschen zu lassen oder sie zu leugnen. Cullen hatte ihm versichert, dass die Berichte über eine Verbindung zwischen einem Werwolf, der zu jung den Wandel in sich spürt, und dem schnell wachsenden Krebs stark übertrieben waren. So weit, so gut. Aber dann fragte sich Rule, warum Cullen so dringend hierherfliegen und mit ihm persönlich hatte sprechen wollen.
Es sei denn, Cullen war in der Lage, den Krebs im Frühstadium zu sehen. Das wäre möglich. Der Krebs wurde durch magische Energien ausgelöst. Cullen sah magische Energien. Vielleicht war das, was er ihm zu seiner Beruhigung gesagt hatte, wahr, aber er wollte Toby trotzdem untersuchen.
Doch hätte er das Rule nicht gesagt? Warum sollte er –
»Mr Turner?«
Widerstrebend löste sich Rule von seinen Gedanken. Sie waren bei dem Tor angekommen, das in Justins und Talias Garten führte. Gut, dass sie seinen Schutz nicht gebraucht hatten. Er war so mit seinen eigenen Sorgen beschäftigt gewesen, dass er selbst eine Schießerei überhört hätte.
Gerade gab Cullen Talia ein Stück Kreide und erklärte ihr, dass sie immer eine physische Komponente benötigte. Rule blickte hinunter in das besorgte Gesicht ihres Bruders. »Ja?«
»Glauben Sie an Gott?«
Oh Gott, dachte Rule – und obwohl ihm die Ironie seiner Pietätlosigkeit nicht entging, lächelte er nicht. »Ja.« Wahrscheinlich nicht an den Gott in Menschengestalt, an den der Junge so glaubte, wie man es ihm beigebracht hatte, aber daran, dass es ein höheres Wesen gab.
»Warum lässt er Schlechtes zu? Ich habe Mom gefragt, und sie sagt, dass alles nach seinem Willen geschieht, aber ich verstehe nicht, warum er gewollt haben kann, dass diese Menschen getötet wurden oder dass Mr Hodge besessen war. Daddy sagt, dass wir nicht zweifeln dürfen, sondern Vertrauen haben müssen, aber das hilft mir nicht.«
»Nun.« Wenn es eine Göttin gab – wie die Art von persönlichem Gott, der für alles einen Plan hatte, an den so viele Menschen glaubten – dann, dachte Rule, amüsierte sie sich sicher gerade prächtig auf seine Kosten. »Wie ich sagte, ich glaube an eine Göttin. Ich versuche nicht, sie zu definieren.«
»Sie?« Justin war entsetzt.
»Eine persönliche Vorliebe«, erklärte Rule. »Ich stelle mir Gottheiten immer weiblich vor, was, da bin ich sicher, auch nicht zutreffender ist, als zu sagen, Gott sei ein Mann.«
»Ich habe keine Ahnung, was Sie da gerade gesagt haben.«
Rule grinste und zauste dem Jungen das Haar. »Ich habe mich etwas hochtrabend ausgedrückt, um zu sagen, dass ich nicht weiß, warum Schlechtes geschieht.«
»Oh. Ich auch nicht. Glauben Sie an die Kraft des Gebetes?«
»Äh …«
»Daddy sagt, dass Gott unsere Gebete immer erhört, aber dass die Antwort manchmal ›Nein‹ ist. Ich glaube«, sagte Justin zutraulich, »dass die Antwort meistens ›Nein‹ ist, weil nämlich Gott fast nie das macht, worum ich ihn bitte. Aber Mr Seabourne hat gesagt, dass Talia beten soll, wenn sie ihren Kreis zieht. Er sagt, dass Gott einem immer hilft, wenn man den Kreis zieht und ihn um seine Hilfe bittet.«
Rule kämpfte erfolgreich gegen den Impuls, Cullen einen überraschten Blick zuzuwerfen. Aber es war knapp. »Ich würde nicht gerade Cullen um Rat in spirituellen Angelegenheiten fragen, aber mit Magie kennt er sich aus. Wenn er sagt, Gebete helfen ihr, dann ist das so.«
»Oh. Okay.« Seine Stirn glättete sich, und der besorgte Ausdruck auf seinem Gesicht verschwand. »Ich wusste nicht, ob er … Wow!«
Cullen drehte sich einmal schnell im Kreis, zeigte mit dem Finger auf den Boden – und zog einen dünnen Kreis aus Feuer. »Hier. Komm näher und lass dich nicht von dem Feuer ablenken – das ist für mich nur die schnellste Art, einen Kreis zu ziehen. Konzentriere dich auf die Luft um mich herum. Was ist daran anders?«
Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Talia die Luft, die für Rules Augen ganz normal aussah. »Ich sehe nichts«, sagte sie enttäuscht.
