33

Die breiteste Stelle des Passes war voller Trümmer und Körperteile. Lily versuchte, nicht hinzusehen. Kurz darauf wurde er schmaler. Sie rutschten ungefähr sechs Meter einen steilen Hang hinunter. Dann wurde das Land plötzlich eben und öffnete sich vor ihnen, nachdem sie um einen Bergrücken herumgegangen waren.

Lily trat auf einen gigantisch großen Felsvorsprung hinaus, der vielleicht so lang war wie zwölf Häuserblöcke und dazu noch einen halben Block breit. Hier wuchs auch Gras, das erste, das sie an diesem Ort zu Gesicht bekam. Ansonsten war der Boden flach, ohne Besonderheiten. Jenseits des Vorsprungs lag das Meer.

Das Meer, in dem sich der hässliche Himmel spiegelte, sah nicht so aus, wie es eigentlich sollte. Aber es roch richtig. Lily hielt inne und ließ die Brise ein paar der leeren Stellen in ihrem Inneren füllen.

Aber lange durfte sie hier nicht stehen bleiben. Rule war ganz in der Nähe. Nur wo?

Ihr kleiner Trupp hatte sich hinter ihr zerstreut und ließ, genau wie sie, den Blick schweifen. „Wohin gehen wir jetzt von hier aus?“, fragte Cullen.

„Vielleicht sollte einer von uns den Pass im Auge behalten“, sagte Cynna. „Und versuchen, die Stellung zu halten.“

„Ha! Bietest du dich freiwillig an?“ Max schüttelte den Kopf. „Besser wir machen kurzen Prozess. Bumm!“ Er rieb sich grinsend die Hände.

„Nein“, sagte Lily unvermittelt. „Wir dürfen keine Granaten in die Berge werfen. Rule ist …“ Sie setzte sich in Bewegung und suchte die Felsblöcke, in die der überdimensionale Vorsprung eingebettet war, aufmerksam mit ihren Augen ab. „Er ist hier. Er ist da drin.“

Die anderen folgten ihr. „Da drin?“, fragte Cynna zweifelnd.

„In einer Höhle oder so.“ Sie ging jetzt schneller; ihr Herz hämmerte. Er war so nah, so schrecklich nah. Sie hatten keine Ausrüstung mitgebracht, mit der man die Steine hätte bewegen können, dachte sie halb hysterisch. Sie hatten nie darüber nachgedacht, was sie brauchen würden, um ein paar Meter Stein fortzuschaffen. „Und er bewegt sich.“

„Auf uns zu?“

„Nein.“ Eine schnelle, enttäuschte Antwort. „In diese Richtung.“ Sie zeigte auf das andere Ende des Vorsprungs, wo ein Haufen Steine ihnen im Weg lagen. Und dann begann sie zu rennen, als ob ihre Füße allein diese letzte Distanz überwinden, sie trotz der Felsen zwischen ihnen zu ihm bringen könnten.

„Max“, sagte Cullen, der neben ihr herlief.

„Ja?“ Der Gnom keuchte leicht beim Laufen.

„Du sollst doch einen besonderen Instinkt für Steine haben. Wie kommen wir da rein, oder wie bekommen wir ihn da raus?“

„Daran arbeite ich gerade.“

Lily achtete nicht auf sie. Hier, er ist hier …

Und am anderen Ende des Vorsprungs trat ein riesiger dunkler Wolf aus einer Geröllspalte.

Vielleicht hatte sie seinen Namen laut geschrien. Vielleicht auch nur im Geist. Ihre Füße bewegten sich von ganz alleine. Sie rannte, stolperte über den unebenen Boden – und dann trat jemand hinter Rule aus der Spalte.

Das war sie selbst. In einem blauen Sarong, mit ihrem Anhänger um den Hals. Rules Halskette, die verschwundene Halskette.

Lily hielt abrupt inne. Sie streckte die Hand aus – nicht um etwas zu berühren, sondern um das Unmögliche abzuwehren. Aus sechs Metern Entfernung sah sie in ihre eigenen Augen, sah, wie ihr eigenes Gesicht blass wurde, und hörte, wie sie leise sagte: „Alles, was ich verloren habe. Das hast du.“

Dann wurden ihre Knie weich.