»Jede Gabe reagiert anders auf einen Schutzkreis. Du hörst ihn vielleicht oder spürst Wärme oder Unbehagen und nur eine andere Art von Energie.«
»Oh, Sie meinen das Summen? Es ist kaum zu hören. Das ist Ihr Kreis?«
»Ja. Jetzt fahre mit der Hand durch die Luft über den Kreis.«
Vorsichtig streckte sie die Hand aus. Das Feuer erlosch. »Es ist weg!«
»Nur sehr wenige Kreise halten einem physischen Eingriff stand. Wenn erst einmal etwas in den Kreis eingedrungen ist, löst sich die Magie auf. Aber jetzt weißt du, wann du deinen Kreis richtig gezogen hast. Dein Kreis muss summen.«
Sie sah skeptisch aus. »Okay.«
»Deinen Kreis wirst du anders ziehen als ich meinen. Ich benutzte Feuer. Dein Element ist der Geist.« Er lächelte. »Und jetzt versuch es mal. Zieh deinen Kreis … Warte.« Er hob einen Ast vom Boden auf und gab ihn ihr. »Damit. Zeichne deinen Kreis, setz dich in die Mitte, schließ die Augen und bitte um Hilfe. Dann stell dir vor, dass das Summen von dir kommt, dich umgibt und dich schützt.«
Talia tat, was er gesagt hatte, zeichnete einen Kreis in die Erde, kreuzte dann ihre dünnen, karamellfarbenen Beine, um sich im Schneidersitz auf die rote Erde niederzulassen. Sie schloss die Augen. Rule konnte nicht erkennen, dass sich irgendetwas tat.
Justin wurde unruhig, runzelte die Stirn und sagte: »Was tut sie da?«
»He!« Talia riss die Augen auf. »Jetzt hast du alles verdorben. Ich hatte es … glaube ich zumindest …« Sie brach ab.
»Du hast einen Schutzkreis aufgebaut.« In Cullens Stimme lag die ganze Überzeugung, die dem Mädchen fehlte. Denn er hatte ihn gesehen. »Er war dünn und hat sich schnell aufgelöst, aber dass es gleich beim ersten Mal klappt, ist ausgezeichnet. Jetzt brauchst du nur noch ein wenig Übung.«
»Warum muss ich überhaupt üben, wenn Gott mir doch hilft?«
»Ich habe nicht gesagt, dass Gott die ganze Arbeit für dich übernimmt, oder? Kannst du Fahrrad fahren?«
»Na klar!«
»Auch das konntest du nicht von Geburt an. Ich wette, jemand hat es dir beigebracht, hat dir geholfen. Deine Mom? Dein Dad?« Sie nickte bei Letzterem. »Er hat dir sicher nicht geholfen, indem er aufs Rad gestiegen und selbst gefahren ist. Was hat er stattdessen getan?«
»Er ist neben mir hergerannt und hat mich geschoben, bis ich gleichzeitig das Gleichgewicht halten und die Pedale treten konnte.« Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Sie meinen, Gott wird mir genauso helfen. Ich muss mich selbst aufs Fahrrad setzen – ich meine, den Kreis aufbauen –, aber er schiebt mich an?«
»Mehr oder weniger. Fürs Erste übst du jetzt, das Gleichgewicht zu halten, und denkst nicht an die Pedale.« Er schenkte ihr ein offenes Lächeln, das Frauen jeden Alters betörte. »Die gute Nachricht ist, dass du nicht lange in die Pedale treten musst, um einen Geist fernzuhalten. Sie sind schwach.«
»Selbst die, die so schreien?«
»Selbst die. Ich habe dir gesagt, Talia, die Geister benutzen deine Gabe, um mit dir zu sprechen. Mit einem Kreis verweigerst du ihnen den Zutritt zu deiner Gabe. Und ohne sie können sie nicht viel ausrichten.«
Sie stand auf und klopfte das Hinterteil ihrer Shorts ab, an dem der feuchte rote Lehm klebte. »Ich kann das nicht.«
»Natürlich kannst du es. Du hast gleich beim ersten Mal einen Kreis zustande gebracht. Du bist ein Naturtalent.« Er bückte sich und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie grinste.
Rule beobachtete, wie sein Freund mit dem Mädchen sprach. Er schaffte es, dass sie sich wohl mit ihrer Gabe fühlte – wohl genug, um einen Zauber durchzuführen, den sie für ihren eigenen Schutz benötigte. Er würde, dachte Rule, ein guter Vater sein. Im Umgang mit Kindern bewies der stets ungeduldige Zauberer eine Engelsgeduld.
Rule normalerweise auch. Heute jedoch hätte er Cullen am liebsten am Kragen gepackt und fortgeschleift. Das Mädchen musste eingewiesen werden, aber das konnte warten, bis Rule mit Cullen gesprochen und erfahren hatte … was immer es zu erfahren gab.
Er verzog jedoch keine Miene. Die Gewohnheit, sich nichts anmerken zu lassen, war ihm schon zu sehr in Fleisch und Blut übergegangen, doch insgeheim fragte er sich, was mit ihm los war. Selbstverständlich konnte Talia warten, und Cullen konnte später wiederkommen … um an die Tür ihrer Eltern zu klopfen und ihnen klarzumachen, dass er mal kurz mit ihrer elfjährigen Tochter allein sein müsse. Ja, das würde sicher klappen.
Rule atmete langsam durch. Und wartete.
Endlich forderte Cullen die Kinder auf, ins Haus zu gehen, bevor ihre Eltern sich fragten, wo sie blieben. Sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, begann Rule mit langen Schritten den Weg zurückzugehen – weg von dem Haus der Appletons.
Er wusste, er würde nicht davonlaufen können, weder im bildlichen noch im buchstäblichen Sinn, aber die Bewegung tat ihm gut. Trotzdem fragte er als Erstes: »Du wolltest nicht, dass das Mädchen versuchte, einen Schutzkreis gegen den Wiedergänger zu ziehen. Heißt das, dass er fähig wäre, in den Kreis einzudringen?«
»Zumindest in den, den sie zustande bringen würde. Ich könnte einen aufbauen, den er nicht betreten könnte, aber um sicherzugehen, brauche ich Zeit zur Vorbereitung. Spontan gezogene Kreise wären nicht stark genug.« Er warf Rule, mit dem er mühelos Schritt hielt, einen Blick zu. »Haben wir ein bestimmtes Ziel?«
»Nein. Du hast Talia gesagt, sie solle beten, bevor sie den Kreis aufbaut.«
»Natürlich. Erstens hilft ihr das, zu akzeptieren, dass ihre Gabe nicht böse ist und auch nicht der Kreis, den sie ziehen wird. Zweitens macht sich da meine Ausbildung bemerkbar. Wiccas glauben, dass die Gabe eines Mediums mit einem Element Geist verknüpft ist. Das Gebet soll ihr helfen, in Verbindung mit ihrer Gabe zu treten. Drittens ist Selbstvertrauen bei einem unerfahrenen Praktizierenden das A und O. Wenn sie glaubt, dass Gott ihr beim Ziehen ihres Kreises beisteht, wird sie es eher schaffen.«
»Hast du mich angelogen, was das Risiko für Toby angeht?«
»Mehr oder weniger.«
Rule blieb stehen und schlug zu. Cullen – der verdammte Kerl – duckte sich, tänzelte zur Seite und blieb dann ein paar Schritte weiter stehen. Rule ballte die Fäuste. Seine Brust hob und senkte sich.
Cullens Gesicht war genauso ausdruckslos wie seine Stimme. »Musst du dich ein wenig prügeln, bevor wir reden können?«
»Nein.« Er brauchte jedoch noch eine weitere Minute, um den Drang, auf etwas – egal was – einzuschlagen, zu überwinden. »Vielleicht nachher. Ein Glück, dass du so schnell bist.«
»Finde ich auch. Bist du in der Lage zuzuhören?«
Rule nickte.
»Ich fange mit dem Teil an, über den ich gelogen habe. Lupus-Jungen, die den Sog des Wandels lange vor dem Eintritt der Pubertät spüren, haben ein sehr viel höheres Risiko, an diesem Krebs zu erkranken, wenn sie ihren ersten Wandel hinter sich haben.«
Rules Lippen wurden taub. »Wie viel höher?«
Cullen schüttelte den Kopf. »Darüber gibt es nicht genügend Daten. Als ich damals den Krebs erforschte, habe ich zwei erwachsene Lupi aus verschiedenen Clans gefunden, die diesen frühen Sog erfahren hatten, ohne den Krebs entwickelt zu haben. Ohne Zweifel gibt es auch noch andere, aber man kann unmöglich sagen, wie viele. Aber unter den jungen Lupi, die an Krebs erkrankt sind, scheint die Korrelation eins zu eins zu sein. Ich habe mit den Familien von dreißig krebskranken Jugendlichen gesprochen. Alle sagten, der Junge habe sehr früh den Sog gespürt.«
Er machte eine Pause. »Du weißt, dass die Etorri besonders oft den wilden Krebs entwickeln, doch die Häufigkeit seines Auftretens steigt in der Jugend nur leicht an.«
Rule nickte. Zu mehr war er nicht fähig.