Doch sie fiel nicht in Ohnmacht, jedenfalls nicht tief. Das Nächste, das sie spürte, war eine raue, nasse Zunge in ihrem Gesicht. „Rule.“ Sie berührte seine Schnauze, seine Schulter, ließ die Hände über seine Rippen gleiten. „Rule.“

„Das ist ultra-schräg.“

Es war Cynna, die das sagte. Lily wandte langsam den Kopf und hoffte, sie würde nicht sehen … aber sie stand immer noch da, mit leerem Gesicht. Nicht exakt demselben Gesicht, das Lily schon eine Million Mal gesehen hatte, weil es jetzt nicht spiegelverkehrt war.

„Heilige Scheiße.“ Die hohe, quietschende Stimme kam ihr bekannt vor. Und noch eine weitere Person – eine Kreatur – trat aus der Spalte ins Freie.

„Dich gibt es ja auch zweimal!“

Ein Dämon. Derselbe orangefarbene Dämon, der versucht hatte, sie in Besitz zu nehmen – der, der sich mit Harlowe verschworen hatte, der sie festgehalten hatte, als Harlowe sie mit dem Stab getroffen hatte.

Noch im Aufstehen griff Lily nach ihrer Waffe.

Cynna und Cullen hatten ihre bereits im Anschlag. Aber auch die andere Lily reagierte schnell. Sie stellte sich vor den Dämon. „Nein! Sie ist … das ist Gan. Sie wird euch nichts tun.“ Sie sah erst Lily an, dann die anderen und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen – eine nervöse Geste, die Lily sich seit Jahren abzugewöhnen versuchte. „Vielleicht wollt ihr wissen, was passiert ist?“

Cullen antwortete für sie alle, ohne sein Maschinengewehr herunterzunehmen. „Das wäre gut. Und vergiss auch nicht, uns zu sagen, was, zum Teufel, du bist.“

„Du kennst sie!“, meldete sich Gan zu Wort. „Das ist Lily Yu!“ Dann fuhr sie, etwas kleinlauter, fort: „Aber die andere natürlich auch, nehme ich an.“

Die zweite Lily seufzte. „Es kann aber eine ganze Weile dauern.“

Lily warf einen Blick zurück auf den Pass. „Ich bitte um die Kurzversion. Wir haben nicht viel Zeit. Sonst werden wir noch von einem Krieg überrollt.“

***

Jetzt fühlte sie sich noch verlorener als zuvor. Sie war Rule durch die Dunkelheit gefolgt, um dann schließlich sich selbst zu begegnen – ihrem anderen Ich, das alles das besaß, was sie verloren hatte. Das Ich, das Rule in seiner anderen Gestalt kannte. Als Mann.

Sie bemühte sich, ihre Geschichte so knapp und verständlich wie möglich vorzutragen, doch der Anblick ihres eigenen Gesichts, ihres Körpers, der neben Rule auf der anderen Seite saß, lenkte sie ab. Diese Frau war nicht sie. Vielleicht waren sie einmal ein und dieselbe Person gewesen, aber jetzt waren sie verschiedene Menschen.

Bis auf den Kleinen – Max –, der sich einen Platz zwischen den Felsen gesucht hatte, von dem aus er den Pass beobachten konnte, hatten sich alle in einem losen Kreis zusammengesetzt. Wenigstens hatten sie aufgehört, mit ihren Waffen auf sie zu zielen … als Rule sich schließlich eingeschaltet hatte. Er war zu dem Mann – Cullen – gegangen und hatte knurrend mit der Pfote auf das Maschinengewehr gezeigt.

Dieses Mal war Gan die Übersetzung nicht schwergefallen: Runter mit der Waffe, du Arsch.

Als sie geendet hatte, kehrte für einen Moment Schweigen ein.

Schließlich fragte die Frau ruhig: „Wie lange bist du schon hier, was glaubst du?“

„Ich weiß nicht. Es gibt hier keinen regelmäßigen Tages- und Nachtrhythmus. Nach einer Weile habe ich nicht mehr darauf geachtet.“ Sie warf Rule einen Blick zu. „Er hat ungefähr zwanzigmal geschlafen. Ich weiß nicht, ob das heißt, dass es zwanzig Tage her ist.“

„Zwanzig.“ Die andere Frau schien darüber nicht glücklich zu sein. Die ganze Zeit streichelte sie Rule, berührte ihn. Lily verspürte den Drang, diese Hand, die sich zwischen sie drängte, einfach wegzustoßen, aber … Sie schluckte. Rule wollte, dass sie ihn berührte. Das spürte sie. Er wollte sie beide in seiner Nähe. Für ihn waren sie beide Lily.

Aber nur die andere kannte ihn von früher. Sie war diejenige, die sich daran erinnerte, was sie auf der Erde gemeinsam hatten. Alles, was er mit ihr gemeinsam hatte, war die Hölle.

„Wir haben ein Problem“, sagte die andere Lily schließlich.

Cullen lachte trocken. „Und da soll noch einer behaupten, du würdest nicht untertreiben, Liebes.“

„Ich rede von dem Tor. Wir sind zu viele. Es können nicht alle mit zurück.“

„Ein Tor.“ Ihr Herz schlug schneller. Natürlich. Sie mussten ja irgendwoher gekommen sein. Sie waren ja sicher nicht alle so wie sie selbst durch einen Dämon, der zwischen den Welten hin und her sprang, hierhergebracht worden. „Ihr kennt einen Weg zurück? Wir können also wieder zurück?“

„Unser Tor ist klein“, sagte Cullen. „Und wie Lily – eine von euch Lilys – schon feststellte: Das ist ein Problem. Wir haben alles sehr knapp berechnet. Wenn …“ Er schwieg unvermittelt und hob den Blick.

Sie tat es ihm gleich. Und stand auf. „Das ist ja Sam!“ Diese gewaltige geflügelte Gestalt konnte nur Sam sein.

Auch die anderen sprangen auf. Cullen warf die lange Röhre, die auf seinem Rücken hing, nach vorne und auf seine Schulter.

Schießt ihr auf alles, was ihr seht?

Das ließ sie innehalten. Cullen fing sich als Erster wieder. „In dieser Welt scheint das keine so schlechte Idee zu sein.“

Es gibt bessere Ziele. Langsam kreisend begann Sam tiefer zu gehen.

„Schieß nicht auf ihn. Sam ist auf unserer Seite … auf seine Weise.“ Er hatte ihr Leben gerettet und dabei einen der Seinen getötet. Auch wenn sie vermutete, dass dies vor allem deswegen geschehen war, weil ihn der andere Drache beleidigt hatte, weil er es gewagt hatte, etwas töten zu wollen, was ihm gehörte. Aber trotzdem …

Das ist höchst merkwürdig. Du scheinst die andere Hälfte deiner Seele wiedergefunden zu haben, aber sie wohnt in einem eigenen Körper.

Cullen starrte zu ihm hoch. „Du weißt von dem Zeichen der Dame?“

Ich weiß sehr viel mehr, als ihr Kurzlebigen euch vorstellen könnt. So anmutig wie der Samen eines Löwenzahns glitt der große Körper nahe des Kliffrands zu Boden. Der Kopf schwang herum, um sie anzusehen.

„Sieh ihm nicht in die Augen“, sagte Cullen schnell.

Oh, ein gut informierter Kurzlebiger. Sam war belustigt. Und … wie interessant. Du bist eine Art Zauberer.

„Eine Art?“, fragte Cullen entrüstet.

Und einer von euch hat ein Tor. Nein, das ist falsch. Einer von euch ist ein Tor. Das ist ungewöhnlich. Er ordnete seine Flügel, offenbar mit dem Ziel, es sich bequem zu machen. Und nützlich. Ich möchte euch einen Handel vorschlagen.

„Dann aber schnell“, sagte der Kleine von seinem Aussichtspunkt auf den Felsen herunter. „Sie kommen. Die erste Welle wird in fünfzehn Minuten hier sein – und ihr folgt ein verdammt großer Dämon, ungefähr dreißig Minuten hinter ihnen.“

Ja. Xitil kommt.

Immer wieder musste Lily sich betrachten. Das war sie. Und dann war sie es auch wieder nicht. Der Teil mit der Gabe. Das Ich, das die ganze letzte Zeit mit Rule zusammen gewesen war. Eigentlich müsste sie sich doch auf irgendeine Weise zu ihr hingezogen fühlen.

Doch stattdessen wollte sie nicht, dass diese Hexe Rule anfasste. Am liebsten hätte sie ihr die Hand weggeschlagen.