»Dafür gibt es einen Grund. Bevor ich ihn dir sage, musst du mir versprechen, dass du es niemandem sagst. Auch nicht Isen.«
»Was?!« Rule starrte seinen Freund an. Cullens Gesicht war steinern. Er meinte es ernst. Er würde nicht eher weitersprechen, bis Rule ihm sein Wort gegeben hatte, dies vor seinem Rho geheim zu halten. Warum sollte …
Weil es sich um ein Geheimnis der Etorri handelte, natürlich. Ein Geheimnis, das Cullen die ganzen Jahre über bewahrt hatte, selbst als einsamer Wolf, den sein Clan verstoßen hatte. »Weiß Isen, dass du ihm Geheimnisse der Etorri vorenthältst?«
Cullen nickte steif. »Noch vor dem gens amplexi habe ich ihm gesagt, das ich bei meiner Ehre als Etorri gelobt hatte, etwas vor ihm zu verschweigen, das aber weder eine Gefahr noch ein Problem für die Nokolai darstellte. Er hat es akzeptiert.« Er lächelte schwach – sehr schwach. »Er bat mich, die Etorri im Unklaren darüber zu lassen. Er fand die Vorstellung amüsant, dass sie sich sorgen, dass ihr Geheimnis bekannt würde.«
Das sah seinem Vater ähnlich. »Na gut.«
»Versprichst du mir, keinem zu sagen, was ich dir jetzt über die Etorri erzählen werde?«
»Ich verspreche es.«
»Sie haben einen Weg gefunden, das Auftreten von Krebs nach dem ersten Wandel zu reduzieren, sogar beinahe zu eliminieren.«
»Was?« Die Etorri, die Ehrenhaften – der am meisten geachtete Clan. Der vertrauenswürdigste. »Sie wissen, was man dagegen tun kann, und haben es den anderen nicht gesagt?«
»Ihre Methode steht nur ihnen selbst zur Verfügung. Du weißt, was die Dame den Etorri nach Liguris Opfer am Ende des Großen Krieges versprochen hat.«
»Dass sein Clan nie aussterben werde.« Und so war es auch gewesen. Die Veränderung, die Liguri – der einzige Etorri, der den Krieg überlebt hatte – durchlaufen hatte, unterschied ihn und seine Nachkommen von anderen Lupi; die Magie in ihnen war zu wild, sodass ihre Fruchtbarkeit eingeschränkt war. Während der Jahrhunderte danach war der Clan mehr als einmal beinahe ausgelöscht worden. Und doch hatten die Etorri überlebt. Zwar waren sie immer noch bei Weitem der kleinste Clan, aber sie waren nicht ausgestorben.