Lily schluckte. Nicht jetzt. Sie verstand nicht, wie sie gerade jetzt so schrecklich eifersüchtig auf sich selbst sein konnte – oder auf ihr anderes Ich. Irgendwie musste sie sie alle hier erst einmal herausbekommen. „Wir müssen das Tor vielleicht länger offen halten.“

Cullen schüttelte den Kopf. „Das geht nicht, Liebes. Wir sind zu weit von einem Energieknoten entfernt, ich kann keine Energie ziehen. Und hier irgendwo gibt es freie, süße, kleine Sorcéri.“

„Die Drachen absorbieren es“, sagte die andere Lily. „Das sagt Gan zumindest.“

Lily sah die kleine Dämonin an, die sich unglücklich gegen einen der größeren Felsen drückte. Sie sagte kaum etwas und schien sie alle kaum wahrzunehmen, ganz mit ihrer eigenen Angst beschäftigt. „Dann kommen wir zu Plan B. Cullen, du trägst die andere Lily huckepack, und Max kann auf Rule durchreiten.“

Dabei stellen sich zwei Probleme. Zuerst einmal werdet ihr sehr tief fallen. Hier ist das Land sehr viel höher als auf der Erdenwelt.

Sie zuckte zusammen. Die Gedanken des Drachen in ihrem Kopf zu hören war ein sehr merkwürdiges Gefühl – manchmal zu merkwürdig. Und woher wusste er, wie dieses Gebiet auf der Erde aussah? „Unter uns wird das Meer sein“, sagte sie kurz angebunden.

Sehr tief unter euch. Das größte Problem aber ist, dass sich euer Tor nicht öffnen wird.

„Es wird sich öffnen.“ Sie musste einfach wieder ein wenig bluten und das Wort sprechen, dass Cullen ihr gesagt hatte.

Der Blick des Drachen glitt zu Cullen hinüber. Zauberer, was passiert, wenn du einen Zauber mit einem Gegenstand verknüpfst und ein anderer Gegenstand, der identisch mit dem Ersten ist, ist in der Nähe?

Cullen machte ein böses Gesicht. „Sie sind nicht identisch. Nun …“ Er sah von der einen zur anderen Lily. „Nicht ganz. Sie haben andere Erfahrungen gemacht. Sie haben … sich auseinanderentwickelt.“

Sie sind eine Seele. Ich glaube, euer Tor wird sich nicht öffnen. Der lange Schwanz des Drachen zuckte. Es sei denn, du kennst einen Weg, es zu prüfen, ohne es zu öffnen.

Ungeduldig stemmte Lily sich hoch. Wo war denn bloß Max? „Max! Komm runter! Wir machen, dass wir hier wegkommen.“

Plötzlich ergriff die andere Lily das Wort. „Was willst du, Sam? Was für einen Handel schlägst du uns vor?“

Ich kann das Tor größer machen. Viel größer. Ich kann es so lange wie nötig offen halten und euch rausfliegen. Und ich weiß, wie ihr das Problem mit dem Tor lösen könnt.

Es folgte eine Sekunde Schweigen, dann rief die andere – die Lily, die Blau trug – laut: „Nein! Nein, es muss noch einen anderen Weg geben!“

Cullen blickte erst sie, dann den Drachen an. „Drachen sind zwar Magie, aber sie können sie nicht ausüben.“

Die meisten nicht. Ich aber bin ein Großer Sänger. Ich weiß mehr über Tore, als du dir in deinen Träumen vorstellen kannst.

„Aber offenbar nicht, wie man eines öffnet. Sonst würdest du uns wohl kaum einen Handel vorschlagen. Was verlangst du als Gegenleistung?“

Der lange Schwanz zuckte verärgert. Ist das nicht offensichtlich? Ich will hier raus. Ich will die letzten Überlebenden meiner Art mit mir nehmen und Dis verlassen. Etwas wie ein Seufzer hauchte am Rande von Lilys Bewusstsein entlang. Wir verlieren den Kampf.

„Das wolltest du von Anfang an, nicht wahr?“, wollte die andere Lily auf einmal wissen. „Deswegen hast du uns gefangen genommen. Du wolltest aus der Hölle raus. Aber ich verstehe immer noch nicht, wie du wissen konntest, dass sie kommen würden, um uns zu holen.“

Ich habe es nicht gewusst. Ich hatte … einen anderen Plan.

Cullen schüttelte den Kopf. „Um die Deinen tut es mir leid. Aber ein Tor, das groß genug für dich ist, kann nicht an eine Person gebunden werden. Es würde sie umbringen.“

Zum ersten Mal ergriff die kleine Dämonin mit zittriger Stimme das Wort. „Aber du bist doch ein Großer Sänger. Du hast gesagt, sie könnten ohne dich nicht gewinnen. Wie kommt es aber dann, dass ihr verloren seid?“

Trotz ihres Wahns war Xitil schlau. Sie – oder die, die sie gegessen hat – ist einen Bund mit dem eingegangen, den du als Tegelgor kennst, Lord des Reichs im Süden. Als Gegenleistung für eine große Anzahl seiner niederen Dämonen hat sie ihm ihr Gebiet abgetreten. Sie besetzt unser Land mit allen Dämonen, allen Kobolden, jeder einzelnen Kreatur aus ihrem Reich. Solche Massen können wir nicht bekämpfen.

„Tegelor!“, quiekte die Dämonin. „Abgetreten? Nein, selbst verrückt, wie sie ist, würde sie nicht … all ihre Dämonen? Ich habe nicht … Ich bin nicht zu ihr gerufen worden. Ich habe ein Ziehen gespürt, aber nicht, dass sie mich herbeigerufen hätte. Dabei kennt sie alle meine Namen. Wenn sie mich gewollt hätte …“

Auch du, kleiner Dämon, hast dich weiterentwickelt.

Was sollte das bedeuten? Egal. Die Zeit wurde knapp. „Wo bleibt Max, verdammt noch mal?“

„Noch eine Minute, Lily.“ Cullen kam zu ihr. „Ich gebe es nur ungern zu, aber der Drache hat in einem Punkt recht. Ich sollte das Tor noch einmal überprüfen.“

„Und wie?“

Er machte eine anmutige Bewegung mit der Hand und murmelte etwas in derselben fließenden Sprache wie zuvor. Doch dann runzelte er beunruhigt die Stirn. Nun wandte er sich der anderen – ihrem anderen Selbst – zu und wiederholte es. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht. „Herrgott! Das Tor springt zwischen euch beiden hin und her. Als habe es jemand in Schwingungen versetzt.“

„Dann machen wir es beide zusammen … wir müssen uns nur dicht genug nebeneinanderstellen und unsere Handflächen ritzen …“

Er schüttelte den Kopf. „Wenn es in ihr ist, dann ist es fest geschlossen. Blockiert. Sie hat deine … Sie ist die Sensitive. Du bist die Einzige, die das Tor öffnen kann, aber wenn es in ihr ist, dann funktioniert es nicht. Deine – ihre – Gabe verhindert es.“

„Aber wenn sie mir so sehr ähnelt, dass das Tor zwischen uns beiden hin und her springt, warum erkennt mich dann meine Gabe nicht?“, rief sie. „Ich bin doch ich.“

Weil, wie der Zauberer sagt, du dich weiterentwickelt hast. Ein Zauber, selbst einer, der durch ein Ritual entstanden ist, ist simpel im Vergleich zu deiner Gabe. Deine Gabe erkennt Unterschiede zwischen euch, die das Tor nicht in der Lage ist zu sehen.

Ihre Gabe erkannte sie nicht? Sie rieb sich die Stirn. „Dann weiß ich auch nicht weiter.“

Höre auf mich. Ich werde mein Bestes tun, um euch zu schützen …

Mitten im Gedankengespräch hielt er inne. Mit einer für so einen gewaltigen Körper unglaublichen Geschwindigkeit schoss er in den Himmel hinauf. Der Rückstoß seiner Flügel brachte sie zu Fall, so dass sie im ersten Moment nicht sehen konnte, wonach er gesprungen war.

Doch dann bereute sie es, hingesehen zu haben.

Es war lang und rot – wie die Farbe von noch nicht ganz getrocknetem Blut. Auf den hinteren zwei Dritteln seines wurmartigen Körpers hatte es viel zu viele kurze Beine mit langen Krallen. Und obwohl das Wesen kleiner war als der Drache, waren seine Flügel ebenso groß – Flügel, die wie die einer Fledermaus mit Adern durchzogen waren.

Das vordere Drittel seines Körpers wurde ganz von Kiefern eingenommen, deren Zähne ebenso spitz wie die der rotäugigen Dämonen waren. Als es das Maul aufriss und schrie, konnte sie bis in den Schlund hinabsehen.

Als es mit weit auseinandergeklappten Kiefern von oben herabstieß, war es dem Drachen gegenüber im Vorteil. Sam steuerte direkt auf den Wurm zu. Erst in letzter Sekunde wich er ein wenig zur Seite, und seine Zähne schlugen in eine der gewaltigen Schwingen, und er bewegte seinen Hals hin und her und zerfetzte die Haut. Dann schlug er heftig mit den Flügeln und ließ von ihm ab.