Rule kam eine Idee, die so ungeheuerlich war, dass es ihm den Atem verschlug. »Willst du damit sagen … Liguri, der Träger der drei Mächte? Er ist der einzige Lupus, der mehr als eine Clanmacht besaß, und er und seine Nachkommen – waren stark von dem Krebs betroffen. Ist Toby in Gefahr, weil ich mehr als eine …«
»Nein. Hör mir zu. Nach Liguris Opfer hat die Dame die Clanmacht der Etorri verändert. Unter anderem haben diese Änderungen es ihnen möglich gemacht, die jungen Lupi zu retten, die sonst vielleicht nach dem ersten Wandel an Krebs erkrankt wären.«
Er holte tief Luft. »Der Rho der Etorri hat ungefähr die Hälfte der Clanmacht. Den Rest haben alle erwachsenen männlichen Clanmitglieder.«
Einen Moment lang war Rule wie vor den Kopf geschlagen. Ebenso gut hätte Cullen sagen können: »Alle Mitglieder des Etorri-Clans sind Frauen.« Frauen konnten sich nicht wandeln. Mächte konnten nur von dem Rho und seinem Thronfolger übernommen werden. »Du meinst, sie haben sie?«, fragte er schließlich vorsichtig. »Nicht dass sie sie hören. Sie tragen sie tatsächlich in sich?«
»So ist es. Beim ersten Wandel ist die Macht …« Er hielt inne und fuhr sich mit der Hand über den Kopf. »Worte treffen es irgendwie nicht, oder? Aber so wie ich es verstehe, hören die Jugendlichen in anderen Clans beim ersten Wandel die Clanmacht, weil sie von den anderen Clanmitgliedern umgeben sind. Bei den Etorri teilen sie die Macht. Das ist es, was sie gegen diesen Krebs schützt, Rule. Sie tragen einen Teil der Macht in sich.«
Rule versuchte immer noch, das Unmögliche zu begreifen. Nicht nur, dass man ihm immer gesagt hatte, es sei unmöglich. Als jemand, der zwei Teile der Clanmacht in sich trug, wusste er, dass es unmöglich war. »Teilung widerspricht dem Wesen der Clanmächte. Sie streben von Natur aus nach Einheit.«
»Die Dame«, sagte Cullen, »hat die Clanmacht der Etorri verändert. Ich weiß, dir fällt es schwer, es nicht deinem Vater zu sagen. Vielleicht erleichtert es dein Gewissen, wenn ich dir sage, dass die Rhejes über die Natur der Etorri-Clanmacht Bescheid wissen. Es findet sich in den Erinnerungen, die sie hüten.«
»Ich verstehe nicht, wie sie so stark verändert werden konnte, dass sie sich teilen ließ. Ich verstehe nicht, wie der Clan funktionieren kann, wenn nicht die Macht allen Mitgliedern ihren Platz zuweist.«
»Aber es geht. Jeder übernimmt einen Teil, aber nicht gleich viel. Die Macht selber entscheidet, wie viel jeder bekommt.«
Rule schüttelte den Kopf. »Es ist nicht so, dass ich dir nicht glaube, aber ich kann dir auch nicht …« Auf einmal begriff er. »Guter Gott. Dann hattest du also auch einen Teil der Clanmacht. Als du aus dem Clan verstoßen wurdest –«
Cullen war weiß um das Kinn und um die Augen herum. »Ja. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich einen Teil der Etorri-Clanmacht.« Sein Lächeln war alles andere als froh. »Tatsächlich hatte ich so viel, dass ich der Dritte in der Reihe der Anwärter auf den Job des Rho war. Das war einer der Gründe, warum sie absolut dagegen waren, mir zu erlauben, weiterhin im Clan zu bleiben. Ein Zauberer als Rho, das wäre undenkbar gewesen.«
Rule war fassungslos. Wie hatten sie Cullen das nur antun können? Ihn auszustoßen war schlimm genug. Ihm auch den Teil der Clanmacht zu nehmen … »Inwiefern ist die Macht der Etorri anders als andere Clanmächte?«
Cullens Achselzucken war nicht so elegant wie sonst. »Ich will es einmal so ausdrücken – die Macht war bereit, mich im Clan zu lassen. Aber das ist jetzt auch egal.« Er fuhr mit der Hand durch die Luft, als ziehe er einen Schlussstrich unter die Vergangenheit. »Der Punkt ist, Rule, dass Toby einen Teil der Macht für seinen ersten Wandel braucht. Die Macht wird sein Muster stärken und verhindern, dass der Krebs ausbricht.«
»Die Macht des Rho hat nicht verhindert, dass Victor Frey an Krebs erkrankt ist.« In diesem Moment starb Frey an dem wilden Krebs – langsam zwar, aufgrund der Heilgabe der Rhej der Leidolf, aber er lag im Sterben.
»Victor ist hundertsechzig Jahre alt. Ich würde sagen, die Macht hat ihn die ersten hundertneunundfünfzig Jahre ziemlich gut geschützt.«
Rule atmete langsam ein und wieder aus. »Na gut. Die Macht der Nokolai wird sich nicht so leicht teilen lassen wie die der Etorri. Ich muss meinen Vater davon überzeugen, Toby statt meiner zum Thronfolger zu ernennen. Es verstößt zwar gegen die Tradition, jemanden, der zu jung ist, um das Amt des Lu Nuncios auszuüben, Thronfolger werden zu lassen, aber –«
»Rule.« Cullen schüttelte den Kopf und seufzte, als wäre Rule ein begriffsstutziger Schüler. »Du hast zwei Thronfolgermächte. Wenn Toby seinen ersten Wandel durchlebt, wird Victor längst tot sein. Wenn du der Rho der Leidolf bist, kannst du Toby zum Thronfolger bestimmen und ihm diesen Teil der Clanmacht geben.«