Rule heulte. Lily wirbelte herum, als er an ihr vorbeirannte – zu der anderen Lily. Die wandte sich gerade um und starrte zu einem der Rotäugigen hoch, der auf einem Vorsprung über ihr hockte, das Maul weit aufgerissen wie eine bösartige Imitation des Wurms mit Reißzähnen, der mit dem Drachen über ihren Köpfen kämpfte.

Mitten im Sprung prallte er in der Luft mit Rule zusammen.

Sie verbissen sich ineinander und fielen knurrend zu Boden. Lily hob ihre Waffe, aber da die Gefahr bestand, Rule zu treffen, konnte sie keinen Schuss abgeben. Sie trat näher an sie heran. Blut schoss hoch und bespritzte sie.

Rules Blut. Oh Gott, seine Flanke …

„Geh zurück!“, schrie Cynna.

„Du kannst nicht schießen! Du wirst ihn umbringen!“

„Ich benutze kein Gewehr. Geh zur Seite, verdammt!“

Sie warf einen Blick zurück über ihre Schulter – und trat eilig zur Seite.

Direkt hinter ihr stand Cynna, einen Arm nach oben gestreckt. Der andere zeigte auf das kämpfende Knäuel aus Wolf und Dämon. Ihre Lippen bewegten sich, aber das Knurren und Heulen war so laut, dass Lily nicht verstehen konnte, was sie sagte. Und aus Cynnas Hand strahlte blutrotes Licht.

Nur verhielt es sich nicht wie Licht. Träge floss der hässlich rote Schimmer von ihr zu den kämpfenden Bestien – langsam, viel zu langsam! Rule hatte es erwischt – er bewegte sich nicht mehr. Lily legte wieder ihre Waffe an die Schulter …

Und dann traf ihn das Licht. Der Dämon erstarrte und fiel tot um.

„Heiliges Kanonenrohr!“ Ihrer Stimme war der Schreck anzuhören. „Es hat tatsächlich funktioniert.“

Lily rannte zu Rule.

Und Lily ebenfalls.

Seine Flanke war voller Blut, zu viel Blut, um festzustellen, wie schlimm die Verletzung wirklich war. Aber sie war schlimm. Das wusste sie. Er atmete schwer mit geschlossenen Augen. Sie hob den Blick und erschrak, als sie in ihre eigenen Augen sah.

„Geh jetzt“, sagte die Lily in Blau. „Du musst sofort gehen und ihn dorthin bringen, wo er heilen kann. In ein … ein Krankenhaus.“ Sie sagte das Wort, als täte sie es zum ersten Mal. „Hier wird er sterben.“

„Das Tor …“

„Sam hat mir gesagt, wie es funktioniert.“

Und da verstand sie. Ohne zu wissen, wie es möglich war, verstand sie, was die andere Lily meinte. Ihr Mund wurde trocken. „Es muss eine andere Möglichkeit geben.“

„Komisch.“ Ihre Mundwinkel zuckten nach oben, aber in ihren Augen schimmerten Tränen. „Das habe ich auch gesagt.“ Sie nahm sich die Kette mit dem baumelnden Anhänger ab. „Aber es gibt keine. Du bist das Tor.“

Langsam streckte Lily die Hand aus. Sie wusste, was sie tat, was sie entgegennahm.

Die andere Lily legte das toltoi hinein. „Sag ihm …“ Sie sah hinunter und streichelte Rules Kopf. „Sag ihm, wie froh ich war, dass es ihn gab. Wie unglaublich froh.“

Lilys Hand schloss sich um die Halskette. Die Kehle wurde ihr eng, und sie konnte nur nicken.

Die andere – ihr anderes Ich – sprang auf. Zog am Ausschnitt ihres Sarongs, und er öffnete sich. „Verbinde ihn hiermit. Er blutet so stark.“ Sie warf den Stoff Lily zu – und rannte los. Nackt, barfuß und so schnell sie konnte.

Zum Kliff. Geradewegs auf den Rand des Kliffs zu.

Die kleine Dämonin verstand als Erste. „Nein!“, brüllte sie und rannte ihr mit fliegenden Beinchen nach. „Nein, Lily Yu! Lily Yu, ich mag dich doch! Wirklich, das tue ich! Tu es nicht!“

Sie sprang.

Lily spürte, wie die Luft – Luft, in der schwer der Duft des Meeres lag – an ihr vorbeirauschte. Nein, sie stand doch da, und Tränen strömten über ihre Wangen – tiefer und tiefer fiel sie, entfernte sich viel zu weit von Rule …

Ein Hammerschlag traf sie am ganzen Leib. Und sie starb.